Vorfreude auf die gemeinsame Stille, obwohl ich nach dem Arbeitstag eigentlich körperschwer und müde bin. Als ein kleines Wunder erscheint mir, dass ich inzwischen keine Schwelle mehr wahrnehme. Vom Wohnzimmer ins Nebenzimmer und von dort via Smartphone ins Netzkloster fühlt sich an, wie zu Hause den Raum wechseln.
Mein kleiner Meditationstisch steht bereit und ich betrete den digitalen Raum, wenn man das so sagen kann. Den digitalen Raum, zu dem wir uns zusammenschalten, können wir ja eigentlich nicht betreten, und doch können wir dort sei. Da und dort gleichzeitig.
Das «da» und das «dort» verschmelzen, werden eins. Mystik des Netzes!
Mit Luther in die Stille
Der digitale Raum, in dem wir uns zu bestimmten Zeiten zur Meditation treffen, ist nicht eigentlich ein anderer Raum, vielleicht eher eine andere Dimension von Zusammenkunft.
Unser Netzabt trägt helle, sommerliche Kleidung und hat bereits die Sitzposition eingenommen. Den Abend leitet aber nicht er, sondern ein anderer Bartträger. Ich kann ihn auf meinem Handybildschirm nur schattenhaft wahrnehmen, denn in seinem Zimmer oder Studio ist es dämmrig.
Er scheint geübt, wählt ein Luther-Zitat. Die Worte des Reformators klingen nüchterner, lebenspraktischer als die Sätze mittelalterlicher Mystikerinnen, die ich bisher in Vigilien, Nachtgebeten, gehört hatte.
Das Leben ist nicht ein Frommsein,
sondern ein Frommwerden, nicht ein Gesundsein,
sondern ein Gesundwerden,
nicht ein Sein, sondern ein Werden,
nicht eine Ruhe, sondern eine Übung.
Wir sind‘s noch nicht, wir werden‘s aber.
Es ist noch nicht getan oder geschehen,
es ist aber im Gang und im Schwang.
Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.
Es glüht und glänzt noch nicht alles,
es reinigt sich aber alles.
Klingt ein wenig knorrig. Es folgt der übliche Gong, der heute aber jäh abbricht; weil das Gegenüber sein Mikrophon eine Spur zu früh ausschaltet.
Es fühlt sich ein bisschen an, wie in Stille stürzen statt gleiten.
Ganz bei sich und mitgetragen
Der Körper, eben noch fast zu müde für alles, selbst für still sitzen, fühlt sich auf einmal erstaunlich leicht an. Ich hänge mich in die gemeinsame Stille förmlich hinein, wie in eine Hängematte, die trägt und gleichzeitig schwebend macht.
Dass es sich potenziert, wenn wir gemeinsam still sind und meditieren, ist ein Wunder, über das ich nicht aufhöre zu staunen.
Ich geniesse die mit anderen geteilte Stille in vollen Zügen.
Es ist schön, mit geschlossenen Augen verbunden zu sein, und obwohl die Mikrophone ausgeschaltet sind, wir also keinen akustischen Raum teilen, die anderen zu spüren, von ihnen mitgetragen zu sein. Spüren, sie sind da.
Manchmal ein Augenlid kurz heben, um zu prüfen: Ja, sie sind noch da! Alles gut.
Hände in den Schoss
Auf dem Smartphone-Bildschirm sind nicht alle Anwesenden repräsentiert. Wahrscheinlich ist der Bildschirm dafür zu klein. Ich schalte mich aber lieber mit dem Handy als mit dem Laptop dazu; der Laptop ist zu sehr mit Arbeit verbunden.
Und um Arbeit, etwas abhaken, etwas erreichen, geht es bei der Meditation gerade nicht. Sondern im Gegenteil.
Wir legen die Hände bewusst in den Schoss, lassen die Arme los, lassen die Finger locker.
Wir brauchen nichts festhalten.
Lassen auch die Zunge locker. Unbemerkt will die Zunge manchmal den aufrechten Sitz unterstützen und presst gegen den Gaumen.
Durchlässig werden
Vom Zen kenne ich die Haltung der Hände, locker rechts unter links (wahlweise umgekehrt) und die Daumen berühren sich nur leicht, zwischen ihnen hätte ein Blatt Papier Platz.
Ich spüre, wie mich das Meditationskissen trägt, meine Sitzhöcker mich aufrichten, und wie mein Atem gleichzeitig tiefer und ruhiger wird. Eine schwebende Leichtigkeit überkommt mich auf einmal, eine Durchglückung auch.
Ich fühle mich leicht wie ein Kind, als würde ich auf einmal nur noch die Hälfte meines üblichen Körpergewichts wiegen.
Ich erinnere mich daran, bei der mittelalterlichen Mystikerin Hildegard von Bingen den Vergleich mit einer Feder gelesen zu haben. Sie lebte im 12. Jahrhundert ein klösterliches Leben und bezeichnete sich selbst immer wieder als «eine Feder auf dem Atem Gottes.»
Hildegard von Bingen sah sich als von Gott geführt und getragen, leicht und beweglich, wie eine Feder vom Wind.
Zugleich war für die mystische Schriftstellerin die Schreibfeder natürlich ein wichtiges Arbeitsutensil.
Auf einmal sehen
Und dann passiert etwas Überraschendes: Ich erlebe einen luziden Moment. Ich habe auf einmal das Gefühl, wirklich zu sehen. Nicht mit den äusseren Augen, die ich geschlossen halte, sondern den inneren.
Ich sehe selbst dasjenige, was sonst das Sehen verhindert: eine Art Watteschicht aus lauter Sachen, die sich immer dazwischenschieben.
Ich habe das Gefühl, dass sich für Momente innere Augen öffnen.
Gleichzeitig nehme ich Pochen an der Schläfe und am Ohr wahr. Ich bin leicht – und da ist plötzlich und gleichzeitig eine unheimliche Schwere, die ganze Schwere der Welt, wie mir scheint. Plötzlich ist alles durchsichtig und alles zu sehen: fallende Bomben, sterbende Kinder, all der Schmerz, all die Angst.
Die Leichtigkeit und das Zurückgenommensein macht unvermittelt Raum für das schmerzlich Reale der Welt.
Von den Rändern her breiten sich inzwischen wieder Watteschichten aus. Ich bin jetzt erneut mit mir selbst und mit dem Sitzen beschäftigt. In einer Schulter zieht es, ein Bein droht einzuschlafen und ich muss es notgedrungen ein wenig bewegen.
Die Realität der Schwerkraft ist wieder da, meiner Knochen und des Fleisches.
Plötzlich das Kreuz
Gedanken schwirren durch den Kopf wie Vögelschwärme, nichts Aufdringliches. Sie dürfen kommen und gehen. Warten schiebt sich in den Vordergrund – die Mühen der Ebene; es gilt eine knappe halbe Stunde möglichst still zu verharren.
Stillsitzen, selbst wenn es zwackt oder schmerzt, erfordert auch Tapferkeit.
Der Gong weckt mich aus neuerlichen Gedankenausflügen auf. Ich gehe vor allem mit einem Gedanken aus der abendlichen Meditationssitzung: dass mich der luzide Moment durchlässig für den Schmerz anderer und der Welt gemacht hat, für das Kreuz.
In der Meditation tauchte unvermittelt und überraschend das Kreuz tauf.
«K R E U Z» notiere ich in auseinander gerückten Buchstaben in meinem Meditations-Tagebuch.
Ich kann mich mit der Welt tief verbunden fühlen in der Zoom-Meditation – aber gehen auch die Verbindungen zu anderen Meditierenden im Netzkloster tiefer? Lies dazu den dritten und letzten Blogbeitrag der Serie «Tagebuch einer Netz-Novizin».
Mein Podcastgespräch mit den Verantwortlichen des Netzklosters: «Wir brauchen gute Rituale».
Netzkloster für Einsteiger:innen
- Inspectio Schnupperabende: 11. September 2025 und 8. Januar 2026
- Formatio-Kurs: 6-wöchiger Online-Kurs mit Simon Weinreich für Einsteiger:innen, ab Donnerstag 30. Oktober, jeweils 19.30-21 Uhr
Vertiefung für Abonnenten (Auszüge)
- Innere Rückzugsorte spüren, mit Sarah Dochhan, Mittwoch, 1. Oktober, 19.30-21 Uhr
- Einführung in die integrale Spiritualität mit Martin Henniger, 19.30-21 Uhr, Sonntag, 16. November
- «Überwintern» – 10-wöchiger Novatio-Meditationskurs für eine resiliente Spiritualität, mit Sarah Dochhan, Mittwoch 7. Januar 2026, jeweils 19.30-21 Uhr
Was ist Mystik? – von Evelyne Baumberger.
Mystik im Alltag: Eine Beitragsreihe von Martin Thoms.
Geführte Meditation von Leela Sutter.
Foto von Sunrise King auf Unsplash








3 Gedanken zu „Netzkloster: Geht Mystik auch Online?“
Du bist IMMER online, Schwester – Das Internet des Geistes der Schöpfung steht zwar still in der göttlichen Sicherung vor dem Freien Willen, weil Mensch seine Vernunftbegabung nur für “Individualbewusstsein” über materialistische “Absicherung”/ Krücken hütet, aber zumindest der Geist, bzw. das Zentralbewusstsein der Schöpfung, hat stets die Möglichkeit, OHNE Kabel, die Schnittstelle / das Interface, also Dein Gehirn, zu kontaktieren, vielleicht, aber in der derzeitigen Situation ziemlich unwahrscheinlich, auch für den nächsten geistigen Evolutionssprung (der nur extrem chaotisch werden kann, wenn Mensch seine gleichermaßen unverarbeitet-instinktive Bewusstseinsschwäche nicht entsprechend der Vernunftbegabung fusioniert)!?
Den Eindruck habe ich auch! Wir können immer verbunden sein, mit oder ohne Netz. Auf jeden Fall cool formulierter Kommentar, danke.
Wir KÖNNTEN ☝️😃 telepathisch / empathisch und in den Möglichkeiten des geistig-heilenden Selbst- und Massenbewusstseins als ganzheitlich-ebenbildliches Wesen Mensch “Berge versetzend”, wenn wir nur wirklich-wahrhaftig wollten – Matthäus 21,18-22 👋😇