Habe ich ein spirituelles Verhältnis zu Rehen entwickelt? Wenn ja, dann begann es in den Jahren, als ich anfing, mich ins Schweigen zurückzuziehen. Im Advent, jeweils drei bis vier Tage, auf dem Betberg im Markgräflerland. Bedächtig durch die kahlen Weinberge gehen, bis selbst meine Gedanken zur Ruhe finden. Irgendwann bemerkte ich die Rehe. Und bald hoffte ich, ihnen erneut zu begegnen, sie beobachten und hinter ihnen herschauen zu können.
Springende Sehnsucht
Ich war ihnen dankbar und beneidete sie zugleich. Ihr Anblick machte mir bewusst, wonach ich mich zutiefst sehnte. Vor allem, wenn sie sich in Bewegung setzten und über die Felder sprangen.
So grazil, leicht und doch äusserst kraftvoll möchte ich gerne leben!
Oft blieb ich lange stehen, ganz still. Manchmal bewegten sie sich in meine Richtung und kamen mir nahe.
Da seid ihr ja wieder. Ihr müsste vor mir nicht weglaufen. Ich bin gerne in eurer Nähe.
Ein wenig gewundert hat es mich schon, dass ich mit Tieren zu reden begann.
Scheue Geistesgegenwart
Die Rehe wurden mir zu einem lebendigen Symbol, vielleicht sogar zu einem Medium der Gegenwart Gottes. Heiliger Geist und Reh, das geschah zusammen und passt auch gut zusammen.
Es scheint Bedingungen zu geben, die bei mir eine besondere Begegnung mit Gott begünstigen: Stille, Langsamkeit, Unaufdringlichkeit, Zweckfreiheit, Sehnsucht, Erwartungsbereitschaft.
Aber machen kann ich es nicht. Oft, wenn ich rausging, um vielleicht die Rehe zu Gesicht zu bekommen, kamen sie eben auch nicht.
Tierischer Zufall?
An einem Wintermorgen lag der Betberg im dichten Nebel. Meine Seele auch. Schwere Fragen, keine Antworten in Sicht.
Nur die Ahnung, dass mir keine andere Wahl bleiben würde, als die Fragen zu leben in der Hoffnung, eines fremden Tages in die Antwort hineingelebt zu haben.
Schön fand ich das nicht.
Ich hatte es vermutet, aber als es geschah, war ich überwältigt: Mein Weg führte mich über die Nebeldecke. Ich stand zusammen mit den Gipfeln des Schwarzwaldes und der Vogesen in der Sonne und unter Himmelblau.
Die erhabene Schönheit Gottes fiel derart in mein Bewusstsein, dass ich auf der Stelle hinkniete.
Als ich weitergehen wollte, dachte ich: Bleib noch ein wenig, gleich kommen hier bestimmt Rehe vorbei. Und sie kamen, drei oder vier von ihnen. Zufall? Vielleicht, aber dann ein sehr schöner. Wie eine Art stille Versiegelung meines religiösen Erlebnisses.
Schmerzhafter Wildwechsel
Als am 17. Juli 2023 gegen 02:20 Uhr das Telefon klingelte, taumelte ich jener Nachricht entgegen, die ich in den vorangegangenen Jahren zigmal durchgespielt hatte:
«Ich muss Ihnen leider die traurige Mitteilung machen, dass Ihre Frau heute Morgen verstorben ist.»
Eine Stunde später sassen wir im Auto, um Abschied zu nehmen. Auf dem Weg zum Parkplatz hatte ich zu mir selbst gesagt: Fahr langsam, schalte das Fernlicht manuell, die Automatik funktioniert oft nicht, um diese Zeit ist hier viel Wild unterwegs! Es passierte doch: Ein Rehbock lief mir vors Auto, rutschte die Frontscheibe hoch und wurde zurück auf die Strasse geschleudert.
Ich konnte es nicht fassen. Ausgerechnet jetzt mein erster Wildunfall! Der Rehbock sass auf der Strasse, ich wartete auf die Polizei und aus dem Tal berührte mich ein kühler Hauch. In diesem Moment stand es mir mit kristalliner Klarheit vor Augen:
Der Geist des Lebens ist von ihr gewichen, sie ist tot, und das hier ist die erste Angelegenheit, die du ohne sie regeln musst.
Der Rehbock erhob sich und verschwand im Wald. Ich weiss nicht, wie es ihm weiter erging. Ob er sich von dem Schock erholt hat? Und bis heute frage ich mich, was für eine Begegnung das war.
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2 Gedanken zu „Wildwechsel: Rehe sehen und trauern“
ZartGewaltig! Danke Andreas
Habe den Text hier vor ein paar Tagen gelesen. Die Bilder hängen mir ehrlich gesagt jetzt immer noch nach. Die Intensität des Grenzgebiets ins Wort gefasst. ZartGewaltig trifft es gut…
LG