Die Konfrontation mit mir selbst
Ich sitze in einem winzigen Nebenraum einer kleinen Kapelle. Eine Kerze, ein Meditationskissen und … Stille … weit und breit Stille. Oh, wie sehr ich mir das gewünscht habe! Abstand vom Alltag. Das Getöse dieser Welt weit weg. All der Lärm, der auf mich einströmt, ist nun zum Schweigen gekommen.
Welt, du darfst jetzt mal die Klappe halten. Wie wunderbar.
Wie wunderbar. Jedenfalls für Momente. Denn sobald die Welt um mich herum leiser gedreht wird, wird das Schreien der Seele umso lauter. Erst jetzt kann ich sie wirklich hören, meine Seele, mein Innen, mich. Ich merke: Der eigentliche Sturm tobt gar nicht im Aussen, sondern in mir.
Nicht die viele Arbeit ist das Problem, sondern, dass ich vor mir selbst wegrenne. Nicht der Autofahrer, der zu dicht vor mir einschert, ist schuld an meinem Ärger, sondern die Eile, die mich treibt. Nicht der Stress ist das Problem, sondern das Weglaufen vor dem, was in mir ist. Die äussere Geschäftigkeit ist nur die Folge meiner Flucht vor mir selbst.
Und ich beginne zu ahnen, dass die Frage nicht lautet: Wie werde ich ruhiger? Sondern: Wovor fliehe ich eigentlich?
Ein kleines Wort mit grosser Tiefe
Eine alte hebräische Weisheit trifft mich wie ein Spiegel: «Wer glaubt, eilt nicht» (Jesaja 28,16). Im hebräischen Urtext steht dort für «glauben» die Wurzel des Wortes «Amen».
Das Amen, mit dem so viele Gebete abschliessen und dessen Bedeutung kaum jemand kennt. Amen meint: Ich stehe auf festem Grund. Darauf baue ich. Darin bin ich verankert. Man kann also auch frei übersetzen: «Wer aus dem Amen heraus lebt, eilt nicht»
Amen ist nicht das Ende eines Gebets – es ist der Anfang von Vertrauen.
Wer also aus diesem «Amen» lebt, eilt nicht. Oder besser: flieht nicht. Denn das hebräische Wort für «eilen» kann auch mit «fliehen» übersetzt werden. Das verändert alles. Denn die Eile ist kein logistisches Problem, sondern ein seelisches.
Ich fliehe vor der Stille, vor der Leere, vor mir selbst.
Die Flucht vor der Stille
Ich tanze auf zu vielen Hochzeiten. Ich hetze von Event zu Event. Ich scrolle mich auf Instagram durch den Tag. Und verpasse dabei ganz, dass die Sonne scheint und ich zu Essen habe. Immer auf der Jagd nach Erleben, nach Bedeutung, nach dem Gefühl, nichts zu verpassen. Und dabei verliere ich mich selbst.
Das Ergebnis? Innere Trockenheit. Einsamkeit inmitten von Netzwerken.
Wer nicht bei sich ist, kann die Stille nicht ertragen – weil sie zur Bühne der eigenen Sehnsucht wird.
Und so bleibt nur die Flucht. Aber wohin? Die Aussenwelt hat mir nichts mehr zu bieten, wenn ich innen leer geworden bin.
Der Atem als Lehrer
Zurück in der Kapelle. Ich sitze da. Lausche meinem Atem. Und er erzählt mir alles: Von der Eile. Vom Weglaufen. Vom inneren Raubbau. Mein Atem verrät, wie ich lebe. Flach. Gehetzt. Zerrissen.
Und doch geschieht etwas Neues: Ich bleibe sitzen. Ich bleibe da. Und in der Stille höre ich zum ersten Mal eine andere Stimme.
Mit jedem Atemzug flüstert sie: Ich bin – bei dir.
Ich weiss nicht, ob diese Stimme neu ist. Oder ob ich sie nur nie gehört habe. Aber sie wird eins mit meinem Atem. Ich atme nicht mehr allein. Es atmet in mir. Und ich erinnere mich an den Namen Gottes, den Mose am brennenden Dornbusch hört: «Ich bin da».
Gott im Atem
Mystische Traditionen lehren: Man kann Gottes Namen nicht aussprechen. Aber man kann ihn atmen. Der Klang des Atems sei die einzige legitime Aussprache des göttlichen Namens. Und plötzlich wird mein Atem zum Gebet. Nicht nur meins – jedes Lebewesen betet mit jedem Atemzug.
Wer atmet, der betet. Ob er es weiss oder nicht.
Der Franziskaner Richard Rohr sagt: «Atmen heisst, den Namen Gottes aussprechen – ob du es glaubst oder nicht.» Und ich beginne zu glauben, dass Gott nicht nur da ist, sondern das Dasein selbst ist. Die Gegenwart selbst. Das Leben selbst. Und: Er ist da – in mir.
Die Rückkehr ins Leben
Wie also hole ich mein Leben ein, wenn es mich überholt hat? Vielleicht, indem ich begreife: Ich war es, der es überholt hat. Mein Leben hechelt hinter mir her – und sehnt sich danach, dass ich umkehre. Einkehre. Still werde.
In der Stille wartet das Leben auf mich – das echte, das heile, das göttliche Leben.
Was dann geschieht, ist schwer in Worte zu fassen. Die Gedanken toben, die Stimmen schreien, der Chor in meinem Kopf singt schief. Und doch: Wenn ich bleibe, wird es leiser. Und irgendwann höre ich sie: Die andere Welt. Unter allem Denken. Jenseits aller Worte. Die Stille hinter der Stille. Die immer da ist und alles durchdringt.
Eine Einladung
John O’Donohue schreibt: «Unter unseren Worten, über unseren Gedanken, jenseits unseres Denkens wartet das Schweigen einer anderen Welt.» Genau dahin führt mich die Stille.
Dorthin führt mich mein Atem. Und genau da ist Gott.
Also: Gönn dir eine Atempause. Nicht als Wellness-Zutat. Sondern als Rückkehr zu dir selbst. Zu deinem Leben. Zu Gott.
Wer glaubt, eilt nicht. Wer atmet, betet. Wer still wird, lebt.
Zum Autor: Unter dem Titel «Alltagsmystik» veröffentlichen wir drei Texte von Theologen Martin Thoms – das ist der erste.
Wenn dich das Thema interessiert: Hier findest du das Tagebuch einer Netznovizin von Johanna Di Blasi.
«Was ist eigentlich Mystik?» von Evelyne Baumberger.
Foto von Shubham Dhage auf Unsplash








6 Gedanken zu „Alltagsmystik: Mein Leben überholt mich gerade – wie hole ich es wieder ein? “
“Wer nicht bei sich ist, kann die Stille nicht ertragen – weil sie zur Bühne der eigenen Sehnsucht wird.”
In dieser wettbewerbsbedingt-konfusen Welt- und “Werteordnung” von/zu materialistischer “Absicherung”, ist Bewusstseinsbetäubung DAS Mittel zur Pflege der gleichermaßen unverarbeitet-instinktiven Bewusstseinsschwäche in Angst, Gewalt und egozentriert-gebildetem “Individualbewusstsein” – Wenn Mensch also nicht bei sich ist, dann kann Mensch also auch nicht bei sich selbst als Mensch sein!?
Ein Aspekt des ganzheitlich-ebenbildlichen Wesens Mensch in Möglichkeiten von/zu geistig-heilendem Selbst- und Massenbewusstsein, ist die GANZE Kraft des Geistes der Schöpfung, die gleichmäßig-ruhig und sinnvoll durch uns alle im SELBEN Maße strömen/wirken könnte, wenn … – Und natürlich, zur Zeit unseres jetzigen “Zusammenlebens”, ist dies nicht wünschenswert / können wir “froh” sein, daß nur ein Teil dieser Kraft uns “durchströmt”, im Rahmen der göttlichen Sicherung vor dem Freien Willen, wo wir/Mensch direkt nach dem ersten und bisher einzigen GEISTIGEN Evolutionssprung (die “Vertreibung aus dem Paradies”) in den sozusagen geistigen Stillstand gelandet sind, Danke Gott!?
Aber es könnte alles so schön sein, “wie im Himmel all so auf Erden”, was nicht meine eigene Sehnsucht ist.
Wunderschön!
Balsam für die Seele. Danke.
Was für ein guter Text:
– Persönlich und darum auch mich berührend
– interessant (ja auch ich kannte die Bedeutung von Amen nicht wirklich und jetzt sehe ich starke Wurzeln eines mächtigen Baumes vor mir) und die Perspektiven wechselnd
– poetisch und
– anregend, der Stille vermehrt Raum zu lassen.
Danke!
Ich bin gerade im Urlaub auf Borkum. Draußen regnet und gewittert es, mein Sonnenuntergang ist heute dieser wunderbare Text. Danke. Er berührt mich tief und spricht in meine gehetzte und unruhige Seele hinein. Werde mich morgen an den Strand setzen, ganz allein und atmen. Danke.
Zum Beitrag ‘Mein Leben überholt mich gerade…’: So schön, “Wer aus dem Amen heraus lebt, eilt nicht.” Das hat mich angerührt, danke!🍃