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Special: Theologie und Missbrauch – Glaube auf dem Prüfstand

Die Missbrauchsstudie der EKD (Evangelische Kirche Deutschland) hat mindestens in der christlichen Welt hohe Wellen geschlagen und viel Betroffenheit, Scham und Nachdenken ausgelöst. Zahlreiche Artikel und Berichte versuchen, die niederschmetternden Ergebnisse der Studie einzuordnen, missbrauchsbegünstigende Faktoren in der Organisation der Kirche, im pastoralen Selbstverständnis, in Machtverhältnissen usw. zu identifizieren.

Das Thema ist zu wichtig, um bei «Ausgeglaubt» einfach darüber hinwegzugehen. Manuel und Stephan geht es in diesem Gespräch aber nicht um abschliessende Erklärungsversuche und Deutungen, die doch nur vorschnell und unangemessen sein können. Vielmehr wollen sie theologischen Faktoren auf den Grund gehen, die schon in der Studie angedeutet wurden und von manchen Theolog:innen auch angemahnt wurden: Gibt es im fundamentalen Selbstverständnis reformatorischer Theologie Schieflagen, die jetzt zum Vorschein kommen? Leistet ausgerechnet die Rechtfertigungslehre als Kernbestand evangelischer Theologie einer Haltung Vorschub, die sexuelle Gewalt und missbräuchliche Verhältnisse nicht ernst genug nimmt? Oder geht das Problem noch tiefer, noch weiter zurück bis in die Formulierung des «Vater-Unser», das so schnell von der Vergebung Gottes für unsere Sünden auf die Pflicht schliesst, auch unseren Schuldigern zu vergeben? Gibt es ein Mass an Schuld, das die Möglichkeiten menschlicher Vergebung übersteigt? Und lässt sich auch theologisch die Perspektive der Betroffenen von Gewalt und Übergriffen stark machen – gibt es ein Evangelium, das der Erfahrung der Opfer gerecht wird?

Wir müssen reden.

 


Über die Missbrauchsstudie der EKD haben übrigens auch schon Thorsten Dietz, Evelyne Baumberger und Johanna Di Blasi in einem kürzlichen Stammtisch miteinander gesprochen – und Felix Reich diskutiert mit Sabine Scheuter (Verantwortliche für Personalentwicklung und Diversity in der Reformierten Kirche des Kantons Zürich) hier.

9 Kommentare zu „Special: Theologie und Missbrauch – Glaube auf dem Prüfstand“

  1. Das ist wohl das schwierigste Thema, dass man sich im Zusammenhang mit Vergebung, Schuld und Buße vorstellen kann.
    Ich würde der Aussage, dass das Ausmaß der Schuld die in uns wohnende Fähigkeit zur Vergebung bei Weitem übersteigt, absolut unterstreichen. Mit Blick auf sexualisierten Missbrauch kommt neben dem inneren und äußeren Zwang, dem Täter zu vergeben, noch die innere Zerrissenheit hinzu, sich selbst eine gewisse Mitschuld an dem Geschehenen zu geben. Je nach Alter des Opfers kann sich das bis zum Anzweifeln der gesamten Tat steigern.
    In der Tat betrachten wir vorwiegend die TäterInnen. Neben dem von Euch angemahnten zuhören halte ich das für wahr halten, also dem Opfer Glauben zu schenken, für noch wichtiger.
    Dem Täter zu vergeben ist ein mehr als langwieriger Prozess, zumal auch auf juristischem Wege in sehr vielen Fällen „nur“ eine Bewährungsstrafe folgt. Diese als Strafe zu begreifen, fällt den Opfern schwer, die nicht selten vielen Jahre, wenn nicht sogar ihr ganzes Leben mit der Tat und deren Folgen zu kämpfen haben.
    Vielleicht ist es an der Zeit nicht nur die großen, sondern auch die vielen kleinen Machtmissbräuche anzusprechen, anzuklagen und abzustellen. Es ist doch nicht so sehr die Frage, ob die Institution Kirche, Machtmissbrauch aufgrund ihres Systems und ihrer Struktur ermöglicht, sondern inwieweit TäterInnen innerhalb dieses Systems ihren Machtmissbrauch ungestraft ausprobieren und ausweiten können. Natürlich wohnt jedem System menschlicher Gemeinschaft auch das Potenzial des Missbrauchs inne. Die Frage ist, wie damit umgegangen wird.
    Kurzum: den Opfern Glauben schenken, die TäterInnen frühzeitig entlarven und verurteilen.
    Vergebung kann imho erst danach ein Thema werden. Wäre vielleicht nicht systemimmanent, aber „Jesus immanent“.

    1. Lieber Sven, nachdem ich dir persönlich geschrieben habe hier auch noch öffentlich: Herzlichen Dank für deine Rückmeldung und deine wertvollen eigenen Gedanken zum Thema Missbrauch und Vergebung!

  2. Dieses Gespräch hat mich berührt und es hat mir noch mehr Einblick in eure Herzen gegeben. I love you guys. Das darf mal so gesagt werden.

    Ich habe sexuelle und religiöse Gewalt in einem christlichen Kinderheim erlebt. Jahrelang war mein eigener Anspruch, zu vergeben und meine Eltern und andere sprachen immer wieder auf mich ein, Vergebung zuzulassen.
    Im Mittelpunkt des Erlebens von Missbrauch muss auch mE nicht die Vergebung, sondern die Schuld liegen. Ohne Schuldanerkennung ist keine heilsame Verarbeitung möglich. Die Vergebung in den Mittelpunkt zu stellen setzt diejenige unter Druck wirkliche Missbrauch erlebt haben und deckt indirekt (oder direkt) die TäterInnen.

    If churches and institutions want to have a future where they have even just the tiniest bit of credibility and want to be a place that is not toxic, abusive and dangerous. In that case, they need to focus on the perpetrators of violence and abuse and get out of the face of survivors. If survivors say a church is dangerous (as I have been saying for the past decade) and not doing enough to protect persons, we usually get shouted down and silenced. How often have I been silenced and discredited as being negative and extreme (the latest time by a high-ranking SEA member for calling for more measures to be put in place to protect persons from abuse in the church after the Läderach case) because I (and others) point out that some (many) churches are still harbouring perpetrators of violence and sexual abuse in their ranks and for not putting safeguarding measures in place. I don’t have all the answers, but I believe a good place to start would be by actively seeking participation of survivors of violence and including them in developing measures.

    1. Lieber Mark, vielen Dank für dein persönliches Feedback – ich schätze das sehr und teile deine Überlegungen, auch wenn ich sie nicht aus eigener Erfahrung nachvollziehen muss. Ja, die Aufforderung zur Vergebung geht bei vielen Betroffenen an den Möglichkeiten und Anforderungen eines gesunden Umgangs mit ihrem Erleben vorbei. Danke auch für dein Statement zu einer Kirche, die alles tut, damit sich solche Dinge nicht wiederholen.

  3. Liebe beide: Herzlichen Dank für eine starke Episode, die auch mich sehr nachdenklich zurücklässt und meine systematische Theologie herausfordert.

  4. Eine interessante Folge zu einem sehr, sehr wichtigen Thema. Ich habe mir – betreffend das Thema sexualisierte Gewalt in der Kirche – noch ein bisschen mehr fundierte Informationen gewünscht, weil das Thema so mega wichtig ist. Mir hat ein Handbuch die Augen geöffnet: Grenzen achten. Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen. Ein Handbuch für die Praxis, Ursula Enders (Hg.). Ursula Enders arbeitet seit den 80iger-Jahren an diesem sehr wichtigen Thema ganz konkret in der Praxis und ihr Buch öffnet einem die Augen und man wird danach ein wenig anders reden und denken, und vor allem: hoffentlich auch handeln! Jede:r von uns kann mithelfen, dass die Täter:innen möglichst wenig Gelegenheiten finden, sexualisierte Gewalt auszuüben. Danke, dass ihr es thematisiert habt.

  5. Hallo Manuel und Stephan!

    Vielen Dank für dieses wirklich gute und wichtige Gespräch!

    Unabhängig vom konkreten Mißbrauchs-Thema habe ich auch oft den Eindruck, dass das Leiden Christi am Kreuz in vielen Kirchen und Gemeinden zu einseitig aus einer Täter-Perspektive gedeutet / erklärt / verkündigt wurde bzw. wird.

    Sehr gut, dass ihr das hier kritisch herausgearbeitet habt!

    Mir ist im Nachdenken über eine sinnvolle Deutung des Kreuzes ein Vers aus Jesaja 53, 5b (Luther 2017) wichtig geworden: „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“

    Der erste Teil bezieht sich auf die Täterperspektive, der zweite Teil macht für mich Sinn aus einer Opferperspektive. In etwa so: „Zumindest Gott hat das Unrecht, dass Du erleiden musstest, bestraft – also im Blick und nicht vergessen!“ Ohne die konkreten Opfer „fromm“ zu dieser Perspektive drängen zu wollen: Könnte nicht dieser Blick auf das Kreuz mir aus meiner Opfer-Rolle heraushelfen? Weil das Unrecht bei / vor / durch Gott schon bestraft wurde (falls man das so glauben kann)?

    Das klingt natürlich wieder nach einer „schnellen“ / „frommen“ Klärung von Unrecht, das soll es aber nicht sein!

    Es ist für mich eher ein spiritueller Einstieg in den Ausstieg aus einer Opfer-Rolle. Also der Beginn eines inneren Weges, an dessen Ende evtl. so etwas wie Versöhnung / Feindesliebe entstehen könnte. Was ausdrücklich nicht ausschließt, dass (massives) Unrecht juristisch geahndet wird inkl. Bemühen um Wiedergutmachung von Seiten des Täters.

  6. Hallo liebe TheologieKollegen. Ich finde euer „Theologengeschwurbel“ über Vergebung angesichts dieses Themas einfach total deplaziert. Sorry, ich konnte diesen Podcast nicht mal fertig hören, weil meine Wut, wenn ich an all die von geistlich bevollmächtigen (und auch immerfort theologisch schwurbelnden) Amtsträgern missbrauchten Menschen denke, einfach ins unermessliche gestiegen wäre.

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