Ich lief schon eine Weile durch den Zoo, vorbei an Käfigen und Volieren. Meine Aufmerksamkeit war vom vielen Schauen bereits etwas matt. Wie von zu viel Fernsehen. Die Gedanken schweiften ab, Tierstimmen und Gerüche holten mich wieder zurück.
Beim Gehege mit einem Panther blieb mein Blick beim Fell des Tieres hängen: ein tiefes Schwarz wie dunkles Puder. Darüber ein edler Glanz und Panther-Musterung, die in Dunkelbraunschattierungen diskret durchschimmerte.
Mein erster Gedanke: Das Fell würde sehr schöne Sofakissen abgeben.
Ein Panther als Sofakissen
Als ich aufblickte, noch in Verwunderung über meine halb vorbewusste Assoziation, stellte ich fest: Das Tier hatte mich die ganze Zeit über angesehen. Es fixierte mich mit einem überraschend tiefen, ernsten Blick. Ich erschrak.
Ich könnte schwören, es war ein schmachtender, verzehrender Blick, je länger, desto abgründiger.
Wenn Blicke verschlingen könnten, wäre ich wohl im Bruchteil einer Sekunde von meinem Gegenüber verschlungen worden.
Das Gehege erschien für ein derart muskulöses Tier zu eng. Die Raubkatze schritt aber nicht trostlos in ihrer Zelle auf und ab wie jener Panther, dem der Dichter Rainer Maria Rilke im Pariser Jardins des Plantes begegnete:
«Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe / so müd geworden, daß er nichts mehr hält. / Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt», schrieb Rilke.
Mein Panther fixierte mich einfach nur aus phosphorgelben Augen.
Zum Fressen gernhaben
Bei uns beiden war Verwertungslogik im Spiel. Ich hatte den Panther noch vor wenigen Minuten in reduzierender Weise als schwarz-samtenes Sofakissen angesehen. Ich schämte mich jetzt ein wenig. Ich schämte mich auch, als Gafferin neben anderen Gaffern vor ihm zu stehen, in einem Setting, wo Tiere Attraktionen und Sonntagnachmittagszeitvertreib sind.
Er dagegen sah mich offenbar als Stück Fleisch an. Zugleich hatte ich aber das Gefühl, er meinte wirklich mich. Im Blick des Panthers lag ein merkwürdiges fleischliches Begehren in Verbindung mit einem seelischen Verlangen nach einer verschlingenden tödlichen Liebe.
Ich blickte mich um. Wieso sieht der Panther ausgerechnet mich so an und nicht auch andere?
Ich wurde mir meiner Wehrlosigkeit bewusst, wie selten zuvor. Die Raubkatze war im beengten Gehege gefangen. Verglichen mit ihr war aber auch ich gefangen: gefesselt in einem schwachen, fluchtunfähigen Körper. Wie eine Papierlaterne oder Pappmaché-Figur hätte mich die Raubkatze augenblicklich zerdrücken können.
Wäre die Schutzscheibe nicht gewesen, hätte ich die Begegnung wohl als schicksalshaft erlebt. Vorausgesetzt, das Tier hätte mir überhaupt die Zeit für eine solche Empfindung gelassen.
Schicksalsbegegnung
Die französische Anthropologin Nastassja Martin beschreibt einen tatsächlichen Zusammenprall mit einem mächtigen Tier und nicht bloss einen Blickwechsel. Bei einer Forschungsreise in Sibirien kreuzte unversehens eine Bärin ihren Weg. Martin überlebte die Begegnung knapp und zog sich unter anderem schwere Gesichtsverletzungen zu.
Der Bär entfernte sich mit einem Teil ihres Kiefers und drei Zähnen.
In ihrem ungewöhnlich beeindruckenden Buch «An das Wilde glauben» beschreibt Martin wie sie danach Schwierigkeiten hatte, sich im Spiegel zu erkennen. Sie war nach dem traumatischen Ereignis nicht mehr die Alte. Sie war aber auch nicht erneuert. Sie steckte in einem Zwischenreich fest. [1]
Die Forscherin hatte den Eindruck, mit dem Bären etwas klären zu müssen, um weitergehen zu können. Bis dahin würde er sie in Gedanken und Träumen heimsuchen.
«Du gehst so weit, dass du ihn in dir fühlst, du spürst ihn, du bist von ihm umschlossen und hältst ihn dir vom Leib», schreibt Martin. «Wenn du stark bist, bändigst du ihn, zähmst du ihn, und eines Tages, wenn du seine Logik verstanden hast, befreist du dich.
Indigene Freunde rieten der jungen Frau: «Du musst dem Bären vergeben.»
Ich war ganz froh, dass zwischen mir und meinem pelzigen Bewunderer eine dicke Panzerglasscheibe lag. Ich konnte mich unversehrt von ihm trennen. Sein Blick geht mir trotzdem nach.
[1] Nastassja Martin ist eine Schülerin des französischen Anthropologen Philippe Descola, der in seinem einflussreich gewordenen Buch «Jenseits von Natur und Kultur» einer Vielfalt von Weltzugängen jenseits strikter Trennungen von Natur/Kultur oder Mensch/Tier nachgeht. Descola und Martin sind Vertreter der Richtung der «New Ontologies», einer Strömung innerhalb der gegenwärtigen Anthropologie.
Weiterrührendes und Vertiefendes
- Über Chancen einer veränderten Koexistenz von Menschen und Tieren denke ich in einem Beitrag für das theologische Feuilleton «feinschwarz» nach: «Sind Tiere auch nur Menschen».
- Zur diesjährigen Schöpfungszeit einige Überlegungen im RefLab-Blog zur biblischen und theologischen Tiervergessenheit: «Aber das haben wir doch auch bei uns!»
Wenn ihr Tiererlebnisse teilen mögt, nutzt die Kommentarspalten oder mailt uns an: contact@reflab.ch.
Bild von katerinavulcova auf Pixabay