Wenn man in turbulenten Zeiten die Hoffnung zu verlieren droht und Hindernisse unüberwindbar scheinen, sollte man bedenken, dass filigrane Mauersegler 50’000 Kilometer pro Jahr im Flug zurücklegen können und unterwegs Wüstenwinde und donnernde Gewitterwolken Jahr für Jahr meistern.
Eine erstaunliche und wundersame Leistung für kleine Vögel, die nur 30 bis 40 Gramm schwer werden und im Flug sogar schlafen können.
Wie ein Tier fühlen
Der Tierarzt Charles A. Foster liebt diese Vogelart obsessiv, reist um die ganze Welt, um ihre Verhaltensweise und Eigenheit zu erforschen. Der Brite ist vor Jahren bereits als exzentrischer Schriftsteller aufgefallen, unter anderem mit seinem 2016 erschienenen Buch «Der Geschmack von Laub und Erde. Wie ich versuchte, als Tier zu leben».
Darin schlüpfte er in die Rolle von fünf verschiedenen Tierarten: Dachs, Otter, Fuchs, Reh und auch Mauersegler.
Er hauste in einem Bau unter der Erde, schnappte wie ein Otter mit den Zähnen nach Fischen und durchstöberte Mülltonnen auf der Suche nach Nahrung.
GPS: Göttliches Positionierungs-System
Welch faszinierende Energie wirkt in so kleine Wesen und lässt sie zielpunktgenau heimkommen? Welche Technik hilft ihnen bei der Navigation? Die Forscher:innen wissen immer noch nicht, wie sich die Mauersegler orientieren. Nutzen sie Magnetpartikel in ihrem Gehirn oder Schnabel, erkennen sie ihre Heimat anhand des Geruchs oder haben sie Landschaften, Flussverläufe und Sternkonstellationen in ihren Köpfen oder Eingeweiden abgespeichert?
Können sie die Routen instinktiv fühlen?
Ein ungelöstes Mysterium.
Der fliegende Akrobat
Vor einigen Jahren hatte ich eine berührende Begegnung mit einem Mauersegler. Ich bin frühmorgens in unserer Ferienwohnung in Apulien aufgewacht. Sie lag in Meeresnähe zwischen duftenden Pinien. Als ich von der Terrasse hinausgeblickt habe, war der Himmel bereits in hellblauer Farbe gestrichen. Ich habe meine Badehose angezogen und bin anschliessend barfuss auf dem Sand gelaufen. Zu dieser Tageszeit fühlte er sich noch feucht und angenehm kühl an.
Der Lido in der Nähe war fast verlassen. Es gab nur ein paar Mitarbeiter, die Liegestühle für die Touristen hinstellten und mit einem grossen Gitterrost den Sand nach Abfall durchkämmten. Das Meereswasser fühlte sich im Juni frisch an. Ich bin deshalb ein paar Minuten geschwommen, um mich aufzuwärmen, und habe mich dann auf den Rücken gelegt und den wolkenlosen Himmel betrachtet. In habe dabei die Hände hinter den Kopf gelegt und tief ein- und ausgeatmet. Weil meine Ohren teilweise unter Wasser waren, fühlte ich mich wie in gurgelnde Watte eingebettet.
Ein Geschenk
Plötzlich habe ich aus dem Augenwinkel einen dunklen Schatten gesehen und mit Erstaunen festgestellt, dass ein Mauersegler akrobatisch und in schnellen Wendungen über mich flog, als würde er etwas in der Luft hinkritzeln. Wahrscheinlich war er auf der Suche nach Insekten. Er tänzelte und berührte das Wasser fast im Sturzflug, um dann wieder an Höhe zu gewinnen.
Augenblicklich war ich sorgenlos und glücklich. Es war so, als hätte mir dieses winzige Lebewesen ungewollt ein Geschenk überreicht.
Und dann habe ich mir vorgestellt, wie der Mauersegler auf seiner langen Reise einen Schweif aus Glück und Bewunderung hinterlassen hat. In Tunis sind Kinder vielleicht dem gleichen Vogel glücklich hinterhergerannt, in Nairobi hat eine ältere Frau wegen seinem akrobatischen Flug ihren Kopf nach oben gestreckt und erstaunt die Schönheit des Himmels betrachtet. Ähnliche Empfindungen haben unter Umständen Touristen in der Alhambra gehabt, als sie den schwarzen tanzenden Punkt von einem Tor der Stadtburg aus betrachtet haben. Ich jedenfalls wurde im Wasser vom Frieden übermannt.
Absichtslos
Um Missverständnisse vorzubeugen: Ich weiss, dass Mauersegler für sich da sind, sie müssen nichts für die Menschen leisten. Und trotzdem teilen sie uns auf poetischer Weise mit:
Schaut her und vergesst dabei nicht die Schönheit des Himmels!
Ihr könnt getrost eure Sorgen fallen lassen, wenn vielleicht auch nur für kurze Augenblicke. Denn dort, wo wir fliegen, ruft jeweils auch der Sommer.
Wenn ein zerbrechlicher Mauersegler die Liebe und Gelassenheit in einem Herzen hinterlegen kann, dann können die Menschen es mit Sicherheit auch tun. Manchmal stelle ich mir vor, wie Ideen, Träumen und gute Absichten wie Flugrouten zwischen Menschenherzen gespannt werden. Auch die Zuversicht kann sich wie ein Flugnetz über den Globus entfalten. Manchmal benötigen wir nur 30 Gramm eines Mauerseglers am Himmel, um glücklich zu sein.
Die Lektüre des folgenden Buches hat mich zum Blogbeitrag inspiriert und liefert dabei die untenstehenden Informationen: Charles Foster: «Der Ruf des Sommers: Das erstaunliche Leben der Mauersegler» (4. Auflage, 2024).
Fun Facts:
- In der Vogelfamilie der Segler gibt es 112 Arten, die innerhalb von 18 Gattungen aufgeteilt sind. Der Mauersegler (Apus apus) ist nur eine Art davon. Der Name leitet sich vom griechischen A pus – ohne Füsse – ab, wegen der normalerweise im Flug nicht sichtbaren Füsse.
- Mauersegler können monatelang fliegen (gemessen wurden auch 11 Monate am Stück) ohne einmal landen zu müssen.
- Man weiss, dass Mauersegler bis zirka 21 Jahre alt werden, täglich bis zu 900 Kilometer weit fliegen können und in ihrem Leben eine Flugstrecke absolvieren, die zirka drei Reisen zum Mond entsprechen. Dabei nehmen sie nicht immer den kürzesten Weg (also die Luftlinie), sondern passen ihre Routen dem Nahrungsvorkommen und dem Wetter an. Eine durchschnittliche Reise von 69 Tagen setzt sich aus 30 Reisetagen und 39 Tagen Zwischenstopps zusammen.
- 20 Tage, nachdem ein Ei gelegt wird, schlüpft das erste Küken. 24 Stunden später folgt das zweite und nach weiteren 24 Stunden das dritte. Von den viertgeschlüpften Nestlingen überlebt keines. Die Küken essen eine Menge von Insekten pro Tag, die zirka 2/3 ihres Körpergewichts entspricht.