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Anleitung für den Reformationstag

Die Welt fühlt sich anders an hier vorne. Sie ruht in sich, sie hat ihre Mitte wiedergefunden.

Viele Menschen trauen sich nicht über die erste Reihe hinaus, sie verharren im Halbdunkel der Bänke, um bloss nicht gesehen zu werden. Dabei verändert sich die Stimmung, sobald einmal die imaginäre Schwelle überschritten wurde.

Ich sitze auf den Altarstufen einer Kirche. Sie sind kalt, meine Haut ist warm auf dem alten Stein. Mein Körper verliert sich auf den Stufen. Wann wurden sie wohl hier abgelegt? Neben mir liegt die Welt, ganz still und ruhig. Wir sind aufgehoben.

Anleitung für den Reformationstag

Für alle, die gerne Geschichten erzählen, vom Ausbrechen und Mauern einreissen.

Du hast dich lange nicht gemeldet. Hauptsächlich Rechnungen sind in den letzten Monaten ins Haus geflattert. Der Sommer war heiss und müde. Jetzt ist mir meistens kalt. Morgens sind nur noch 2 Grad, die Spinnen wohnen jetzt wieder in den Zimmerecken.

Lange habe ich keine Kirche mehr besucht. Ich habe wohl auch nicht viel verpasst, grosse Worte spucken können Politiker besser. Trotzdem bin ich nun hier.

«Und, was macht das mit dir?» – «Fühlt sich wehmütig an, wie eine alte Geschichte, die ich lange nicht erzählt habe.»

Gehe an einen Ort, an dem Geschichten erzählt werden. Eine Buchhandlung oder eine Bibliothek, ein Hörsaal oder eine Kirche. Nimm dir einen Moment Zeit, mach es dir gemütlich. Vielleicht hast du einen Tee dabei. Lausche den Geschichten, lass dich in sie hineinziehen.

Geschichten

Schon als Kind habe ich Geschichten geliebt. Einmal die Woche ist ein Bücherbus zu uns ins Dorf gekommen. Mit meinen Schwestern bin ich dort vorbeigegangen und habe durch die Regale gestöbert, meine Finger durch Bücher blättern lassen und jede Woche ein bis zwei neue Lieblingsbücher ausgeliehen.

Der Bücherbus stand immer eine halbe Stunde bei uns auf dem Buswendeplatz im Dorf. Meistens verbrachte ich die ganze halbe Stunde in dem Bus, in Bücher vertieft, auf dem mit Teppich ausgelegten Boden des Busses sitzend. So wie jetzt.

Geschichten haben meine Welt weit gemacht.

Als würde jede Geschichte, die geschrieben wurde, eine weitere Möglichkeit meines noch jungen Lebens mit sich bringen. Wenn ich die Kriminalfälle von Hercule Poirot kennenlernte, wollte ich Detektivin werden. Als ich die Geschichten von unabhängigen Frauen las, wurde ich Feministin.

«Man wird wieder aus Himmel und Sternen Bilder machen und die Spinnenweben alter Märchen auf offene Wunden legen.» (C. Morgenstern)

In den Geschichten verweben sich Wirklichkeit und Möglichkeit miteinander, bis sie nicht mehr voneinander zu trennen sind.

Margret Atwood schreibt:

«Wenn man sich mitten in einer Geschichte befindet, ist es nicht eine Geschichte, sondern nur eine grosse Verwirrung; ein dunkles Brüllen, eine Blindheit, ein Durcheinander aus zerbrochenem Glas und zersplittertem Holz, wie ein Haus in einem Wirbelsturm oder wie ein Schiff, das von Eisbergen zerdrückt oder von Stromschnellen mitgerissen wird, und alle an Bord sind machtlos, etwas dagegen zu tun. Erst hinterher wird daraus so etwas wie eine Geschichte. Wenn man sie erzählt, sich selbst oder jemand anderem.»

Ich erzähle mein Leben gerne so, als würde es mir passieren. Als wäre der Zustand, in dem ich mich gerade befinde, als wäre das Leben, nur eine Folge von zufälligen Umständen, die mir widerfahren. Dabei brauche ich die Geschichten vor allem, um all das Chaos überhaupt verstehen zu können.

All die Wirbelstürme, Sintfluten, Dürrejahre, Heuschrecken, Scheidungen und Thesen-an-den-Nagel-häng-Momente brauchen eine Geschichte, die sich dazu erzählt.

Alles neu machen ist so oft ein Durcheinander aus zersplittertem Holz und zerbrochenem Glas, gepackten Kisten und letzten Nachrichten, Flucht und Neuanfang. Die offenen Enden finden erst mit der Zeit zusammen. Die Geschichte muss erst neu verwoben werden.

Welcher Moment deines Lebens ist zu einer Geschichte geworden? Wem hast du zuletzt deine Geschichte erzählt? Was war als Kind dein Lieblingsbuch?

Liminalität

Besuche einen Ort aus deiner Vergangenheit. Du hast dich verändert. Wer bist du jetzt? Wer warst du damals? Schau dir an, was sich an dem Ort verändert hat. Fühlst du dich noch immer so, wie damals, als du hier regelmässig mit deiner Freundin auf der Bank gehockt hast?

Ihre Rucksäcke sind voller Cracker und Taschenlampen. Einer von ihnen hat etwas Schnaps in eine Feldflasche abgefüllt. Der Junge mit der Hornbrille spielt Mundharmonika. Sie folgen den Eisenbahnschienen, die sich durch den Wald ziehen. Auf der Suche nach einem Jungen, voller Übermut.

Die Geschichte von Stand by me, das Geheimnis eines Sommers. Einer der wohl bekanntesten Coming-of-Age-Filme der letzten 50 Jahre. Vier Jungen mitten in ihrer Pubertät. Ein Zustand hormoneller Verwirrungen und emotionaler Achterbahnfahrten.

Ich habe Coming-of-Age schon geliebt, als ich selbst pubertierte. Ich liebe es immer noch.

Es geht um die Schwellenzustände des Lebens. Die Zeiten, in denen alles ganz anders werden kann, als es zu dem jetzigen Zeitpunkt noch ist. Zustände von Unsicherheit und Offenheit.

Ein Moment, in dem man nicht weiss, wer man ist oder was man werden wird. Liminalität.

Liminalität beschreibt einen Schwellenzustand, in dem sich Individuen oder Gruppen befinden, nachdem sie sich von der herrschenden Sozialordnung gelöst haben.

Der Zustand, in dem du dich von dem gelöst hast, was war und doch noch nicht angekommen bist bei dem, was sein wird. Losgelöst aus dem sozialen Gefüge, im luftleeren Raum.

Wie Jungen, die auf der Suche nach einem Abenteuer sind, bevor sie gleich schon erwachsen werden. Und Frauen, die für ihre Rechte protestieren. Oder junge Männer, die gegen den Klerus aufbegehren. Die marode Steine umstossen, alte Hüte an den Nagel hängen, tote Pferde sterben lassen.

Ein bewusst herbei geführter Ausbruch aus vorherrschenden Strukturen. Sich in Unsicherheit begeben. Mal was wagen.

Henry David Thoreau schreibt in seinem Tagebuch von unruhigen Zeiten. Lies seinen Eintrag vom 11. Februar 1840:

Es genügt nie, dass unser Leben leicht ist. Wir müssen angespannt leben; nicht zufriedengestellt durch einen gebändigten und ungestörten Ablauf von Wochen und Tagen, sondern wir müssen uns zu unser Ruhe zurückziehen […] und mit Leidenschaft vorausblicken auf den Einsatz des kommenden Tages. Lass dich nicht auf den allgemein beliebten Sitzen und auf der gewöhnlichen Ebene der Tugenden nieder, sondern bemühe dich, diese heroisch zu gestalten. […] So gedeihen unsere Seelen am besten bei Unruhe und Unzufriedenheit. (H.D. Thoreau)

Ein Moment Freiheit. Ohne feste Zugehörigkeit, mit einer abgestreiften Haut und einer Zukunft, die nur dadurch entsteht, dass Zeit vergeht und Dinge getan werden. So heroisch und unsicher wie möglich.

In welchem Zustand bist du heute? Du hast alle Freiheit etwas zu verändern. Kannst du den Schwebezustand gut aushalten? Welche Unruhe spürst du in dir?

Trotzdem

Unruhe bringt dich weiter. Unruhe fordert dich heraus. Also fordere ich dich heraus.

Mein Po wird langsam kalt. Mag wohl daran liegen, dass ich mit dem Hosenboden auf dem feuchten Bordstein sitze. Schon wieder auf dem Boden heute. «Aufstehen, los!» cheerleadere ich mir selbst zu, sonst ist die Blasenentzündung nicht mehr weit entfernt. Ich rappele mich auf. Ganze 300 Meter habe ich es aus dem Haus geschafft, bis ich mich auf den Boden setzen musste.

Besuche einen Ort, an dem du dich nicht wohl fühlst. Das kann ein Stadtviertel sein, das dir Unbehagen beschert oder das Fussballstadion, mit Menschen, die laut sind und sich aneinanderdrängen. Oder das Kaufhaus in der Stadt, mit der Klimaanlage und den grellen Lichtern. Fordere dich ein kleines bisschen heraus.

Aber sei dabei sorgsam mit dir. Mute dir nur so viel zu, wie sich für dich annehmbar anfühlt. Und dann frag dich: Was sträubt sich in dir? Welche Widerstände spürst du?

Mein Körper reagiert auf die Angst in meinem Kopf. Ich bin gelähmt. Jeder Schritt lässt meine Beine schwerer werden, meinen Puls schneller, meine Hände schwitziger.

Ein kleines Stückchen noch, nur bis zu den Nachbarn um die Ecke. Aber wenn es nicht mehr geht, ruft der Bordstein. Morgen schaffe ich es dann vielleicht bis zum Bäcker am Ende der Strasse, wo es die leckeren Zöpfe zu kaufen gibt.

Es gibt Zeiten, da fühlt sich das Leben an wie Glatteis. Jeder Schritt entgleitet mir. Jedes Ziel scheint unerreichbar. Alles, was mir Halt geben kann, bin ich selbst. Und selbst das funktioniert bei Glatteis nicht.

Also am besten nicht mehr bewegen, mich flach auf den Boden legen. Nur atmen und auf die grosse Eisschmelze hoffen. Verharren in der Winterstarre. Dann kann nichts passieren.

Die Schwierigkeit: Dann passiert eben auch nichts. Und ich bleibe liegen. Entgleite, erstarrt und regungslos. Die lebensfeindliche Umgebung will wohl bewusst sabotieren.

«Trotz ist ein Vertrauensvorschuss an die Zukunft. Eine Wette, die man eingeht.»

Jetzt erst recht. Ronja von Rönne hat recht, mit dem was sie schreibt. Eine Wette einzugehen mit dem Wissen, ich kann verlieren. Bis ich meinen Trotz wiedergefunden hatte, dauerte es seine Zeit.

Den Widerstand überwinden, der sich wie eine Mauer haushoch vor mir aufgebaut hat. Einen Vorstoss, einen Umstoss wagen. Manchmal Stück für Stück, Schritt für Schritt und manchmal mit der Energieleistung eines Mauersturzes in Berlin. Oder eines Thesenanschlags in Wittenberg.

«Pecca fortiter, sed fortius fide.»

Sündige tapfer, aber noch tapferer glaube. Auch so ein Trotzsatz mit Vertrauensvorschuss. Stürze die Mauer um, mal schauen was passiert. Wage dich vor die Tür. Dein Glaube ist stärker, als jeder Mist, den du bauen kannst. Das «Jetzt erst recht» eines Menschen, der mehr glauben will, als er wissen kann. Ich will auch so ein Mensch sein.

Lies den Gedanken von Simone Weil aus ihrem Buch «Schwerkraft und Gnade»:

«Von allen Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen ist die Liebe die Grösste. Sie ist so gross, wie der Abstand, der zu überwinden ist. Damit die Liebe die grösstmögliche sei, ist der Abstand der grösstmögliche. Deshalb kann das Böse bis an die äusserste Grenze gehen, jenseits derer selbst die Möglichkeit des Guten verschwände. […] Bisweilen scheint es, dass es sie überschreitet.»

Die Liebe ist so gross, wie der Abstand, der zu überwinden ist. Der Abstand von Kiew nach Moskau oder von Gaza nach Jerusalem. Der Abstand im eigenen Kopf, ebenso wie der Abstand von meiner Haustür zum Bäcker am Ende der Strasse. Die Liebe ist so gross wie der Abstand, der zu überwinden ist.

Auch wenn die Grenzen immer wieder überschritten werden. Ich überwinde (mich) mit jedem Schritt. Und vertraue mehr, als mein Kopf mir weiss machen will. Und glaube mehr, als ich wissen kann.

Wann hast du das letzte Mal Widerstände überwunden? Wie viel Angst und wie viel Liebe hast du in dir? In welchem Verhältnis stehen sie zueinander?

 

Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, S. 102, Berlin 2021.

Foto: Shih Lung, @unsplash

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