Eine Welle aus Geröll, Eis und Erde bricht durchs Lötschental, begräbt Bauernhöfe, Ställe, Häuser, Strassen – hinterlässt Trostlosigkeit.
Ich sehe verwackelte Handyaufnahmen und Drohnenbilder vom Bergsturz, schaue sie mehrfach – als müsste mein Blick begreifen, was dem Verstand zu schnell geht.
Rund 9 Millionen Tonnen Fels stürzen am 29.5.2025 vom Kleinen Nesthorn auf den Birchgletscher – so gewaltig, dass der Gletscher ins Rutschen kommt.
Die Menschen und Tiere können zwar rechtzeitig evakuiert werden. Doch die Häuser, die Plätze, das Vertraute – sie liegen unter Schutt.
Das Dorf Blatten wird zum Ort ohne Umrisse, zum Katastrophengebiet.
Ideologisch überlegen?
Ich komme selbst aus einem Bergkanton, bin aber im Tal geboren. Heute wohne ich weit oben an der Südflanke eines Berges, nahe des Gipfels. Hier regnet es seltener, das Klima und die engen Strässchen erinnern ans Tessin.
Es gibt einen winzigen Dorfladen, acht Busverbindungen pro Tag und ein Bergpanorama wie aus einem Heimatfilm.
Früher belächelte ich die Bergler. Ich fühlte mich ihnen – zumindest ideologisch – überlegen. Heute lese ich in Kommentarspalten, dass manche noch immer so denken wie ich damals:
«Der Bergsturz sei zwar tragisch, aber auch logisch in der Konsequenz – so wie «die da» schliesslich den Klimawandel leugneten.»
Vom hohen Fahrradsattel kommen
Aus meiner Stube schaue ich heute auf die Stadt hinunter. Sie wirkt winzig und unbedeutend.
Mein Fahrradsattel ist schon längst tiefer gestellt; ein zu hohes Sitzen ist bei Talabfahrten unangenehm. Und auch meine Bremstechnik musste ich verbessern – bergab, wie auch beim Vorverurteilen.
In den Bergen gibt es mehr als nur Ewiggestriges. Es gibt auch überraschende Perspektiven und zukunftskräftigen Pragmatismus.
Das ist wichtig hier, um an harten Tagen nicht so schnell zu verzweifeln.
Doch wo findet man Hoffnung, wenn da, wo man sucht, nichts mehr als nur noch Unglück ist? Wo liegt die Hoffnung im Lötschental?
In einem Interview sagt ein Betroffener zur Reporterin: «Im Moment ist man einfach sprachlos, orientierungslos, planlos. Man weiss nicht, wie das weitergehen kann.»
Felsen und Steine
Mit dem Fahrrad komme ich jeweils an einem grossen Felsen vorbei, der an der Hauptstrasse steht. Zuoberst auf dem Felsen flattert eine Schweizerfahne, daneben lädt eine verwitterte Holzbank zum Verweilen ein – atemberaubend der Blick ins Tal.
Der Fels ist aus Nagelfuh, ein grobkörniges Sedimentgestein. Es erinnert an Mortadella, diese Brühwurst mit Einlagen: gebrochene Steine, gross und klein, kantig und rund, zusammengepresst und mit kieseligem Bindemittel als Ganzes gebunden.
Man nennt dieses Gestein Konglomerat. Ich mag das Wort –
es erinnert mich an uns Menschen: zusammengepresst durchs Leben, gebrochen und dadurch verbunden, ein Konglomerat der Unterschiedlichkeit.
Gefährdete Gebiete
Mein Haus steht auf solchen Konglomerat-Steinen. Sie wurden in den 1990er Jahren als Schutz gegen Hangrutsch aufeinandergeschichtet.
Der Berg, an dessen Flanke ich wohne, ist aus Schichten gebaut, die bei langem Regen instabil werden. Darin sind wir uns ähnlich, der Berg und ich. Gewisse Menschen und Berge brechen einfach schneller als andere, besonders wenn die Umweltbedingungen immer härter werden. [1]
Der Bergsturz
Der bekannteste Zusammenbruch meines Berges ist der Bergsturz von Goldau am 2. September 1806: Unterhalb des Gnipen brach das Gestein ab.
Innerhalb von drei Minuten raste es tausende Meter ins Tal und brandete hunderte Meter weit an der gegenüberliegenden Rigi empor.
Unter 40 Millionen Kubikmeter Stein wurden die Dörfer Goldau, Röthen und Teile von Buosingen und Lauerz begraben. Die Landbevölkerung verlor alles – 457 Menschen und 323 Tiere starben.
Nur 14 Menschen überlebten. Häuser, Ställe, Bäume, Sträucher, Kapellen und Körper – alles zerschlagen unter der Wucht des Gesteins.
Augenzeugen berichteten:
«Getöse, Krachen und Geprassel erfüllt wie tief brüllender Donner die Luft: Ganze Strecken losgerissenen Erdreichs – Felsenstücke, gross und noch grösser wie Häuser – ganze Reihen Tannenbäume werden aufrecht stehend und schwebend mit mehr als Pfeilesschnelle durch die verdickte Luft hingeschleudert. Umgeschaffen ist die zuvor paradiesische Gegend in hundert und hundert wilde Todeshügel.»
Die Tragödie des Felssturzes ist bis heute sichtbar: Überall im Tal und am Berg liegen riesenhafte, teils häusergrosse Gesteinsbrocken.
Schartige Abbruchstellen mahnen unterhalb des Gipfels. Besorgte Blicke schweifen zum Hang hinauf, wenn der Berg rumpelt und – wie im August 2005 – erneut abbricht.
Schartige Abbruchstellen
Meine Gedanken kehren zurück nach Blatten. Zerstörung ist das eine, Perspektivlosigkeit das andere.
Wo fängt man an, wenn Nichts mehr da ist, dass einen Neuanfang trägt? Wie fängt man an, wenn alles, was man greift, aus Schutt besteht?
Die Katastrophenbilder aus diesem kleinen Tal reihen sich ein in die unaufhörliche Kette aller Schreckensbilder unserer Zeit.
Ausgeliefert?
Das Gefühl, dass es schlimmer geworden ist, lässt sich nicht wegpedalen, nicht schönerglauben, nicht zurechthoffen.
Im Gegensatz zu meiner Fahrrad-Geschwindigkeit lässt sich die immer schneller drehende Spirale aus Weltwucht nicht abbremsen.
Obwohl Bergmonitoring, Fachleute und Behörden in Blatten das Schlimmste verhindern konnten, aufhalten konnten sie die Zerstörung nicht.
Vielleicht trifft es mich deshalb so heftig – weil es niemand wirklich aufhalten kann. Da ist kein Gott, der den Fels stoppt, der Kriege beendet, das Klima heilt.
Erweiterte Perspektiven
Es bleiben nur verwitterte Holzbänke auf Bergsturzfelsen, die Aussicht in die Zukunft versprechen. Wie diese Zukunft aussieht? Niemand weiss es.
Es bleibt nur, unter Geröllbergen und Trümmern erneut und erneut nach Hoffnungsüberbleibsel zu graben. Wie diese Hoffnung aussieht? Meine ist klein und wundgerieben.
Ich radle dennoch gegen meine Angst an, mir hilfts. Am grossen Nagelfluhfelsen im Rank bei der Hauptstrasse vorbeikommend, denke ich, wie hier aus Entsetzlichem wieder Gutes wurde:
Die Menschen im Bergsturzgebiet von Goldau haben nach dieser Jahrhundertkrise [2] wieder von vorne angefangen. Die ganze Schweiz, ja selbst Teile Europas, halfen mit. Diese Hilfe gilt bis heute als Geburtsstunde der schweizerischen Solidarität.
Die Spuren sind dennoch bis heute sichtbar. Alle hier leben damit.
Trotzkräftig zusammenfügen lassen
An jedem Ort, wo Leid herrscht, gibt es auch Menschen, die sich von den äusseren Krafteinflüssen nicht zerschlagen, sondern zusammenpressen lassen – zu einem neuen Ganzen. Zu einem Konglomerat. Zu Solidarität, zu Gemeinschaft.
Sie werden zum Fundament für neue Stabilität, so wie die Steine vom Bergsturz heute das Fundament meines Hauses bilden. Es sind Menschen, die sich nicht in der Zerstörung verlieren.
Es sind, wie Christina Brudereck schreibt – trotzkräftige Menschen. Denn Trotzkraft ist angesichts des Leidens oft die einzige menschliche Alternative.
Ein kleines bisschen Hoffnung
Dank den Bergsturzsteinen vom Rossberg finde ich ein winzigkleinstes bisschen Halt in all dem Chaos. Der Gedanke, dass nie alles gänzlich verloren ist, schwebt wie ein Milan hoch oben mit der Thermik.
Auf Trümmern stehen neue Häuser, an Abbruchstellen blühen Orchideen, auf Schuttbergen entstehen Aussichtspunkte. Hoffnung sitzt auf alten Holzbänken, kauert zwischen Ruinen, überdauert in den Felsspalten.
[1] Der Klimawandel intensiviert vielerorts Naturgefahren in den Bergen und stellt den Alpenraum damit vor besondere Herausforderungen. Das geht aus einer Studie der WSL und ETH Zürich hervor. Durch die Erwärmung des Permafrosts werden Steinschläge, Murgänge und Bergstürze zunehmen. «Dieser Wandel stellt die Gesellschaft im Alpenraum vor grosse Herausforderungen», betonen die Studienleitenden.
[2] Der Bergsturz von Goldau gilt bis heute als eine der grössten Naturkatastrophen der Schweiz.
Mehr zum Bergsturz Goldau z.B. hier: https://www.arth-online.ch/regiotalk-von-teletell-mit-patrick-kaufmann/
Spenden an die Gemeinde Blatten und das Lötschental:
Gemeinde Blatten VS hat ein eigenes Spendenkonto eingerichtet: CH23 8080 8005 0923 3789 4 und falls man nicht-finanzielle Hilfe leisten möchte, kann man sich ebenfalls direkt an die Gemeinde Blatten unter blatten@loetschen.ch wenden.
Weitere Möglichkeiten für Spenden:
Sarah Staub ist Pfarrerin in der evangelisch-methodistischen Kirche Wädenswil und schreibt als instabiles, krummes Berggewächs über theologische Bruchstellen, Um-, Auf- und Abbrüche und die Frage, wo Hoffnung wohnen kann, wenn alles ins Rutschen kommt.