Dein digitales Lagerfeuer
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Eine Zeit zum Gehen

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Entschleunigung. Ein Fremdwort unserer Zeit. Das Gegenteil von Beschleunigung. Verlangsamen. Langsamer werden. Die Rotation reduzieren, zur Ruhe kommen auf das Ende hin. Der November ist wieder eine Bremsung, bevor es im Dezember noch mal beschleunigt, das Jahr.

Langsamkeit muss ich mir anziehen, bewusst wählen und aktiv praktizieren. Schnell wird alles von allein. Zu Fuß gehen verleitet zur Langsamkeit, ganz bewusst eine Runde schlendern. Rennräder tendieren nicht zur Tändelei, eher zum Eisern-in-die-Pedale-treten. Ach, wenn ich eine Schnecke wäre, ich würde wohl viel mehr von der Welt sehen.

Die Familie im Wandel

Ein Sonntag Ende November. Wir machen einen Spaziergang, ich und meine Familie. Ich gehe ganz hinten und beobachte die wippenden Jacken und stapfenden Stiefel. Stiefel machen Menschen langsamer. Auch die Ausrutschwahrscheinlichkeit steigt durch etwaige Wetterphänomene oder nasse Blätter. Ich vermute, im Herbst und Winter gehen die Menschen generell langsamer als im Sommer.

Früher waren wir oft zu fünft spazieren, meistens am Meer, an den Feiertagen, wenn es sonst nichts zu tun gab. Mittlerweile sind wir zu elft, wenn alle dabei sind. Dass meine Mutter und meine Schwestern nebeneinandergehen, die Arme ineinander verhakt, ist selten geworden.

Spazieren gehen wird nicht selten zu einer eigenen Veranstaltung: Der Laternenumzug, der Spaziergang zur Kirche am Adventssonntag, der Umzug zum Karneval, alles meist in Begleitung des Nachwuchses. Unsere Familie-Konstellation hat sich verändert, umso mehr möchte ich diese Momente festhalten. Ich nehme meine Polaroid-Kamera zur Hand und mache ein Foto von den Dreien. Die Silhouetten sind leicht unscharf durch die Bewegung.

Zwischen Bewegung und Stillstand

Tage später bin ich auf dem Heimweg. Ich sitze im Zug und betrachte das Foto. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, wird wieder eine weitere kleine Person mit uns spazieren gehen. Die Zeit stand kurz still, nur um gleich darauf weiter zu reisen. Der Moment ist eingefroren und doch dynamisch. Es liegt eine Bewegung in der Unschärfe des Bildes.

Bewegungsunschärfe bezeichnet die Unschärfe in Bildern bewegter Objekte. Sie entsteht in der Fotografie durch die Bewegung eines Objektes innerhalb der andauernden Belichtungszeit. Die Unschärfe auf dem Bild bildet demnach die durchgeführte Bewegung innerhalb einer bestimmten Zeitspanne ab.

Auf dem Foto vergeht die Zeit. Es deutet auf das hin, was sein wird. Es sind zwar nur wenige Sekundenbruchteile, aber ich sehe die nächsten Schritte, ahne die Geburt eines Kindes und dass dieses Bild im nächsten Jahr bereits anders aussehen wird.

Auf dem Weg

Ich sehe nicht nur meine Familie und die drei Figuren, die durch den Herbst stapfen. Ich sehe auch die Menschen, die sich zu Fuss auf dem Weg aus dem Osten in den Westen, aus dem Süden in den Norden machen. Weil es ganz vielleicht an einem anderen Ort besser sein könnte als hier. Weil hinter dem Meer die Sicherheit wartet und im Westen der Wohlstand. Vermeintlich.

Sie sind auch zu Fuss unterwegs. Sie brauchen die Zeit. Schritt für Schritt, Tag für Tag ihrem Stern zu folgen. Sie haben keine Zeit zu spazieren. Ich frage mich, ob sie tagsüber Pausen einlegen oder sie nachts manchmal in die Sterne blinzeln. Ob sie vielleicht wollten, dass die Zeit schneller vergeht, um endlich angekommen zu sein.

In Schrittgeschwindigkeit

Manchmal wünsche ich mir, dass die Zeit langsamer vergeht. Dass meine Schwestern und meine Mutter einfach immer so gemeinsam durch den Herbstmatsch stiefeln und die Menschen, die anderswo ihre Zukunft suchen, angekommen sind. Und dort Zeit haben, um spazieren zu gehen. Denn je mehr Zeit ich mir nehme, desto weniger wird die Zeit zu einer linearen Größe. Weil sich die Wahrnehmung meiner Umgebung verändert und alles gleichzeitig ist. Wenn ich könnte und nicht müsste, ich würde jede Reise zu Fuß bestreiten, um immer ganz da sein zu können.

Dann stelle ich mir vor, jedes Auto, jeder Zug, jedes Flugzeug wäre so langsam, wie ich bin, wenn ich spaziere: 5 km/h. Und jedes Bild, das ich machte, wäre scharf, weil die Zeit so langsam vergeht, dass ich sie nicht fotografieren kann. Ein Leben in Schrittgeschwindigkeit, nicht mit Zeitraffer.

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