Ein Herbstwochenende im Schweizer Nationalpark. Wir sind zu sechst unterwegs, um in den goldenen Lärchen* zu wandern. D., ein pensionierter Badi-Stammgast, hatte sie mir empfohlen.
D. ist ein menschliches Alpenlexikon. Er ist viel gewandert im Leben und kennt zahlreiche Touren, die noch nicht auf einschlägigen Apps zu finden sind. Wenn er seine Sommertage nicht in der Badi verbringt, fährt er in die Berge oder ins Tessin und beschwert sich schelmisch darüber, dass die Fotos durch den wolkenlosen Himmel furchtbar langweilig werden. Ich mache mir dann mentale Notizen und wandere später, meistens mit den heiss begehrten Wolken.
Stapsen im Nieselregen
Die heutige Stimmung würde D. gefallen: Die Lärchen leuchten goldorange zwischen steilen Felshängen und dunkelgrünen Kiefern, während die Wolken tief und grau an den eingeweissten Gipfelspitzen kratzen. Für den Abend ist Regen angesagt.
Im Hotel angekommen erfahren wir, dass sich Rothirsche bei der Brunft beobachten lassen. Obwohl das Bett nach dem deftigen Bündner Abendessen äusserst verlockend erscheint, beschliessen wir, unser Glück zu versuchen. Eingepackt in Zwiebelschichten aus Fleece-, Daunen- und Regenjacke stapsen (eine Mischung aus stapfen und tapsen) wir im Dunkeln den Fluss entlang.
Es nieselt, es ist glitschig und das Dunkel überhaupt nicht einladend.
Theoretisch sollte der besagte Ort 300 Meter vom Hotel entfernt liegen. Nach einer Gehdistanz, die sich länger als die 300 Meter anfühlt, finden wir die Lichtung trotzdem nicht. «Ich glaube, das war ein paar Meter weiter zurück», sagt jemand und wir drehen um. Tatsächlich gelangen wir zu einer Lichtung.
Unheimliche Stille
Die beschriebene Bank, auf der man sitzen könnte, existiert nicht. Wir bleiben dennoch. Machen die Lichter aus, stellen uns hin. Dann, irgendwie klar und doch unerwartet, betritt sie die Waldbühne: diese unheimliche Stille. Einzig die Autos von der Hauptstrasse hinter dem Fluss durchbrechen mit ihren Lichtkegeln zeitweise das Dickicht der Tannen.
Das Wunder, dass sich das menschliche Auge der Dunkelheit anpasst, sobald künstliches Licht verschwindet, fasziniert mich jedes Mal. Die Konturen der Bäume tauchen auf, die Lichtung, der Himmel wird heller. Damit nimmt gleichzeitig die Angst zu. Also nicht irgendeine, meine natürlich. Was, wenn sich zwischen den Bäumen nicht nur Hirsche aufhalten? Was, wenn dort hungrige Wölfe oder Luchse lauern, oder angriffslustige Wildschweine und Braunbären?
Ich atme bewusst ein und aus, nehme Aufregung, Neugier, Unsicherheit, Spannung, Anspannung und Angst wahr.
Es nützt nichts, dass wir zu sechst dastehen. Ich atme in diese Gefühlswellen, erkunde sie. Wegdrücken, habe ich gelernt, macht sie grösser, heftiger und intensiver. Eine Weile fliessen die Gefühle, bis ich spüre: Ich fühle mich gerade unglaublich roh und verletzbar.
Menschliche Spielregeln
Im Alltag spielen wir nach menschlichen Spielregeln: Wir planen und organisieren uns, versuchen, Einfluss auf dieses, unser Leben zu nehmen. Wenn unsere Pläne aufgehen, glauben wir, dass wir stark sind und unser Leben im Griff haben.
In der Wildnis zerfällt das. Es nützt nichts, dass ich gut darin bin, Dinge und mich selbst zu kontrollieren.
Wilde Tiere interessiert es herzlich wenig, dass ich meine Agenda sorgfältig und nach Energielevel plane und trotzdem Raum für Spontanität behalten will. Dass ich zwischen genügend Zeit allein und Zeit mit Freund*innen balanciere. Zwischen Abenteuer und Ruhe oszilliere. Spielerisch und lustvoll Neues ausprobieren und dennoch ambitioniert Ziele erreichen möchte.
Und dabei natürlich versuche, das Tierleid auf dieser Welt zu vermeiden und mich für Klimaschutz, Menschen- und insbesondere Frauenrechte zu engagieren.
Spielregeln der Wildnis
Rothirsche, Luchse, Wildschweine und Wölfe interessieren sich für all das nicht. Hier bin ich in ihrem «Reich». Eines, in dem wir Menschen so ziemlich nichts mehr unter Kontrolle haben, nicht einmal mehr, ob wir nach einer Begegnung mit diesen Tieren weiteratmen.
Geben wir Menschen wilden Tieren deshalb depersonalisierte Namen, die wie Flugnummern klingen oder sprechen vom «Problembär», wenn ein Tier zu unberechenbar wird?
Natürlich arbeite ich nicht als Wildhüterin und möchte mir nicht anmassen, vollumfänglich urteilen zu können, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit Wildtieren aussieht. Was ich viel interessanter finde, ist, wie wir Menschen dazu neigen, alles managen zu wollen. Minutiös wird alles durchstrukturiert und evaluiert, damit es auch ja gelingt, besser wird.
Wilde Tiere entziehen sich dieser Logik. Gleichzeitig fasziniert uns diese Wildheit. Wie kann etwas gelingen, existieren, ohne dass wir Menschen es überwachen und sichern?
Sprechen wir auch deshalb so oft davon, dass wir wieder zurück zur Natur finden müssen?
Selbstwirksamkeit vs. Kontrolle
In diesem Moment auf der Lichtung, in dem sich übrigens nach wie vor kein einziger Rothirsch zeigt, wird mir zum gefühlt 327. Mal bewusst, wie wenig wir Menschen kontrollieren können. Wir bilden uns das gerne ein, besonders in der Schweiz. Wir haben gelernt, dass Systeme Verlässlichkeit schaffen. Drei Minuten S-Bahn-Verspätung lösen erste Krisen und Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der Confoederatio Helvetica aus. Gleichzeitig führt das dazu, dass wir glauben, dass Strukturen die Antwort auf alles sind.
Menschen vertrauen? Dem Leben? Um Gottes Willen!
Wie oft setze ich Selbstwirksamkeit mit Kontrolle gleich? Nichts gegen gesunde Strukturen und Planungen. Doch die Gleichung birgt Gefahren: Selbstwirksamkeit zeigt sich häufig dort, wo Kontrolle aufhört. Wenn wir ins Leben geschmissen werden, Pläne nicht aufgehen, alles anders wird, als wir meinten und sich die Frage stellt, was jetzt daraus werden kann.
Es ist Ausprobieren, Scheitern, Neuversuchen, Verzweifeln, Umdrehen aus Sackgassen, Bereuen, Neuorientieren.
Das: «Ich stehe im dunklen Nieselregen auf einer Wiese und warte, ob Rothirsche auftauchen.» Manchmal geht es auf, manchmal nicht. Oder wie der Theologe Frederick Buechner sagte:
«Here’s life. Beautiful and terrible things are going to happen. Don’t be afraid.»
Auch wenn es viel Mut kostet, gefällt mir diese Poesie des Unberechenbaren. An diesem Abend sind die Rothirsche und auch die Luchse, Braunbären und Wildschweine jedoch im Wald geblieben.
*Lärchen sind die einzigen Nadelbäume, die ihre Nadeln verlieren. Davor verfärben sie sich in den Farben eines Sonnenuntergangs.
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Foto von Annie Spratt auf Unsplash