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 Lesedauer: 5 Minuten

«Wenn du den Reis zählst, kannst du auch dein Leben bewältigen»

Ziel ist es, an einen Punkt zu gelangen, an dem die Zeit keine Rolle mehr spielt. Deswegen sagt Marina Abramović auch: «Wenn sich Routine einstellt, wird es noch interessanter.» In neuen Videos gibt die grande dame der Performancekunst eine Reihe einfacher Meditationsanleitungen. Ein bekannter File-Hosting-Dienst stellte die Übungen in diesem Juni allgemein zugänglich ins Netz.

Die «Abramović-Methode» umfasst: Wasser trinken, Reis zählen, langsam gehen und in die Augen schauen. Es hört sich banal an, ist aber das Kondensat einer lebenslangen Suche nach Möglichkeiten, physische und psychische Grenzen zu überschreiten.

«Eine Performance-Künstlerin zu sein, ist eine sehr schwierige Aufgabe», sagt die 1946 in Belgrad geborene Künstlerin. «Ich habe verschiedene Übungen entwickelt, die mir helfen, Willenskraft und Konzentration zu entwickeln. Irgendwann habe ich verstanden, dass diese Übungen nicht nur mir dienen können.» Deshalb möchte sie sie weitergeben. Nach den Pandemiemonaten sei es besonders «wichtig, sich wieder mit sich selbst zu verbinden.»

In abgeschwächter Form lässt sich zumindest ein Teil der Übungen wohl in jedes Leben integrieren. Übung Nr. 2 ist für mich auf jeden Fall zu hart, aber vielleicht gibt es Hardcore-Leute unter den Leser:innen dieses Blogs, die es sich zutrauen.

1) Wasser trinken

Wir haben ein Glas mit Wasser vor uns, nicht zu voll und nicht zu leer. Wir trinken das Wasser so langsam wie möglich, während wir unsere komplette Konzentration auf diesen Akt legen und versuchen, unsere Aufmerksamkeit ganz auf das Hier und Jetzt zu lenken. Wir fühlen die Kühle des Wassers, die Härte des Glases, wir schliessen die Augen und öffnen sie wieder, nehmen einen winzigen Schluck, spüren, wie das Wasser in unseren Körper fliesst. Wer den Prozess in die Länge zieht, 50 oder 60 Minuten dabei verharrt, trinkt nie mehr ein Glas Wasser, ohne sich an diese Übung zu erinnern.

2)  Reis zählen

Eine Packung Reis ausleeren und mit schwarzen Linsen vermischen. Ein Blatt Papier und einen Stift daneben legen. Das Zählen nimmt nach den Erfahrungen der Künstlerin zwischen sechs und acht Stunden in Anspruch. «Wenn du sagst, du machst es, dann machst du es ganz. Es ist quasi eine Frage von Leben und Tod. Wenn du nach der Hälfte abbrichst, hast du die gleiche Haltung auch im Leben.» Die Übung helfe, den Willen zu stärken und stärke die Fähigkeit, Widerstände zu überwinden. Der entscheidende Punkt ist gekommen, wenn man die Übung zu hassen beginnt und sich ärgert. Dann können sich plötzlich «tiefe Ruhe und Gelassenheit einstellen und die Zeit hört auf zu existieren.»

3)  Langsam gehen

Einmal am Tag oder zumindest einmal pro Woche oder pro Monat sollte man ins Grüne gehen. Abramović empfiehlt den slow motion walk ohne geplante Zielrichtung. Es geht darum, die Bewegung zu spüren, die Fusssohlen und Gelenke, sehr langsam zu atmen und die Umgebungsgeräusche wahrzunehmen: das Rauschen des Windes, Vogelgesang etc.

4)  In die Augen schauen

Die Augen sind das Tor der Seele. Abramović empfiehlt beim In-die-Augen-Schauen oder eye gazing eine ruhige Haltung auf einem Stuhl einzunehmen, nicht zurückgelehnt, sondern aufrecht. Der Blick ist auf die Stelle zwischen den Augen des gegenübersitzenden Menschen gerichtet. Bewegungen werden vermieden. Regelmässig durch die Nase atmen. Einfach in die Augen schauen und die Zeit vergessen. «Jeder Mensch hat eine andere Geschichte. Lasst uns zusammen in dieses Abenteuer gehen!», fordert uns Abramović auf.

Eye gazing ist eine Übung, mit der die Künstlerin bei einer Ausstellung 2010 im New Yorker Museum of Modern Art grosse Aufmerksamkeit erfuhr. Mehr als 800 000 Besucher:innen wurden bei Abramović’ 700 Stunden währender Performance «The Artist is Present» gezählt. Wie eine Heilige oder Büsserin, so empfanden nicht wenige Zeug:innen der Aktion die Frau, die ihnen blass, schweigend und mit vor Anstrengung hervortretenden Wangenknochen und Schweissperlen auf der Stirn regungslos gegenüber sass und ihnen einfach in die Augen blickte.

Bei manchen Menschen kullerten überraschend Tränen aus den Augen. So aufmerksam angeblickt zu werden, waren sie offenbar nicht gewohnt.

Einige Jahre später wiederholte die serbische Performancekünstlerin die Exerzitien in der renommierten Londoner Serpentine Gallery. Besucher:innen sollten sich an die Wand stellen, die Augen schliessen und sich einfach «etwas entspannen». Zuvor mussten sie die Smartphones abgeben, um mit der Künstlerin «pur» in Kontakt treten zu können. «Wie bei einem Gebetstreffen» kam sich der «Guardian»-Kritiker Adrian Searle vor.

Kurse mit Lady Gaga

Die Royal Academy in London widmet der Künstlerin eine Einzelausstellung – als erster Frau in der 250-jährigen Geschichte der Institution. Coronabedingt wurde die Eröffnung allerdings auf 2023 verschoben. In den USA gründete Marina Abramović vor einigen Jahren ein Zentrum für Performancekunst, das MAI, in dem unter anderem Lady Gaga Kurse besuchte.

Marina Abramović macht keine halben Sachen. Als junge Frau ritzte sie sich mit Rasierklingen ein Pentagramm in den Bauch, peitschte sich wie ein mittelalterlicher Flagellant den Rücken wund oder tauschte vor laufender Kamera mit ihrem damaligen Partner Ulay laut klatschend Ohrfeigen aus. Man spricht hier von Ordeal Art, die reduzierten Gesten haben ihre Wurzeln in der Postminimal Art der späten 1960er-Jahre.

Später als Kunstprofessorin setzte sich die Performerin auf blutige Fleisch- und Knochenhaufen und ass vor Publikum rohe Zwiebeln. Die Performance liess sich u.a. als Kommentar auf Kriege im zerfallenen Jugoslawien lesen.

Die Künstlerin begründet ihren Hang zu extremistischer Selbstdisziplin wie auch zu Spiritualität mit ihrem doppelten Erbe: Als Kind streng-kommunistischer Eltern und glühender Tito-Partisanen genoss sie eine fast militärische Erziehung. Auf der anderen Seite ist die Mitgift einer tief-gläubigen Großmutter. Wie kaum eine andere Gegenwartskünstlerin verbindet Abramović in ihrem immateriellen Werk Kunst, Meditation und moderne Bussrituale.

 

Das von Marina Abramović gegründete Zentrum für Performancekunst ist hier.

Die geplante Ausstellung in der Royal Academy in London.

Portrait of Marina Abramovic. Photo © Marco Anelli, Royal Academy London

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