Kunst, war Marisa Merz überzeugt, ist etwas Geistiges.
Materielle Dinge betrachtete die italienische Künstlerin als Spuren, die ins Geistige verweisen. Ihre Werke beziehen ihre Spannung aus der Verbindung der Pole hart und zart, fest und beweglich, profan und heilig.
Es geht häufig um die Feier des Moments, in dem etwas zur Erscheinung gelangt – und wieder verschwindet.
Wie die «Scarpette», kleine geflochtene Schuhe aus Nylonfäden, die die Künstlerin bei Aktionen zwischen 1968 und 1969 an Meeresstränden legte – bis die Flut sie mitriss.
Spuren im Sand
Spuren im Sand, die verwischen: Unwillkürlich muss ich dabei an Jesu Zeichnungen im Sand denken.
Mit den rührenden «Scarpette» in Grösse ihrer eigenen Füsse hat Marisa Merz – paradoxerweise – ein bleibendes Zeichen der Vergänglichkeit geschaffen.
Die Künstlerin gilt als einzige weibliche Vertreterin einer Strömung der 1960er und 1970er-Jahre, die sich «Arme Kunst» (Arte Povera) nannte. Und sie interessierte sich, was für eine Avantgardekünstlerin dieser Zeit untypisch ist, für die religiöse Bildtradition, insbesondere für Ikonen und Volksfrömmigkeit.
«Arme» Materialien
Typisch für die Arte Povera war die Verwendung einfacher Materialien. Der Fokus lag auf sozialen Themen; ähnlich wie zuvor, im italienischen Nachkriegsfilm, beim «Neorealismo».
Mit der Ausstellung «In den Raum hören» («Ascoltare lo spazio», bis 1. Juni 2025 in Bern) bietet das Kunstmuseum Bern jetzt die Gelegenheit, die stille, mystische Kunst der 1926 in Turin geborenen und 2019 gestorbenen Marisa Merz kennenzulernen.
Ihr Mann Mario Merz, ein Hauptvertreter der Arte Povera, ist in vielen Museen mit seinen Variationen der Iglu-Form präsent. Marisa Merz kennt man kaum. Sie war vielseitiger, nicht minder eigenwillig, aber ihr Stil ist weniger stark wiedererkennbar.
Schutzsuchend
Bei einem Tonklumpen bleibe ich hängen. Wie lässt sich der Gesichtsausdruck deuten? Irgendwie unfertig, vielleicht ungeboren, der Mund durstig? Ein feines Kupferdrahtnetz hängt als Schleier über dem angedeuteten Gesicht, als ob es Schutz bräuchte.
Wenn sie mit Ton arbeitete, dann nur mit so viel Material, wie sie in Händen halten konnte.
Unübersehbar artikulierte die Künsterin eine Philosophie des Wenig-ist-genug; in Zeiten der erstarkenden Öko- und Friedensbewegung und wachsender sozialer Ungerechtigkeit.
Madonna der Strassentauben
Unternehmenslustig wirkt eine gemalte Figur mit einer Art himmelblauem Schleier. Das Bild ist ohne Titel und ohne Datierung. Der blaue Schleier weckt Assoziationen an Madonnendarstellungen. Die Figur aber erinnert eher an eine Taube. Allerdings keine reinweisse Heiliger-Geist-Taube, sondern eine Strassentaube.
Also eine Madonna der Strassentauben?
Bei den als «Flugratten» geringgeschätzten Strassentauben wird häufig übersehen, dass auch sie fühlende Wesen sind, die leben und sterben.
Mit der «heiligen» Strassentaube hat Marisa Merz ein sprechendes Beispiel für «Arte Povera» geschaffen.
Die Hinwendung zu den Armen und Ärmsten, den Ausgestossenen und Ausgeschlossenen, schliesst Tiere mit ein.
Tauben sind überaus kluge Flugkünstler: geliebt als Brieftauben und missbraucht – sogar noch in den beiden Weltkriegen – vom Militär: als lebendige Waffen.
Donna Haraway widmete in ihrem 2016 herausgekommenen einflussreichen Buch «Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän» – das in gegenwärtigen Kunstkreisen eine Art Bibel-Status besitzt – den Tauben ein Kapitel. Sie verweist auf ein Projekt in Washington D.C., wo Schüler:innen Stadttauben genau beobachteten und verzeichneten.
«Stadtkinder, grossteils aus ‹Minderheitengruppen› lernen verachtete Vögel als wertvolle und interessante StadtbewohnerInnen kennen.»
Madonna vom Mars
Der Goldgrund der Ikonen verbindet sich in einer geharnischten «Madonna vom Mars» («Madonna di Marte») mit Pink. Durch die Einbeziehung von Gold verlässt Marisa Merz den Rahmen «armer» Materialien.
Die Eigenwilligkeit der Künstlerin zeigte sich darin, dass sie ihren Schöpfungen nicht nur häufig keine Titel gab, sondern auch auf Datierung und Signatur verzichtete.
Dass sie so gut wie nichts Privates preisgab, verwunderte schon damals. Heute, im Selfie-Zeitalter, wirkt es regelrecht exotisch.
Künstlerpaar in Kandersteig
Nach der Heirat mit Mario Merz im April 1960 lebte das Künstlerpaar übrigens eine Zeitlang in der Schweiz, zunächst in Kandersteig, dann im Kiental. Die beiden waren eigentlich nur auf Durchreise. Es gefiel den beiden im Berner Oberland aber so gut, dass sie sich für eine Weile dort niederliessen.
«In den Raum hören» – «Ascoltare lo spazio», bis 1. Juni 2025 im Kunstmuseum Bern.
Bildnachweis: Ohne Titel, o. J. Mischtechnik auf Sperrholz, Merz Collection, Foto: Renato Ghiazza © 2025, ProLitteris, Zürich