Vom Vorsatz zur Praxis
Als gestresster Zeitgenossin fehlt mir die Musse, um rauszugehen und in Gruppen zu meditieren. Der Vorsatz ist da, die Durchführung aber klappt nicht. Es wäre möglich, wenn ich in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter leben würde. Aber das wäre ein anderes Leben.
Noch etwas: Wen ich zu Hause ankomme, nach einem Tag voller Gespräche, Bilder und Geräusche die Tür hinter mir schliesse, dann bringt mich kaum etwas dazu, mein heiliges Refugium wieder zu verlassen.
Bevor ich mich das erste Mal im Netzkloster dazuschalte, spüre ich leichte Erregung. Sie resultiert aus dem Überfälligen des Schrittes, der alten, unerfüllten Sehnsucht nach einer spirituellen Praxis. Nachts mündet die Vorfreude in Aufregung und Schlaflosigkeit.
Ich habe das Gefühl, eine kleine Schwelle zu überschreiten, aber einen grossen Schritt zu tun.
Nur einen Klick entfernt
Ein Smartphone oder Laptop, die Zoom-App, den Link des Netzklosters, ein Teelicht, eine bequeme Sitzunterlage, Earbuds und die Bereitschaft still zu sein – es braucht nicht viel. Den Link habe ich zugeschickt bekommen, nun darf ich mich in eine sanfte Stimme hineinlegen.
Jesus Christus
Ich in dir und du in mir
Du, mein Gott
Worte aus dem Herzensgebet, der Via Cordis, höre ich ganz nah, direkt im Ohr. Ein Gong wird angeschlagen, sein Klang zieht sich in die Unendlichkeit und löst leise Schauer aus. Lautloses Pulsieren.
Zum Netzkloster (Motto: «gemeinsam.online.meditieren») bin ich vor einigen Wochen gestossen, Mitte Mai, nachdem ich den Netzabt Simon und die Netzäbtissin Sarah bei mir im Podcast hatte.
Die Podcastepisode mit dem Netzkloster findest du hier. Beim 2. RefLab-Podcastfestival «Alles wird gut» am 6. und 7. September 2025 in Zürich, mit vielen tollen Gästen (von den Pfarrerstöchtern über Olivia Röllin bis zu Wolfgang M. Schmitt) kannst du an geführten Meditationen des Netzklosters teilnehmen.
Mein Gast beim Festival wird der Jesuit, Zen-Meister und Bestsellerautor Niklaus Brantschen sein. Wir sprechen über sein jüngstes Buch: «Du bist die Welt. Schamanischer Weisheit auf der Spur» Sichere dir Karten!
Mein Podcast «TheoLounge» wird ab Herbst mit neuem Namen weiterlaufen: «Himmel und Erdung. Spirituell leben in der NetzZeit».
Du darfst da sein!
Mit dem Gong dehnt sich Zeit, wächst in Stille hinein und hört auf, messbar zu sein.
Gong und Stille sind mir von der Zen-Meditiation vertraut, 25 Minuten sitzen, still, möglichst regungslos. Das geht. Ohne Erwartungen, einfach da sein dürfen. Das nehme ich ebenfalls aus der Zen-Praxis mit.
Du darfst da sein, einfach da sein!
Einfach da sein, in der Gegenwart nicht von nichts, sondern von etwas, das erst mit der oder in der Stille auftaucht.
Der Mystiker Meister Eckhart nannte es «Gottheit»; oder namenloses «Überseiendes» jenseits von Sein und Nichtsein.
Einfach da sein! Der grösste Luxus überhaupt, besser als Reisen in Luxusschiffen oder aufwändige Hobbies, finde ich zumindest. Zum Abschluss wieder der Gong, ein kurzer Segen für die Nacht und eine Verabschiedung. «Schlaft gut», «Ihr auch».
Schlaft gut! Ihr auch!
Die Verbindung wird gelöst, jetzt bin ich wieder mit mir allein, in vertrauter Umgebung. Die Nacht ist hereingebrochen. Es war meine erste Vigilia, Nachtsitzung, im Netzkloster.
Ich kenne niemanden am anderen Ende der Leitung. Aber ich habe das Gefühl, dazuzugehören. Umstandslos. Als wäre spirituelle Netzverbindung wie Müsli-Essen oder spazieren gehen.
Ich hätte auch allein sitzen und schweigen können, aber es wäre etwas anderes gewesen. Und schwieriger als in Gemeinschaft.
Am übernächsten Tag sitze ich abends um neun wieder daheim in meiner Meditationsecke – und warte. Die Frau, die mir lächelnd gegenübersitzt, ist Novizin wie ich.
Novizen und Novizinnen heissen Klosterneulinge.
Im Netzkloster ist das keine offizielle Bezeichnung. Ich finde es aber passend, da sich Neulinge erst zurechtfinden müssen und eine gewisse Narrenfreiheit besitzen.
Einander in der Stille halten
Im Chat hatte die Frau den Entschluss verkündet, es nun zu machen und dabei zu bleiben. Weitere Menschen schalten sich dazu. Wir warten ab, wer diesmal die kleine Zeremonie leitet, wer uns den «Raum hält».
«Raum halten» oder «Keeping space» ist der Achtsamkeitskultur entlehnt. Im Netzkloster bedeutet es, dass jemand mit ein paar Gebetsworten oder Reflexionen einen Rahmen für die gemeinsame Stille baut.
Ein Bild aus meinem Podcastgespräch mit Netzabt Simon und Netzäbtissin Sarah kommt mir in den Sinn. Die Äbtissin erzählte, dass sie während einer Krise nach einem «Geländer» suchte, um den Weg nach innen gehen zu können.
«Ich glaube, es braucht, um diesen Weg nach innen zu gehen, auch einen gewissen äusseren Raum. Und wenn da eine Person ist, die eine Art Geländer baut, um da hinabzugehen in diese Tiefe, dann ist es einfacher, als wenn ich mich einfach allein hinsetze und schweige.»
Raum wird gehalten
Ich bin gehalten – und halte andere.
Es sind erstaunlich einfache Rituale, die dies bewirken: Ein gemeinsam gehörtes Gebet, ein Amen, ein Segenswort.
Der Einstieg ist geschafft, aber können wir in Zoom-Sitzungen wirklich tiefe, mystische Erfahrungen machen? Darum geht es im nächsten Blogbeitrag «Geht Mystik auch online?» in zwei Wochen.
Netzkloster für Einsteiger
- Inspectio Schnupperabende: 11. September 2025 und 8. Januar 2026
- Formatio-Kurs: 6-wöchiger Online-Kurs mit Simon Weinreich für Einsteiger:innen, ab Donnerstag 30 Oktober, jeweils 19.30-21 Uhr
Vertiefung für Abonnenten (Auszüge)
- Innere Rückzugsorte spüren, mit Sarah Dochhan, Mittwoch, 1. Oktober, 19.30-21 Uhr
- Einführung in die integrale Spiritualität mit Martin Henniger, 19.30-21 Uhr, Sonntag, 16. November:
- «Überwintern» – 10-wöchiger Novatio-Meditationskurs für eine resiliente Spiritualität, mit Sarah Dochhan, Mittwoch 7. Januar 2026, jeweils 19.30-21 Uhr
Viel Gesehenes aus dem Archiv: «Was ist eigentlich Mystik?» von Evelyne Baumberger.
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