Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 5 Minuten

RefLab Kunstscout: «Glacier Dreams» von Refik Anadol

Es ist kurz vor zehn, die Tore des Kunsthauses Zürich sind noch geschlossen. Eine Jugendliche mit eigenwilligem Outfit und Gesichtspiercing gibt sich alterstypisch gelangweilt. Wenige Minuten später stehen wir mit grauen Puschen in einem irren Spiegelraum:

Ein kürzlich eröffnetes KI-Kunstwerk des türkisch-amerikanischen Künstlers Refik Anadol: «Glacier Dreams».

Dieses besteht aus angeblich über 100 Millionen Gletscheraufnahmen und ist Teil der Dauerausstellung. Eine KI verrührt und morpht das Material endlos. Die Jugendliche von vorhin wirkt jetzt vollkommen verzückt. Sie trinkt die Bilder förmlich mit ihren Augen – und flüstert immer wieder:

«Ah, ist das schön!»

«Glacier Dreams» © Refik Anadol/Kunsthaus Zürich

Coole Räume

Anadols Spezialität sind immersive Räume.

Immersiv meint: Du tauchst mit mehreren Sinnen intensiv in ein meist technisch generiertes Werk ein.

Über wandfüllende Screens jagt ein Wasserfall aus Naturbildern. Die Sound-Bild-Verbindung lässt an Partyuntermalungen im Stil von Progressive Psytrance denken. Zwischendurch rollen farbige Pixelbällen über die Wände.

Ein bisschen wie Ikea-Bälleparadies.

Von der ersten Sekunde an zücken Besucher:innen ihre Smartphones. Anadols Kunst ist ausgesprochen Smartphone- und Social-Media-kompatibel.

Wir blicken auf die technisch generierte Kunst beinahe instinktiv technisch: durch das Kamera-Auge.

Ein Beleg dafür, wie sehr digitale Technologie unsere Wahrnehmung verändert, auch den Blick auf uns selbst. Wir filmen, wie wir scheinbar ins Bodenlose stürzen, über Schmelzwasser surfen oder in Schaum versinken. Oder wie wir untermalt von Musik in betörende Naturpanoramen eintauchen.

Streckenweise kommt Andachtsstimmung auf, ähnlich wie in einem anderen immersiven Raum im Kunsthaus Zürich: Pipilotti Rists «Pixelwald Turicum» (hierzu gibt es einen RefLab-Kunstvlog).

Kühler Duft

Sogar ein eigens kreiertes Parfum lässt der Künstler verströmen: Duftnote gefrorenes Wasser.

Im Titel «Glacier Dreams» ist das Motiv des Träumens angesprochen.

Was aber ist es, das hier träumt oder deliriert? Sicherlich nicht der Künstler. Dieser hat bewusst die Regie an eine halluzinierende KI delegiert. Sie fischt ihr Material aus dem Internet und aus Spezialarchiven.

Die Voraussetzung für Träumen wäre Bewusstsein.

Technikexperten sind nach wie vor äusserst skeptisch, was die Erlangung von Bewusstsein durch Maschinen anlangt.

KI als Künstler

Allerdings ist das automatische Wiederholen und Variieren bestehender Bilder ein Charakteristikum, das die Philosophie und Psychologie dem menschlichen Unbewussten zuschreibt.

Und genau das wilde Assoziieren und Delirieren kriegt auch KI prima hin.

Ästhetische Qualitäten wird man dem Pixelgletscher also kaum absprechen können, etwa Momente der Überwältigung durch das Erhabene. Die neuzeitliche Ästhetik unterscheidet das mathematisch Erhabene vom dynamisch Erhabenen.

Beim mathematisch Erhabenen übersteigt der Anblick von etwas Riesigem, etwa einem Berg, das menschliche Fassungsvermögen. Das dynamisch Erhabene flösst Furcht ein und fasziniert gleichzeitig: ein sturmgepeitschter Ozean oder ein Wasserfall.

Beim KI-Gletscher verschmelzen beide Qualitäten zum technisch Erhabenen.

Furchteinflössend ist hier vor allem der Gedanke, KI könne uns Menschen (kreative Genies eingeschlossen) in immer mehr Bereichen ersetzen.

Darling der Tech-Konzerne

Die im Beipacktext des Museums versprochene Sensibilisierung für das Drama der Klimaüberhitzung und globalen Gletscherschmelze will sich allerdings nicht so recht einstellen.

Man ist zu überwältigt und fasziniert von den spektakulär schönen Bildern, um Ökotrauer zu fühlen.

Vor allem aber: Energieaufwendige KI, die dem Werk zugrunde liegt, trägt ja zur Überlastung des Klimas mit bei. Auffallend ist die Förderung von Anadols Kunst durch die Hightech-Branche und Banken, die Aktien an Tech-Unternehmen vermarkten. Auch der Raum im Kunsthaus Zürich verdankt sich einer solchen Bank.

Bereits dreimal war der Künstler beim Weltwirtschaftsforum WEF in Davos präsent.

Teurer Bildschirmschoner

Die Kunstkritik reagiert unterkühlt auf Anadols KI-Magie. Das St. Galler Tagblatt bezeichnet «Glacier Dreams» als «dürftige Eisdiele», die Millionen koste. Das Kunstmagazin «Monopol» fragt besorgt:

«Fallen Museen auf Refik Anadol herein?».

Jerry Saltz, der Papst der zeitgenössischen Kunstkritik, lieferte sich mit Anadol anlässlich seiner Präsentation 2023 im MoMA in New York einen Schlagaustausch.

Der Kritiker ärgerte sich über «kurzweilige Gimmik-Kunst», spannend wie ein Bildschirmschoner oder eine Lavalampe.

Der Künstler gab auf X zurück: Schlechte Reviews seien nichts weiter als «Datensammlungen» und ChatGPT schreibe besser als Saltz.

Green Washing

Die deutsche Klimaschutzaktivistin und Publizistin Luisa Neubauer ärgert sich über Green Washing und befragte jetzt anlässlich der Präsentation von «Glacier Dreams» in Zürich eine KI.

Die KI würdigt die «technische Meisterleistung» und «hypnotischen» Effekte von Anadols Werken. Der Klimawandel aber werde von ihm zum blossen Spektakel «ästhetisiert».

«Der Klimawandel ist konkret, er ist ungerecht, er ist tödlich.»

Kunst, die diese Dimension nicht einfange, bleibe irrelevant – «und das können wir uns nicht mehr leisten», gibt die KI zu bedenken. Dem ist wohl zuzustimmen.

Refik Anadols Digitalkunst ist tatsächlich beides: zu faszinierend und zu flach.

Unsere Bewertung von «Glacier Dreams» im Kunstscoutometer:

Neues Format: RefLab Kunstscout

Kunst läuft ihrer Zeit voraus – wir heften uns an ihre Fersen! Mit dem RefLab Kunstscout starten wir ein neues Format. Wir schauen uns in Museen und Galerien um und interessieren uns auch für die Ästhetik des Alltags. Wir notieren Gedanken und Gefühle, die die Kunstbetrachtung anregt. Und legen unser Augenmerk auch auf philosophische und religiöse Bezüge. Mit dem Kunsscoutometer haben wir zudem ein Social-Media-kompatibles Tool entwickelt, das unsere Bewertung auf einen Blick erschliesst.

Foto: «Glacier Dreams», Kunsthaus Zürich © Refik Anadol

1 Gedanke zu „RefLab Kunstscout: «Glacier Dreams» von Refik Anadol“

  1. Unbedingt “Atlas der KI” von Kate Crawford lesen! Mir hat die Lektüre sehr geholfen, zB. die Aufregung um Deepseek einzuordnen. KI = unmässiger Energie- und Rohstoffhunger;
    Ausbeutung seltener Erden und v.a. auch – und davon redet niemand – Ausbeutung unzähliger Menschen auf der ganzen Welt, die Computer mit zusammengestohlenen und zusammenerschlichenen Daten füttern müssen. So viel Energie wozu? Und das in einem Haus, das an immer mehr Stellen brennt.

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