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 Lesedauer: 8 Minuten

Anleitung für die Fastenzeit

Hellrosa mit bläulichem Unterton. So würde ich meine Haut beschreiben. Die Unterarme sind besonders blau.

Der Spiegel steht wie ein Mahnmal im Flur, das mir jeden Tag zuruft: «Sieh dich an.»

Mein Körper spiegelt sich in ihm wie eine Landschaft. Auf meinem rechten Oberschenkel habe ich eine Narbe, so gross wie ein Suppenteller. Als Kind ist mir brühendes Wasser über den Schenkel gekippt, jetzt ist die Haut dort rau und fest.

Anleitung für die Fastenzeit

Die Wintermonate waren anstrengend. Sie sind es noch. Ich war viel zu häufig erkältet. Aber ich habe gemalt. Und gut geschlafen, ausreichend. Man könnte fast sagen, ich bin richtig gut im Schlafen mittlerweile. Bei andauernder Dunkelheit schläft es sich besonders gut.

Du bist öfter an mir vorbeigegangen diesen Winter, unsere Hände haben sich fast berührt. Als sässen wir im selben Zugwaggon. Ein leichter Windhauch und dann warst du schon wieder weg. Einmal haben wir zusammen gesungen, oder zumindest gesummt.

Mein Bauch fühlt sich weich an. Unter den Brüsten sind 70 kleine Sterne, die sich auf meinem Solarplexus verteilen. Die Schlüsselbeine treten hervor, die Haut hat sich nur ganz dünn über sie gelegt. Meine Arme baumeln ein bisschen lost an den Schultern.

Neben den Sternen bin ich an drei weiteren Stellen bemalt. Die Farbe auf dem Rücken sehe ich nur im Spiegel.

Stelle dich vor einen Spiegel in deiner Wohnung. Sieht dir deinen Körper an. Welche Farben hat deine Haut? An welchen Stellen bist du besonders verletzlich? Was an dir ist noch unversehrt?

Verletzlichkeit

Ich habe einen objektivierenden Blick auf meinen Körper. Ich weiss, welche Formen an mir irgendwann mal als schön bezeichnet wurden.

Anziehen kann ich. Schöne Kleider, berüschte Blusen, glitzernde Röcke, farbprächtige Tücher, opulente Tüllberge, tiefblaue Madeleines, tonnenschwere Lederschichten, hahnenbetrittene Stoffculottes. Beplüschte Jacken, silberne Stiefeletten.

Wir haben uns versiegelt, abgedichtet. Schutzschichten, die uns einwickeln: Plastikfolie, die um Koffer gewickelt wird, Regencapes und Schirme, Teflon Beschichtung, Sonnencreme, Verband, Pflasterstreifen, Shapewear, Sneaker, Caps und Doktorarbeiten machen uns aussenwelttauglich.

Ich übe jeden Tag aufs Neue, mich auszuziehen. Die Schichten abzulegen, fällt mir schwer. Meine Angst schützt mich.

Haut von Haut, Schicht für Schicht befreien. Behutsam offenlegen, den einen Traum, der schon lange ganz hinten in der Schublade liegt, für die Träume, die zu gross geraten sind. Und den Lebensentwurf, der schon mehrfach überarbeitet wurde und trotzdem noch nicht richtig passt. Das Gefühl, nicht genug zu sein, das unter der dünnen Haut am Schlüsselbein wohnt. Die kleinen und grossen Brüche, die Pflaster, die Wunden.

Ansehen, was da ist. Ungeschönt. Das ich mich schützen könnte, ist ein Trugschluss.

Menschen sickern in uns ein. Wetter schlägt sich auf uns nieder. Sonnenstrahlen gerben meine Haut. Wenn ich mir im Kunstunterricht mit dem Skalpell in meinen Finger schneide, blute ich. Ziemlich doll sogar. Ich kann kaputt gehen. Ich bin verletzlich. Herzen brechen, Menschen bluten aus, das Rückgrat wird gebrochen. Die Haut ist porös. Ich kann in tausend Teile zersplittern.

Jede Wunde ist ein Fenster in den Organismus. Jede Verletzung zeigt etwas anderes von und in mir.

Meine Verletzlichkeit verweist auf das andere, das Gegenüber, die Welt um mich herum, von der ich nicht losgelöst bin. Jede Verletzung ist ein Blick ins Innen und ein Verweis auf das Aussen.

Philipp Poisel singt in seinem Lied Wenn die Tage am dunkelsten sind:

«Und haben sie euch auch geschlagen, so haben sie doch niemals eure Kronen berührt.»

Ich bin für mein Leben nicht permanent verantwortlich. Ich wurde geboren und jede Verletzung, jede Wunde erinnert mich daran, dass ich nicht frei bin von meiner Geschöpflichkeit. Die Welt zeichnet Bilder auf meinen Körper. Ich sehe sie vor mir.

«Ein leidender Organismus ist empfindlicher, wachsamer, hellhöriger, auch transzendenter und kühner als der verschonte.» (Egon Friedell)

Wie viel Welt siehst du auf deinem Körper? Wie oft wurde dein Herz schon gebrochen? Und wie oft dein Wille?

Loslassen

Ich lege mich unter meine Heizdecke. Hier ist kein Spiegel, den ich mir vorhalte. Alles ist wohlig warm. Meine Wunden sind abgedeckt und wieder eingepackt. Ich nehme mir das Buch von meinem Nachtschrank und beginne zu lesen. Sylvain Tesson schreibt:

«Das Akkumulationsprinzip […] beherrschte unser ganzes Leben. Zu viele Informationen für das Kind, zu viele Besitztümer für den Erwachsenen, zu viele Jahre für den Greis. […] ‹Nichts zu viel› wussten die Priester Apollos im Tempel von Delphi. ‹Zu viel von allem›, entgegnete unser Jahrhundert. Wir kamen ins Rutschen. Und in unseren fettleibigen, reizüberfluteten Leben duckten wir uns und warteten auf die Lawine.»

Erinnere dich an etwas, das du losgelassen hast. Eine Beziehung, an der du nicht mehr festhalten konntest. Das eigene Kind, das von Zuhause auszieht. Ein Zuhause, das nun nicht mehr Zuhause ist. Kannst du dich gut lösen? Was brauchst du, um etwas hinter dir zu lassen?

Wie passend.

Ich weiss nicht, ob das geht, Gott loslassen. Ich habe mich nicht bewusst dafür entschieden. Trotzdem habe ich Gott beim Verschwinden zugesehen.

Lies abgesang von Ronya Othmann:

«Wirf die löwenmäulchen hinter dich. Du darfst dich nicht umdrehen, lass alles zurück, was dich an sie erinnert. Den kehricht vor dem tor, den buchstabierst du im winter wie ein sperling den märz. Schon weisst du nicht mehr, was es war. Schnee, als wäre er nie hier gewesen. Leere hofeinfahrten, eine fälschliche behauptung. […] das dorf hat kein haus für dich. Nicht einmal im wald lässt es dich wohnen. Du fragst dich, während du gehst, ob es das pflaster ist, das deine schuhe nicht trägt, oder deine schuhe nicht das pflaster.»

Ich weiss nicht, ob Gott mich nicht mehr getragen hat oder ich Gott nicht mehr tragen konnte.

Sie ist nicht mit einem grossen Tusch abgedampft, hat keine Tür zugeschlagen, keine wütende Nachricht geschrieben, hat keine grossen Worte gemacht, ist nicht wie eine Lawine mit viel Geröll über mich hinweg gezogen.

Ich habe nicht dagegen angebetet.

Die Heizdecke hat sich abgeschaltet, mir wird kalt. Das Buch habe ich zur Seite gelegt. Ich hänge meinen Gedanken nach.

Gott ist in mir geschrumpft. Sie ist immer kleiner geworden. Sie ist mir weggerutscht. Als wäre sie in meinem inneren Wohnzimmer hinters Sofa gefallen. Da wo die Staubmäuse wohnen und die Weihnachtskarte meiner Tante darauf wartet, beantwortet zu werden.

In meiner Erinnerung stehe ich in einer Kirche und bete, aber mir fehlen die Worte. Ich singe Lieder, aber die Melodie in meinem Kopf ist verstummt. Mein Talar hängt nun in einem der Kleidersäcke.

«Die eigentliche Kunst […]/ Besteht nicht im Überwinden der eigenen Bedürfnisse/ Sondern im Gespür für sie/ Nicht in eiserner Konsequenz/ Sondern im Mitgehen mit der Veränderung» (John von Düffel)

Was hast du auf dem Weg loslassen müssen? Hast du dabei etwas Neues gefunden? Woran hättest du gerne festgehalten?

Nähren

Aus der erkalteten Heizdecke geschält, schlurfe ich in die Küche. Ich bin müde. Ich denke nicht gerne über meine Dämonen nach, wer tut das schon. Die Passionszeit macht keinen Spass, aber ich bezweifle, dass sie das jemals sollte.

Fasten kann ich Alkohol oder Süssigkeiten. Leiden tue ich immer auch an mir selbst.

Tue dir etwas Gutes. Koche dir dein Leibgericht, pflege deine Wunden. Kaufe dir Blumen, mache Musik. Nähre deine Seele. Füttere deinen Geist.

Im Kühlschrank suche ich nach etwas Liebe und schnappe mir eine Packung Heidelbeeren und einen Becher Joghurt. Ich nehme jede einzelne Heidelbeere aus der Verpackung und betrachte sie. Ihre Linien, ihre Fülle, wo sie Dellen hat, wo sie verhärtet ist. Ich sammle sie in meiner Hand und überspüle sie mit kaltem Wasser. Weich fallen sie in das Joghurtbett. Mit Honig ziehe ich Schlieren über Beeren und Joghurt.

«Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?»

Meistens weiss ich nicht wirklich, was ich brauche. Es ist ein vages Gefühl, eine Mischung aus diesem und jenem. Das könnte mir vielleicht gut tun. Ob es das Richtige ist, merke ich erst, wenn ich bereits dabei bin.

Sich nähren ist ein Akt der Zuwendung, uneingeschränkt. Sich dem Leben zuwenden, der eigenen Bedürftigkeit, dem, was dich nährt und versorgt. Ein Nachspüren.

Wenn du dich um deine Seele gesorgt hast, liebevoll, mit Hingabe, achtsam und bedacht, lies das Gedicht von Bernhard von Clairvaux:

«Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale, nicht als Kanal,
der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt,
während jene wartet, bis sie gefüllt ist.
Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt,
ohne eigenen Schaden weiter.
Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen,
und habe nicht den Wunsch, freigebiger als Gott zu sein.
Die Schale ahmt die Quelle nach,
nicht überströmender zu sein als die Quelle…
Du tue das Gleiche!
Zuerst anfüllen und dann ausgießen.
Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen,
nicht auszuströmen…
Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst.
Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst,
wem bist du dann gut?
Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle;
wenn nicht, schone dich.»

Zwischen Kissen und Decken verliere ich mich auf meinem Sofa. Auf dem Tisch dampft eine Tasse Tee, ein ums andere löffle ich die Heidelbeeren und den Joghurt.

Was nährt dich? Wovon kannst du in schweren Zeiten zehren?

Ich will mich befüllen lassen, denke ich. Meine Wunden verkleben und die Leerstellen mit Liebe füllen. Bis an den Rand, bis ich überfliesse.

 

Foto: Yana Hurska @unsplash

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2 Kommentare zu „Anleitung für die Fastenzeit“

  1. Hallo Janna,
    ein schöner Text: „auf der Suche“ spüre ich so heraus und ich bin auch gerade so mitten im „Loslassen“: Leben, Ziele, Vorstellungen…in der Ungewissheit was kommt und habe dabei auch meine Vorstellungen von Gott loslassen (müssen), auch da ist mir naicht klar, was da jetzt kommt…sich nähren, wenn man nicht weiß, was einem gut tut, das kenn ich auch, aber auch die Sehnsucht danach, gefüllt zu sein und es zu anderen fließen zu lassen…habe ich erlebt und wünsche ich mir
    Liebe Grüße Det

    1. Lieber Detlev,
      Danke für deine ganz persönlichen Gedanken zu dem Text. Ich schick dir liebe Wünsche und gute Begegnungen bei deinem Auf-der-Suche-sein. Du bist in jedem Fall nicht allein unterwegs.
      Janna

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