Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 5 Minuten

Eine Hundemaske, Gott und die späte Blüte

Nimm dir Zeit für ein Hobby, das du schon länger nicht ausgeübt hast. Oder für etwas, das du schon immer mal ausprobieren wolltest. Einfach mal machen.

Mal wieder tanzen. Oder einfach das verstaubte Instrument aus dem Keller holen, abstauben und ein paar Töne rausholen. Perfektionistisch wirst du schnell genug wieder. Einfach etwas nur aus Freude machen, wie lange ist das nicht mehr passiert.

mal was wagen

Die längsten Tage des Jahres gehen meist mit den längsten Nächten einher. Eine Zeit zum sich Rumtreiben. Die Nächte um die Füße schlagen. Einen über den Durst tanzen. Durch die Straßen Händchen halten. Allein sein ist heute keine Option. Mutter, Sohn und Heiliger Himbeergeist.

Eine Zeit in der ich mich nach draussen traue. Ich gehe einen Schritt weiter, als ich gestern noch dachte. Weil mir mein Mut entwachsen ist und ich ihm noch hinterhereile. Ich überwinde mich, du überwindest dich, wir überwinden unsere Ängste. Kollektiv, wäre das nicht schön?

Wir stehen füreinander ein, wir zeigen Flagge. Wenn ich mich traue, habe ich etwas zu verlieren. Ich setze mich aufs Spiel, zumindest ein bisschen. Gut so.

auf die Strasse gehen

Hohe Schuhe stöckeln an mir vorbei. Daneben eine Hundemaske, die mich anblickt. Ein Lederhalsband legt sich um seinen Hals. Er tritt auf mich zu. Musik, überall ist Musik, überall sind Menschen. Stöckelschuhe und Hunde und Federboas und Katzenkrallen.

Der Hund legt den Kopf schief. Ob er auch ein Armband haben darf und was ich hier eigentlich tue, fragt mich die Stimme. Ich verstehe nicht. Der Bass dröhnt durch meine Brust. Links und rechts von dem Hund weitere Hunde. Arme raven zur Musik, die sich immer weiter aufdreht. Boom, boom, boom.

Ich bin auf der Pride Parade in Hamburg. Mit Kolleg:innen stehe ich im Talar am Rande der Strecke. Wir verteilen Segensbänder und tanzen mit den Menschen. Hinter uns prangt ein drei Meter hohes Plakat: «Du bist wunderbar gemacht.» Dazu eine Jesusstatue und ein Regenbogen, der sich über ihr aufspannt.

Gott traut sich, in Beziehung zu sein. In dieser Zeit besonders viel. Besonders viel Lust und Begierde. Du und ich. Und die ganze Welt um uns herum. Wir laden sie ein. Gott ist eine Dreieinigkeit, für mich bedeutet das: Gott liebt Beziehungen. Mit uns und mit sich selbst. Das feiern wir heute. Gott und die Liebe und die Beziehungen, alle zusammen auf der Strasse.

ganz egal wie alt

Der Hund drückt seine Handflächen zu dem Beat in die Luft. Seine Hände tragen Hornhaut und Narben. Sie sehen aus, als hätten sie schon einiges erlebt. Ich brauche kurz, um zu realisieren: Vor mir steht ein älterer Mann, die Maske hat sein Alter verborgen. Es ist Ende Juni. Mitte des Jahres.

In der Mitte des Lebens sind viele Menschen überfordert. Kommt jetzt noch was? Bin ich zufrieden mit dem Leben, welches ich mir aufgebaut habe?

Als late bloomer – Spätblüher – werden Menschen bezeichnet, die erst im Laufe ihres Lebens herausfinden, in welchen Bereichen sie besonderes Talent besitzen oder was für sie persönlich eine sinnstiftende Aufgabe ist. Oder auch wie sie ihr Leben gestalten wollen, ihre Beziehungen, ihr Arbeitsleben, ihre Wohnsituation.

Das große Blühen, das blühende Leben, das Lebende in uns fühlen. Darum geht es doch in dieser Umbruchszeit, oder? Und dabei alles auf den Tisch legen, was du dabeihast. Deine Beziehungen, deine Hoffnungen, deine Ängste und deine Überzeugungen. Ich traue mich, traust du dich auch?

man lernt nie aus

Howard Gardner, Professor für Kognition und Pädagogik in Harvard, schreibt von kristallisierenden Erfahrungen. Momente, in denen Menschen mit besonderem Talent eine Erfahrung in diesem Bereich machen. Sie erkennen erst in diesem Moment ihr Talent und sind dadurch in der Lage, dieses Talent in ihr Leben zu integrieren.

Das eine ist, zu finden, was dich glücklich macht, das andere ist, dann auch den Mut zu haben, es zu leben.

Nicht jede Erkenntnis muss Handlungen nach sich ziehen. Nicht jedes Leben muss sich von Grund auf verändern, allein durch eine sich anbahnende Existenzkrise. You do you.

Nachdem ich mich mit dem Menschen mit der Hundemaske unterhalten habe, fragt er mich, ob ich ihm einen Segen zusprechen würde. Wir werden still miteinander. Im nächsten Moment drücke ich ihm noch ein Armband in die Hand, bevor er weitergezogen wird.

Am nächsten Morgen feiere ich einen Gottesdienst in meiner Ausbildungsgemeinde. Ich erzähle von der Begegnung und davon, wie ich die Pride Parade erlebt habe. Auch von der Begegnung mit dem Hund. Zu dem Zeitpunkt gehe ich noch davon aus, dass mich nichts glücklicher machen kann, als als Pastorin zu arbeiten.

besser spät als nie

Ich weiß nicht, ob der Hund schon immer wusste, was ihn glücklich macht. Vielleicht hatte er auch diesen Moment in seinem Leben, in dem er einen Schritt weiter gehen musste, sich aus seiner Komfortzone gewagt hat, um für etwas einzustehen, das ihm wichtig ist. Oder er ist ein Frühblüher und wusste schon sehr früh, was gut für ihn ist. Aber eigentlich ist es auch egal. So oder so, ich habe großen Respekt für ihn.

Vielleicht ist Gott auch eine Spätblüherin.

Nach so vielen Jahren erst festzustellen, dass sich In-Beziehung-sein am besten leben lässt, wenn sie selbst Mensch wird. Oder sie hat sich einfach viel Zeit gelassen. Aber sie hat sich getraut, darauf kommt es an.

Gott, die mit sich selbst in Beziehung ist. Und nur so sein kann. Irgendwann möchte ich auch mal so gut mit mir in Beziehung sein, wie du es bist. Mit dir selbst, dem, was leiblich geworden ist, deinem Geist und dem anderen. Vielleicht ja im nächsten Frühling.

Zu was musstest du dich in letzter Zeit überwinden? Welches Talent hast du bei dir entdeckt?

 

 

Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Buch “Ein gefühltes Jahr” von RefLab Autorin Janna Horstmann. Das Buch ist überall im Handel erhältlich.

Weitere Beiträge aus dem Buch findest du hier.

Foto auf Unsplash von American Jael

Alle Beiträge zu «Ein gefühltes Jahr»

2 Gedanken zu „Eine Hundemaske, Gott und die späte Blüte“

  1. “Ich überwinde mich, du überwindest dich, wir überwinden unsere Ängste. Kollektiv, wäre das nicht schön?”

    Das wäre das Ende des bewusstseinsbetäubenden Tanzes um den heißen Brei der wettbewerbsbedingt-konfusen Symptomatik im Glauben an materialistische “Absicherung”, das wäre der Anfang der gottgefälligen/vernünftigen Fusion von Gemeinschaft aus Vernunftbegabung zu Gott/Vernunft, WENN wir endlich ein Gemeinschaftseigentum “wie im Himmel all so auf Erden” gestalten würden, ENTGEGEN unserer gleichermaßen unverarbeitet-instinktiven Bewusstseinsschwäche in Angst, Gewalt und egozentriert-gebildetem “Individualbewusstsein”, ENTGEGEN unserer zeitgeistlich-reformistischen Gewohnheiten in heuchlerisch-verlogener Schuld- und Sündenbocksuche und “Wer soll das bezahlen?”, DENN kollektiv ist die Antwort auf alle Probleme unseres “Zusammenlebens” wie ein wachstumwahnsinniges Krebsgeschwür!?

    Antworten
  2. “Vielleicht ist Gott auch eine Spätblüherin.”

    Vom “Gefühl” meiner Ausserkörpererfahrung:
    Wo Raum und Zeit “relativ” sind, da ist nichts mit früh oder spät, da hat sogar das Nichtsein … (“etwas” was ich weder beschreiben noch sonstwie erklären kann).

    Antworten

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