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 Lesedauer: 5 Minuten

Das Christentum steht jetzt in der Ecke

Ich musste als Schülerin tatsächlich noch zur Strafe Ecke stehen. Ich glaube, es war nur ein einziges Mal. Dieses eine Mal aber hat sich meiner Seele eingebrannt:

Ich stehe neben der Tür und dem Waschbecken mit dem Gesicht zur Ecke. In meinen Rücken bohren sich die Augenpaare der gesamten Klasse. Einige lachen. Vielleicht über mich? Die Zeit scheint sich zu dehnen. Je länger meine Strafe dauert, desto peinlicher finde ich es.

Ich schäme mich so tief, dass ich mir in meiner Verzweiflung nur noch eines wünsche: Dass sich der Boden unter mir öffnet und mich verschluckt.

Ab in die Ecke!

Wie lange ich Ecke stehen musste, ist mir ebenso entfallen wie der Grund der Strafe. Wahrscheinlich hatte ich während des Unterrichts mit Sitznachbarn geschwatzt. Als ich neulich die Buchhandlung meines Vertrauens betrat, kam mir diese Erinnerung aus meiner Schulzeit. Wer dort einen Eckplatz zugewiesen bekam, ist allerdings kein Schüler, sondern, im Selbstverständnis, ein Lehrer, Lebenslehrer: das Christentum.

Noch vor ein paar Wochen gab es Regale, die mit «Theologie» überschrieben waren. Sie befanden sich in einem Bereich, wo auch und immer noch die Philosophie angesiedelt ist.

Mir war allerdings aufgefallen, dass sich der Theologiebereich zunehmend ausdünnte.

Nun also die Übersiedlung und Umbenennung. Die «Theologie» ist verschwunden respektive ein- oder aufgegangen in ein (einziges!) Regal, das mit «Christentum» beschriftet ist. Neben einigen Bestsellern (Anselm Grün, Niklaus Brantschen) enthält es gängige Bibeln – Einheitsübersetzung. Wir nannten diese im Studium aufgrund der zum Teil flachen Wiedergabe der Urtexte «Einheiz-Übersetzung».

Zwischen Spiritualität und Weltreligionen

Der linke Regalnachbar des Christentums ist die «Spiritualität», der rechte «Weltreligionen». An Spiritualität schliessen an: «Bewusster Leben», wo auch das Räucherstäbchensortiment und die Klangschalen lagern; «Tarot/Karten» («Gut beraten mit Tarot»), noch ein weiteres Regal «Astrologie/Tarot», ein ganzes Regel «Schamanismus», gefolgt von «Heilen» sowie zwei Regale «Esoterik» mit Titeln wie «Soul Master» oder «Meta Human».

Neben den Weltreligionen geht es rechts weiter mit «Meditation», fernöstlich angehaucht, und zum Abschluss ein Regal «Yoga». Auf den Tischen davor sind heilende Steine in Seidensäckchen ausgelegt und Palo Santo, das Wunderholz aus Lateinamerika, gibt es gebrauchsfertig verpackt für kleine Räucherrituale zu Hause.

Der Buchhändler, ein erfahrener Mensch, muss meine stille Verzweiflung bemerkt haben. Für einen Moment verlor ich tatsächlich den Boden unter den Füssen. Der Buchhändler erklärte mir mit der beruhigenden Stimme eines Therapeuten:

«Wissen Sie, die Gesellschaft hat sich verändert. Und auch die Verlage haben ihr Sortiment angepasst. Es erscheinen kaum noch theologische und christliche Bücher.»

Da sei der Verlag Herder in Freiburg und der TVZ in Zürich, erklärte er, «aber das ist es dann auch schon. Derzeit wird der Koran stark nachgefragt. Diesen bestellen wir laufend nach.»

So ist es nun also!, denke ich. Und versuche mich in der neuen Realität zurechtzufinden. Den Algorithmus der Buchhandlung meines Vertrauens, eine sehr grosse und gute Buchhandlung, halte ich tatsächlich für unfehlbar. Was dort auf mehreren Etagen in schön gestalteten Regalen angeboten wird, ist genau das, was die Leute nachfragen, was sie verlangen und wünschen.

Welcome to the Club!

Was der Händler nicht anführte: Das Christentum steckt in einem chronischen Glaubwürdigkeitstief. Skandal häufte sich auf Skandal. Die Unfähigkeit von Kirchen, eigene Sünden zu bekennen oder auch nur zu erkennen, schockierte viele. Dass das Christentum nur noch ein Plätzchen in der Ecke zugewiesen bekommt, zwischen anderen aus dem Club der Religionen und Kulte, ist nicht verwunderlich.

Die Esoterik, ein modernes Phänomen, ist christlicherseits vielfach belächelt worden, wenn nicht rundweg verdammt. Umgekehrt positionierte sich Esoterik in oftmals scharfer Abgrenzung zum Christentum. Man interessierte sich für die Spiritualität der anderen (Kulturen) und dezidiert nicht für die eigene.

Christliche Religion und Spiritualität wurden auf Schuldgeschichte verengt.

Schamanismus ist eine Form von Animismus, Geisterglaube. Animismus ist als anthropologische Klassifikation der Religion anderer als vermeintlich «primitiv» gestartet. Ein kolonialistischer Begriff, der einen Legitimationsrahmen für Abwertung, Geringschätzung, Ausbeutung und christlicherseits für Verteufelung spannte.

Vor dem Hintergrund des Postkolonialismus und des Ökodesasters erfährt Animismus heute eine Rehabilitation: als alternativer Weltzugang, der das Mensch-Natur-Verhältnis anders denkt als die rationalistische Moderne. Der Begriff dient inzwischen als Selbstcharakterisierung indigener Religionen und Philosophien.

Nachts in der Buchhandlung

Nachts in der Buchhandlung, denke ich, findet in der neuen Regalkonstellation ein spannender Austausch zwischen unterschiedlichen Weltzugängen statt. Ich kann mir vorstellen, dass es kulturelle Aushandlungen zwischen Geistern gibt und man sich nachts in der Buchhandlung besser kennen und vielleicht auch verstehen lernt.

Vielleicht geht vom Christentum, wenn es vom hohen Ross heruntersteigt, dann allmählich doch auch wieder Inspiration aus? Ich hoffe es!

Vielleicht schreiben Autor:innen dann wieder inspirierende christliche Bücher, die Menschen in Buchhandlungen nachfragen.

Und dann bekommen wir vielleicht sogar ein zweites Regal!

Foto: Johanna Di Blasi

 

 

 

8 Kommentare zu „Das Christentum steht jetzt in der Ecke“

  1. Ich teile diese Auffassung, liebe Johanna di Blasi, sowohl was die Schamerfahrung angeht als auch die Trauer für was mit der Theologie geschehen ist. Ich kann Nach- und Einfühlen.

    Wenn ich meinem Sohn zuhöre, ist für Glauben in einem – ohne direkte Prägung – Haushalt und Bildungssystem wenig bis kein Platz. Trotz auch schweren Themen. Diese werden in Gesprächen bedient und mit der Zeit in Entwicklung gebracht.

    In einer tiefen persönlichen Krise habe ich die Kirchen als Orte der Stille sehr geschätzt. Ich konnte den Tränen freien Lauf lassen, keine Angst oder Scham war im Raum zu gegen. Diese Essenz holen viele mir bekannte Menschen heute im Osten. Letzteres ist nachvollziehbar, wenn trotz Pflicht-Religionsunterricht in der Geberation X (und teil bis heute) und die Kraft und Essenz von Stille wird nicht gelehrt. Dann kommen östliche Strömungen und unterschiedliche Yoga-Formen, um zu meditieren. Auch in die Schule. In dieser Praxis spielt das Vergrössern oder Fokussieren auf alles was mit Freude als Urgefühl verbunden ist eine größere Rolle als sich dem Unwahren und den schweren Themen zu stellen und sie zu verantworten.

    In der Verarbeitung der besagten Krise mit rund 40 Jahren nahm ich die Bibel hervor und lass sie ganz durch. Sie hat heute soviele Buchzeichen drin, dass ein Aussenstehender das Buch nicht mehr erkennt. Parallel experimentierte ich damals mit den besagten Praktiken. Ein Teil ist geblieben und die Erfahrung mit der Bibel erlaubte mir die Beziehung zur Institution Kirche zu befrieden. Auf was ich weiterhin keine Lust verspürte war, einer Predigt zuzuhören.

    Eine bleibende Essenz, die ich auch in der Bibel in den Gleichnissen fand, war die Auseinandersetzung mit dem Unwahren und dem Unvereinbarten ohne dabei eine kollektive Bewegung über das Gute zu starten, sondern sich dem was in der Psychologie auch als Schatten erwähnt ist, nachzuforschen und Erfahrungen zu machen.

    Hier hat die Kirche in einer konformistisch-gemeinschaftlichen Haltung verharrend (als Gewohnheit) vergessen, dass keine Kraft im Universum – sei sie noch so stark – der Evolution (auch geistig-spirituellen) trotzen kann. Sprich das integrieren der Gleichnissen in immer und stetig erweiternde Wertezusammenhänge und die Bedeutung der Arbeit von Kirche als Organisation ist sehr bedeutend. Darum liebe ich die Arbeit des RefLab.

    In der Medizin bilden sich heute integrative Praktiken heraus. Damit will ich sagen, dass das Auseinanderfächern von Theologie in viele Strömungen auch eine Chance sein kann, dass Menschen nicht mehr blind folgen, sondern im Sinne einer eigenbestimmt-souveränen Haltung und auf Basis der bis dahin in der Entwicklung ausgebildeten rationalen Haltung gelernt haben, dass eine Prägung bedeutend ist und sie die Projektionen auf Wirklichkeit massgeblich beeinflussen. Dann braucht es keine Vorprediger mehr, sondern das Bedürfnis nach wahrhaftigen Kreispraktiken und echten Dialogen nimmt zu. Dies gibt es bereits, einfach ausserhalb als Grassroots-Bewegungen. Hier in Kooperationen zu gehen, ist wichtig.

    Ob es die Kirchen schaffen neben und mit den weiteren NGOs und NPOs im Mit- und Füreinander eine systemische neue Ordnung in dieser vielfältigen Glaubenswelt zu erschaffen, wird ein spannendes Kapitel menschlicher Zivilisationsgeschichte werden. Wir stehen am Anfang.

    1. Johanna Di Blasi

      Lieber Remo, danke für diesen Kommentar, das Weiterdenken und auch für das Teilen persönlicher Erfahrungen! In vielen Punkten deckt sich das Gesagte mit meiner Sicht.

  2. Zitat: „Das Christentum steckt in einem chronischen Glaubwürdigkeitstief.“

    Wenn schon diejenigen, die es besser wissen müssten, nicht (oder nicht mehr) zwischen Christentum und Christenheit unterscheiden wollen (oder können), wozu sollte es gut sein, wenn „wir“ „vielleicht sogar ein zweites Regal“ bekommen?

    Das Christentum ist keine Buchreligion und ist nie eine gewesen!
    Auf Buchhandlungen zu setzen, um die /beste Nachricht der Welt/ Menschen zu kommunizieren, ist denn auch die eigentliche chronische (?) theologische Bankrotterklärung … :-(( !!!

    1. Johanna Di Blasi

      Hallo Angelo, danke für den Einwurf. Die Unterscheidung ist wichtig. Imagemässig aber stehen (zumindest in unseren Breiten) momentan beide nicht so gut da: Christ:innenheit und Christentum. Das dürfte für niemanden zu übersehen sein.

  3. Toller Artikel, erst jetzt gelesen. Bin ganz Deiner Meinung Johanna, aber vielleicht würde der „Buchecke Christentum“ helfen, wenn vermehrt „populär-theologische“ Literatur auf den Markt kämen. Etwa Bestseller wie „Die Hütte“ von William Paul Young, „Eden Culture“ von Johannes Hartl oder der gerade erschienene Roman „Das Haus am Himmel – Erzählung einer Gottessuche“ vom Schweizer Pfarrer Stefan Urfer. Ein faszinierendes Beispiel ist auch der Science Fiction Roman von Rob Bell „Where’d You Parked Your Spaceship“ welchen Evelyn Baumberger im letzten Oktober him RefLab ausgezeichnet zusammengefasst hat. Könnte mir durchaus vorstellen, dass solche Titel erst gar nicht in der „Christentum-Ecke“ landen….

  4. Es gibt auch ältere Literatur, die sich mit dem Christentum sehr klug auseinandersetzt. Da wären die beiden Theaterstücke «Mass für Mass» von Shakespeare, in dem mit verschiedenen Ellen gemessen wird. Dann «Nathan, der Weise» von Lessing, der viel über Gott geschrieben hat. Schliesslich möchte ich Euch noch Gotthelf empfehlen, der sich ebenfalls mit dem Thema beschäftigt hat.

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