Wir waren in den Gelben Bergen in China, im Huangshan-Gebirge. Von Shanghai oder Hangzhou aus ist die Gegend mit dem Auto oder Hochgeschwindigkeitszug bequem erreichbar.
Die Gelben Berge sind ein berühmtes Ausflugsziel. Mit ihren malerischen Kiefern und bizarren Felsformationen, darunter der Jadeschirm-Turm, haben sie über Jahrhunderte hinweg Künstler inspiriert. Durch Nebel und Wolken verwandelt sich die Landschaft immer wieder unvorhersehbar.
Begegnung mit Huangshan-Affen
In den Gelben Bergen leben auch Affen. Die Gegend ist Schutzgebiet für die dort ansässigen kurzschwänzigen Huangshan-Affen, eine Makaken-Art mit goldbraunem Fell.
Wir wurden auf den befestigen Wegen von einer riesigen Touristenmenge vorwärts geschoben, ein schier endloser Strom auf betonierten Pfaden. Sogar die Geländer sind aus Beton. In Betonelemente sind Maserungen von Holz eingeritzt, um einen natürlichen Anschein zu erwecken.
Man bewegt sich in der Natur wie in einer künstlichen Umgebung.
Plötzlich tauchte an einer fast senkrecht abfallenden, Schwindel erregenden Steilwand ein Affenclan auf. Eine Grossfamilie. Die Tiere näherten sich mit fliegender Leichtigkeit, hangelten sich wie Akrobaten über Sträucher und Bäume.
Die Affen wirkten fast schwerelos. In ihrem Fell hing etwas von der Weite und Frische der Wildnis.
Ein vorwitziges Männchen sprang auch schon über das Geländer und fischte versiert in Mülltonnen und Taschen, die unvorsichtigerweise unverschlossen waren. Gleichzeitig musterte es uns aufmerksam.
Die menschliche Sphäre und die Wildnis sind in den Gelben Bergen Nachbarn.
Im Fell die Frische der Wildnis
Die Affen bewegen sich versiert in freier Wildbahn wie auch auf befestigten Wegen der Menschen, mit schwerelos wirkenden Körpern. Für Augenblicke scheint Begegnung möglich. Dann verschleiern sich Blicke wieder und eine Distanz wie zwischen Universen wird spürbar.
Mich haben Affen schon immer fasziniert. Ich kenne aber auch Menschen, die sich von ihnen peinlich berührt fühlen. In Zoos erlebte ich überraschend tiefe und auch erschütternde Blickwechsel mit Affen. Bei den wild lebenden Tieren im Huangshan-Gebirge aber begegnete mir etwas anderes:
Die Tiere wirkten viel freier als Menschen – und mindestens gleich selbstbewusst.
Die Affen waren so neugierig auf uns, wie wir auf sie. Sie hatten offenbar Spass daran, andere Leuten zu sehen als die eigenen. Ohne Zweifel hatten wir es bei den felligen Genossen mit Personen und Persönlichkeiten zu tun. Wir begegneten den Waldbewohnern auf Augenhöhe.
Der britische Schriftsteller Robert Macfarlane, ein Protagonist des Nature Writing, [1] schildert in seinem neuen Buch «Karte der Wildnis» ebenfalls eine Begegnung auf Augenhöhe: mit wild lebenden Seehunden.
Ruhige und bestimmte Aufmerksamkeit
Seehunde üben schon lange eine besondere Faszination auf Menschen aus. Sagen und Märchen schildern sie als mysteriöse Geschöpfe, die sich in Menschen verwandeln können.
MacFarlane stellte fest, dass zwei grosse Seehunde ihn und seinen Begleiter aus der Ferne aufmerksam beobachteten.
Nach einer Weile tauchten die Tiere ab, einer der beiden Seehunde aber tauchte knapp vor MacFarlane wieder auf.
«Seine grossen wässrigen Augen hingen sich an meine, und er betrachtete mich mit ruhiger, unbestimmter Aufmerksamkeit. Bestimmt zehn Sekunden starrten wir einander an.»
Dann tauchte das Tier spritzend den Kopf ins Wasser, «als wollte er ihn abspülen, und verschwand.»
Nach dem US-amerikanischen Historiker und Romancier Wallace Stegner ermöglicht die Erfahrung der Wildnis uns Menschen die Selbstwahrnehmung als Teil dieser Umgebung aus Bäumen, Felsen, Wasser und Erdreich. Mit den Resten der Wildnis verschwinden auch Teile von uns selbst.
[1] Nature Writing, englisch für «Schreiben der Natur», ist eine seit einigen Jahren boomende literarische Gattung mit nicht-fiktionalen und fiktionalen Texten. Charakteristisch für das Nature Writing ist der die Natur beobachtende, beschreibende und empfindende Mensch als Subjekt, im Unterschied zum objektiven naturwissenschaftlichen Ansatz.
Über Chancen einer veränderten Koexistenz von Menschen und Tieren denke ich in einem Beitrag für das theologische Feuilleton «feinschwarz» nach:
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