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 Lesedauer: 7 Minuten

Der behinderte Gott

Sprachliche Vorbemerkung: Ich spreche von mir als «behinderter Person», wenn ich mich in einem Kontext v. a. mit meiner Behinderung identifiziere («Identity-First»-Sprache). Wenn die Person im Vordergrund steht, spreche ich von «Menschen mit Behinderung» («Person-First»-Sprache). Ich nutze in meinen Texten beide Formulierungen. 

Stell dir Jesus vor – aber behindert

Ein Gedankenexperiment: Stell dir Jesus vor – mit Spastiken, einer Sehbehinderung, einem Stoma, Multipler Sklerose, mit einem Sauerstoffgerät.

Gott ist in Jesus als hilfloser, unselbstständiger und schwacher Säugling zur Welt gekommen, darum das Gedankenexperiment «Jesus als Mensch mit Behinderung» gar nicht so abwegig.

Dennoch grenzt es für manche Menschen an Blasphemie, wie der Theologe Frank Mathwig schreibt:

«Das Bild eines Jesus, dem Speichel aus dem Mund läuft, der Grimassen schneidet, dessen Körper unkoordiniert zuckt, der stockend, verzerrt mit gurgelnden Lauten, kaum verständlich spricht – den gibt es nicht. Und gäbe es diese Vorstellung, würde sie als Blasphemie bekämpft.»

Mathwig schreibt weiter: «Das Problem besteht nicht darin, dass es diesen Jesus nicht geben kann – immerhin ist im Neuen Testament nur allgemein vom Menschen Jesus die Rede –, sondern, dass es ihn nicht geben darf.» [1]

Ich finde es wichtig, herauszufinden, wieso ein solcher Gedanke Widerstand oder Unbehagen auslöst und woher diese Gefühle kommen. Oftmals verraten sie doch mehr über meine innere Haltung, als mir vielleicht bewusst ist.

Theologie der Behinderung

Der behinderte Christus ist kein neuer Gedanke – durch die Kirchengeschichte hinweg gibt es immer wieder kleine Indizien dafür, dass sich Menschen darauf eingelassen und sich damit auseinandergesetzt haben.

Etwa der Maler Andrea Mantegna (1431-1506), der in einigen seiner Gemälde das Jesuskind mit den charakteristischen Merkmalen der Trisomie 21 darstellte. (Bild: Madonna mit Kind, 1460)

Den Ausdruck des «behinderten Gottes» aus der sogenannten «Dis/ability Theology» (oder auf Deutsch: «Theologie der Behinderung») geht auf eine Schrift von Nancy L. Eiesland (1964–2009) zurück [2].

Eiesland war eine amerikanische Theologin, die mit einer Knochenkrankheit zur Welt kam. Sie kritisiert die typisch christlichen Antworten auf ihre Behinderung. Etwa, sie sei in Gottes Augen etwas ganz besonderes und deswegen so schmerzhaft behindert.

Oder: Im Himmel müsse sie sich keine Sorgen mehr machen, weil sie dann vollkommen sei. In diesem Fall, so schreibt die Theologin, könne sie sich selbst nicht mehr wiedererkennen, und vielleicht könne das auch Gott dann nicht mehr.

Eiesland sagt: «Meine Behinderung ist es, die mich gelehrt hat, wer ich bin und wer Gott ist.»

Der Titel ihres Buches «The Disabled God» fasst bereits zusammen, was Eieslands zentrale Botschaft ist: Der Gott des Christentums ist nicht ein vollkommener und autonomer Gott, sondern ein behinderter.

Wunden und Narben

Die Zweifel behinderter Menschen, ob Gott wirklich bei ihnen ist, sich um sie sorgt und ihre Erfahrungen teilt, bringt Eiesland mit einer Anekdote auf den Punkt.

Während einer Bibelstunde in einer Rehabilitationsklinik sagt ein junger Mann: «Wenn Gott in einem mundgesteuerten Rollstuhl sässe, dann würde er uns vielleicht verstehen.»

Kurz nach dieser Bibelstunde liest sie in der Bibel im Lukasevangelium 24,36-39, wo der auferstandene Jesus seinen Jünger:innen begegnet:

«Während sie noch darüber redeten, trat Jesus selbst in ihre Mitte […] Sie erschraken und hatten grosse Angst, denn sie meinten, einen Geist zu sehen. Da sagte er zu ihnen: Was seid ihr so bestürzt? Warum lasst ihr in eurem Herzen solche Zweifel aufkommen? Seht meine Hände und meine Füsse an: Ich bin es selbst. Fasst mich doch an, und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht.»

Welche Erkenntnisse sie aus diesen Versen zieht, sowie eigene Erfahrungen aus der Reha verarbeitet Eiesland in ihrem Buch «The Disabled God».

Der auferstandene, verwundete, behinderte Gott

Ich fasse die Kerngedanken wie folgt zusammen:

Da steht also dieser auferstandene Christus und bezeugt damit körperlich, dass Gott mit uns ist, genauso wie wir verkörpert sind: mit gezeichneten Körpern und Psychen, mit Narben, Wunden und Schmerzmalen.

Damit bestätigt Jesus, dass alle menschliche Bedingtheit, dass alles menschliche Leben mit seinen Hürden und Verletzungen in Gott einbezogen ist, auch behindertes und krankes Leben.

Indem Jesus seinen Jünger*innen seine beeinträchtigten Hände und Füsse zeigt, offenbart er sich als behinderter Gott. Der Anblick seiner Wunden schenkt seinen Gefährt*innen, und damit letztlich auch uns, die Möglichkeit, unsere Verbundenheit mit Gott in unserer eigenen Verletzlichkeit zu erkennen. Jesus, der auferstandene, verwundete, behinderte Gott.

Dieses Symbol eröffnet Menschen mit Behinderung und Krankheiten die Möglichkeit, sich mit Gott zu identifizieren und sich mit der Kirche und auch mit sich selbst zu versöhnen.

Jesus war ganz Gott und ganz Mensch – inklusive Beeinträchtigungen

Der behinderte Gott wird auch zum Offenbarungsschenker einer neuen Mitmenschlichkeit: Er ist nicht nur «wahrer Gott», sondern eben auch «wahrer Mensch». Unterstrichen wird damit der Fakt, dass das volle Menschsein die Erfahrung von Behinderung und Krankheit mit einschliesst.

Die «Dis/ability Theology» hinterfragt die vorherrschenden und scheinbar selbstverständlichen Einschätzungen zu Behinderung und Krankheit. Zum Beispiel die Vorstellung, dass Behinderung die Lebensqualität und damit den Wert eines betroffenen Lebens reduziere.

Oder dass Krankheit und Behinderung auf Sünde zurückzuführen sei.

Bibelstellen wie z. B. Johannes 5,14: «Später traf Jesus den Mann im Tempel und sagte zu ihm: Du bist gesund geworden! Lade keine Schuld mehr auf dich, damit dir nichts Schlimmeres geschieht.» können so interpretiert werden. (Später, in Johannes 9,3, dementiert Jesus den Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit.)

Auch die beiden Grundmotive des «tugendhaften Leidens» (jemand erträgt Krankheit, um zu bezeugen, wie Gott Kraft dazu gibt) oder der «ausgrenzenden Wohltätigkeit» («wir spenden für die armen, blinden Kinder in Afrika)» werden von der «Dis/ability Theology» kritisiert.

Theologie der Behinderung will die biblischen Texte und Interpretationen kritisch hinterfragen, einordnen und neu oder anders denken.

Sie geht von einem Menschenbild aus, das nicht die Perfektion, sondern die Angewiesenheit und die Zerbrechlichkeit des Menschen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Dies, ohne dabei die Fähigkeit und Befähigung («ability») der Einzelnen aus den Augen zu verlieren. Die optische Markierung: «Dis/ability» soll dies versinnbildlichen.

Jesus Christus ist in dieser Lesart kein bedauernswerter, leidender Knecht Gottes, sondern schlicht ein Überlebender; «mitleidlos und unverblümt», wie Eiesland schreibt. Oder wie ich mich gerne selbst beschreibe: alltagspragmatisch.

Diese Perspektive schenkt behinderten wie gesunden Menschen die Möglichkeit, sich ganz neu mit einem Gottesbild zu beschäftigen, dass unserer Menschlichkeit viel eher entspricht – einer ganzheitlichen Menschlichkeit.

Ein neues Verständnis von Ganzheit

«Marginalisierte Gruppen brauchen bestärkende Symbole, in denen sie ihr eigenes Sein wiedererkennen», schreibt der Theologe Werner Schüssler.

Das Bild von Jesus als behinderter Gott bietet ein solches Symbol. Es strahlt nicht nur für behinderte Menschen Kraft aus, sondern auch für die körperlich und seelisch Gesunden. Es begründet ein neues Verständnis von Ganzheit und damit auch eine neue Verkörperung der Gerechtigkeit:

«Diese Offenbarung Gottes bringt die sozial-symbolische Ordnung durcheinander, denn Gott wird sichtbar in den Körpern, in denen man es am wenigsten erwartet.» (Nancy L. Eiesland)

Sarah Staub (Text und Illustration) ist Pfarrerin in der evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz und selbst betroffen von einer multisystemischen Körperbehinderung. Sie veröffentlicht bei RefLab in loser Folge Artikel rund um die Theologie der Behinderung und ihre eigenen Erfahrungen damit. Ihr erster Artikel war «Ich war zu jung für den Schmerz». Auf Instagram postet sie als «die fromme Häretikerin» regelmässig Illustrationen und Texte. 

«Perspektiven»-Sendung von SRF mit Sarah Staub und der Psychotherapeutin Erica Brühlmann-Jecklin: «Was, wenn Jesus mit einer Behinderung zur Welt gekommen wäre?».

[1] Frank Mathwig: Behinderten Seelsorge – oder behindert Seelsorge? Bemerkungen zum theologisch-ethischen Verständnis von Menschen mit Behinderung (2005), PDF hier verfügbar

[2] Nancy Eiesland: Der behinderte Gott. Anstöße zu einer Befreiungstheologie der Behinderung, Echter Verlag (2020).

11 Kommentare zu „Der behinderte Gott“

  1. Ein Gott, der selbst behindert ist, kann keine Hilfe sein. Das ist eigentlich ein so selbstverständlicher Gedankengang, dass er nicht in frage gestellt werden kann. Aber es stimmt, Jesus Christus machte sich eins mit unserer menschlichen Hinfälligkeit, um uns von dieser zu erlösen.
    Leider versuchen wir Menschen uns immer einen Gott zu machen, wie er uns genehm ist. Aber das hilft uns natürlich nicht wirklich weiter. Wir müssen die Realität so annehmen wie sie ist.
    Wenn wir die Lehre von Reinkarnation und Karma in Betracht ziehen (die inzwischen vielseitig verifiziert wurde: https://www.academia.edu/37936734/Genetik_Reinkarnation_Kirche ) , dann ist eines jedes Menschen Erdenleben eine Folge der früheren und damit eines mit Behinderungen und Aufgaben, um zum Guten und Gesunden zu wachsen.
    Ich selbst hatte ein schweres Schicksal. Und nur diese Einsicht ließ mich mit dem Dasein und mit Gott wirklich versöhnen.

  2. Definitiv ein guter Ansatz, um die menschliche und damit verletzliche Seite Gottes stärker zu betonen.
    Für mich bleibt einfach wie immer die Frage im Raum stehen, warum ein Gott, der ums Leiden weiss, dieses nicht beseitigt oder gar nicht erst entstehen lässt. Denn wenn alles, was Gott tut, einen Sinn haben soll, dann ja wohl auch das Leiden, und schon sind wir wieder beim „Prüfen, Bessern, Gottes Macht und Beistand bezeugen“.
    Neues Verständnis von Ganzheit: Ja, das finde ich gut und richtig. Neues Verständnis von Gerechtigkeit: Stellt sich bei mir trotzdem nicht ein.
    Wir wissen einfach nicht, wer oder was genau Gott ist und suchen uns zusammen, was Gott sein soll. Für mich ist nur wesentlich, dass wir einander freundlich und hilfreich behandeln und einander beistehen, und nicht Menschen mit welcher Behinderung auch immer ausgrenzen oder ihnen etwas zusprechen, worüber wir gar nichts wissen können.
    Angewiesen sind wir primär aufeinander; ob da tatsächlich ein Gott hinter der Person steht, die beispielsweise den Rollstuhl schiebt, ist reine Spekulation. Und in dieser Spekulation soll, muss, darf selbstverständlich auch ein verletzter, kranker, behinderter, zorniger Jesus denkbar und akzeptabel sein.

    1. Das Leiden erzeugt der Mensch selbst und deshalb kann nur er es beseitigen. Leiden entsteht durch Unwissenheit oder durch die Leidenschaften und Bosheit. Deshalb ist die Erkenntnis der Wahrheit so wichtig, die im wesentlichen darin besteht, dass wir qualitativ Gott gleich, nämlich ebenso ewig, sind. Das Ewige ist unverletzlich. Wenn das uns er Bewusstsein voll bestimmen wird, wird es kein Leid mehr geben. Wie man zur erlösenden Wahrheit findet: https://manfredreichelt.wordpress.com/

  3. Was für ein bereicherndes Gedankenexperiment, Jesus mein Bruder und Herr geprägt durch eine Schwerstbehinderung. Mein innerer Widerstand dabei sagt wirklich ganz viel über mich aus. Kann mich ein Bruder mit Behinderung, so begleiten, wie meine bedürftige Seele es braucht? Kann ein Herr mit Behinderung mich so allmächtig leiten, wie meine Sehnsucht nach einem sicheren Kompass es verlangt. Warum soll das eigendlich nicht gehen? – eine Frage auf die ich keine Antwort finde oder haben möchte.
    Ich bedanke mich für diesen theologischen Beitrag, der meinen Tellerrand erweitert.
    Gott, in welcher Gestalt auch immer,segne AutorInnen und Lesende.

  4. Vielen Dank für diesen wertvollen Beitrag, den ich selbst sehr ähnlich verfasst hätte bzw. habe (https://www.lit-verlag.de/isbn/978-3-643-80251-4). Das Buch von Nancy Eiesland (ihre Masterarbeit) wurde übrigens Deutsch übersetzt: Eiesland, Nancy L. 2018. Der behinderte Gott: Anstöße zu einer Befreiungstheologie der Behinderung. Übersetzt von Werner Schüssler. Würzburg: Echter, https://www.echter.de/der-behinderte-gott/.

    http://www.institutinklusiv.ch http://www.oliver-merz.ch

  5. Warum wollen wir Jesus anders haben, als er uns in den Evangelien der Bibel geschildert ist? Ist es der alte Trend, Gott nach dem eigenen „Bild“, nach den eigenen Vorstellungen als Götzenbild zu schaffen. „Du sollst dir kein Gottesbild machen, keinerlei Abbild…,“ lesen wir in Exodus 20,4 (Zürcher Bibel). Und im Jesaja-Text Kp. 42 ist uns eines Propheten Schilderung überliefert, die auf Jesus gedeutet wurde. Das – mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen – anzunehmen, ist uns zu unserm Heil gegeben. (und http://www.christliche-gebete)

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