Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 6 Minuten

Frühlingshoffnung 

Hier oben auf dem Berg, wo ich wohne, hält sich der Winter wie ein hartnäckiger Husten. Er lauert in Felsritzen und den steilen Fichtenwäldern und droht dem nahenden Frühling mit der Faust. Ich gewöhne mich wohl nie an späten Frost und Schneeregen im März.

Doch wenn die Luft nach dunkler, saftiger Erde zu riechen beginnt, vereinzelt Schlüsselblumen und Märzenbecher aus dem Wiesengras spienzeln, der letzte Schnee sich mürrisch auf die höchsten Gipfel verzieht, kommt sie bei mir auf:

Frühlingshoffnung.

In der Dunkelheit

Dieses Jahr ist sie besonders deutlich, denn ich bin lange wie ein vertrockneter, lebloser Sämling in der dunklen Erde gesessen und habe die beinahe endlos dauernde Winterdunkelheit beweint, die sich in mir ausgebreitet hat.

Ich habe nicht damit gerechnet, dass meine Tränen kleine Hoffnungszwiebeln bewässerten und sie zum Keimen brachten. Jetzt durchbrechen sie unverbesserlich-vorwitzig die Oberfläche. Es will in mir neu geboren, die Depression besiegt, dem Winter mit lebensfrohem Grinsen zurück gewunken werden.

Keine Nacht wie die andere

Eine Depression zu haben ist nichts, was man sich aussucht. Es passiert einfach, so wie wenn man am Abend das Licht ausschaltet und auf einmal alles schwarz wird.

Erst mit der Zeit haben sich meine Augen an die Schwärze gewöhnt. Erst mit der Zeit habe ich realisiert, dass die Finsternis viele Schattierungen hat. Keine Nacht ist wie die andere.

Meine Depression hat sich nicht so angefühlt, wie ich es von anderen kannte. Darum habe ich lange gewartet, bis ich mir Hilfe gesucht habe.

Ich habe es erst gecheckt, als es schon fast zu spät war.

Später habe ich mir immer wieder die Frage gestellt, wieso gerade ich depressiv geworden bin – ich, die Frohnatur, ich, das Stehauf-Menschchen, ich, mit einem ganzen Tank voll Resilienz.

Auf der Suche nach Antworten

Die scheinbar offensichtlichste Antwort liegt wie ein zerknülltes Papiertaschentuch am Wegesrand: Ich bin auf der Suche nach der Ursache meines miserablen Gesundheitszustands durch tiefe Gefühlswildwasser gewatet.

Hunderte von Arztbesuchen, Abklärungen und Untersuchungen. Ich habe unfassbar viel Medical Gaslighting erlebt. Ich habe mit der überraschenden Diagnose «genetische Bindegewebserkrankung» Schock und Erleichterung zugleich erfahren. All das hat mich auch psychisch krank gemacht. [1]

Den subtileren Mit-Grund für meine Depression jedoch realisierte ich erst später: Ich scheiterte an der grossen Theodizeefrage, der Frage, wieso Gott Leid zulässt. Ich dachte, ich hätte sie für mich schon längst dekonstruiert und später rekonstruiert. Ich lag falsch.

Einmal mehr: Warum lässt Gott das zu?!

Manuel Schmid und Stephan Jütte haben in einer älteren Folge des Podcast «Ausgeglaubt» die Frage besprochen, ob Gott mit unserem Leben konkrete Ziele verfolgt, indem er uns in ganz bestimmter Hinsicht geschaffen hat.

Diese Frage habe ich mir in meinem Leben oft gestellt. Vor allem dann, als die Schmerzen zunahmen, und später erneut, als ich diagnostiziert wurde.

Die Annahme, Sünde sei der Ursprung meiner Krankheit, teilte ich damals schon längst nicht mehr.

Aber die Frage blieb: Warum bin ich so, wie ich bin?

Dies ist auch eine zentrale Frage in der «Dis/ability Theology». Eine mögliche Antwort darin ist, dass Behinderung und Krankheit einfach Schöpfungsvarianten darstellen, so wie es Tag und Nacht und alles dazwischen gibt.

Keine Marionette Gottes

Doch dass ich von Gott mit Gendefekt geschaffen und genau so gewollt sei, befriedigt mich nicht, denn das erspart mir das Leiden nicht. Sollte ein liebender Schöpfer bewusst in Kauf nehmen, Teile seiner Schöpfung aus Gründen stärker zu beladen als andere, müsste man das «liebend» streichen und mit «berechnend» ersetzen. Denn;

Ich will durch meine Mehrbelastung weder eine besondere Aufgabe erfüllen noch soll sich Gott durch mein Leiden verherrlichen. Es ist nur bedingt tröstlich, dass Gott selbst leidet und sich so mit mir solidarisiert. Und dass mein Leid die Konsequenz menschlicher Selbstbestimmung sein oder sich Gott im Angesicht meiner Schmerzen ohnmächtig fühlen soll, ist für mich mehr Hohn als Trost.

Ich will keine Marionette Gottes sein, festgelegt und hineingezwängt in diesen Schmerzkörper. Ich will frei sein.

Der Frühling kommt trotzdem

Dass der Frühling nun nicht nur draussen in der Natur, sondern auch in mir drin anbricht, hat nichts damit zu tun, dass ich endlich eine Antwort auf die Frage gefunden hätte. Die Dis/ability Theology gibt keine Lösungen, nur Ansätze, und auch Manu und Stephan konnten mit ihrem Podcast nur ansatzweise helfen.

Es hat scheinbar von ganz allein angefangen in mir zu keimen und zu spriessen – unterstützt von Therapie, Medikamenten und Zeit. Aber ich glaube, es hat auch viel damit zu tun, dass ich mich und meine Krankheit besser akzeptieren kann – auch die Tatsache, dass sich daran nichts ändern lässt.

Ich habe mich damit arrangiert oder arrangieren müssen. Ich habe gelernt, besser damit klarzukommen.

Einfach da

Als ich gestern im Therapiebad meine Bahnen schwamm und erneut über all das nachdachte, erinnerte ich mich daran, was Gott Mose, dem behinderten Erzvater, antwortete:

«Ich bin da, weil ich da bin!» Ex 3,14

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Winter vergeht, der Frühling beginnt. Die Sonne löst den Regen ab, der Sturm die Sonne. Die Schlüsselblumen und Märzenbecher durchwandern einen ganzen Winter lang das dunkle Erdreich und kämpfen sich dann durchs Dunkle ans Licht.

Es gibt keine Antwort darauf, woher oder zu welchem Zweck es dieses Leben, diese Welt, geschweige denn meine Krankheit gibt. Nur ein simples: Es ist da, weil es da ist.

Wenn selbst Gott keinen Grund für seine Existenz nennt, dann ist das doch eigentlich alles, was ich wissen muss.

Ich bin da, weil ich da bin, ich bin so, weil ich so bin.

Weil jetzt Zeit dafür ist

Keine verschleierten Zwecke, kein manipuliertes Wesen, kein geheimnisumwölktes Mysterium – ich darf einfach sein, ohne mich mit Fragen nach dem Warum verrückt zu machen.

Gott verfolgt mit mir weder ein spezielles Ziel, dass mich unter Druck setzt, noch hat er mich mit Schmerzen beladen, um mich oder andere etwas zu lehren. Ich bin einfach.

Der Frühling kommt, weil es jetzt Zeit dafür ist.

Es ist jetzt Zeit für meine Auferweckung.

In den Gartenbeeten des alten Schindelhauses in der steilen Kurve bei der Kirche wächst eine Kompanie Narzissen stramm in den Himmel, später werden sie von Dahlien, Gladiolen, Stangenbohnen oder Salatköpfen abgelöst, so genau weiss ich das nicht.

Sie wachsen, weil sie irgendwann einmal gepflanzt wurden und es ein paar biologische Faktoren gibt, die das Wachstum begünstigen. Aber ansonsten wachsen sie einfach. Das ist seltsam tröstlich.

Wie die Vögel, die voller Sommervorfreude durch die Lüfte schiessen und die Kühe übermütig auf die saftigen Wiesen springen, gebe ich mich dem neuen Frühling hin.

Keine Fragen mehr.

Ich lebe mich, mal einfacher, mal beschwerlicher, einfach erneut in dieses Leben hinein.

 

[1] Die deutsche Depressionshilfe schreibt auf ihrer Website, dass an einer Depression zu erkranken auf unzählige psychosoziale und körperliche Faktoren zurückgeführt werden kann.

Foto: Tabitha Turner auf Unsplash

2 Kommentare zu „Frühlingshoffnung “

  1. Hallo Sarah,
    Gute Gedanken: Ist alles irgendwie vorbestimmt oder schaut Gott nur vom Spielfeldrand aus zu? Können wir Gott dabei zum Eingreifen oder zumindest zu einem „Zuruf“ bringen per Gebet (oder wie-auch-immer)? Oder leidet Gott nur mit oder freut sich oder amüsiert sich oder ist das am Ende viel zu „kleinlich“ gedacht…
    Dann bleibt einfach nur das „sein“ ohne ein größeres Ziel, Bestimmung, Berufung oder Sinn im Leben. Mir fällt das schwer (vielleicht auch vielen anderen die Gott nach Richtung, Weisung oder Wegen fragen), dass es am Ende „egal“ ist wie oder was ich lebe (ich weiß, dass das auch befreiend sein könnte)…
    Viele Grüße Det

    1. Lieber Det,

      Ich denke, für mich in meinem Lebensmoment gerade brauche ich dieses „einfach Sein“. Ich könnte mir aber vorstellen, dass die Antwort auf die Frage nach dem Warum veränderlich ist – je nach Lebensabschnitt und -umstand, sozusagen. Und das es für jeden Menschen anders aussehen darf. Das wäre jedenfalls meine Hoffnung.
      Liebe Grüsse Sarah

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