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 Lesedauer: 9 Minuten

Anleitung für Ewigkeitssonntag

Hallo Oma.

Meine Füsse versinken in dem morastigen Boden. Die Blätter hat erst vor kurzem jemand abgesammelt.

Ich erzähle dir von der Schweiz und der neuen Wohnung mit dem Blick auf die Alpen. Ich sage, dass ich niemals dachte, ich würde mal von meinem Wohnzimmer aus auf die Alpen sehen können.

Du bist still. Nur der Wind weht durch die alte Eiche. Der Herbst gefiel ihr nicht. Da ist immer besonders viel zu tun im Garten.

Anleitung für Ewigkeitssonntag

Für alle, die einmal verliebt waren, die Spurensucher und Teetrinker.

Du brauchtest gar nicht schreiben, ich wusste, wo ich dich heute finde.

Der Friedhof meiner Kindheit liegt am Ende der Strasse. Mit dem Blick auf den See unweit des Gutshauses und der alten Feldsteinkirche. Ein Grossteil meiner Familie liegt dort. Opas und Onkel, die ich nie kennengelernt habe, die mir nur als massiver Stein mit Geburtsdatum begegnen.

Oma ist schmal und hat eine rötliche, orange Maserung. Sie hat keine scharfen Kanten, sie ist weich geschliffen und leicht verwittert.

Gehe an einen Ort, an dem du dich lebendig fühlst. Du atmest, dein Blut pulsiert. Feine Haut spannt sich über dein Leben. Dein Herz schlägt, trotz der Scherben und Brüche.

Gegenwart

Ich besuche meine Oma gerne auf dem Friedhof. In dem Sommer, als sie gestorben ist, war ich das erste Mal verliebt. So richtig, mit Haut und Haaren.

Wir waren zusammen auf einem Festival. Der Staub unter unseren Schuhen wirbelt. Ich drehe mich im Kreis. Mich um dich, wie ein Planet in dessen Umlaufbahn ich geraten bin. Lichter tanzen auf deiner feuchten Haut.

Du schreist mir etwas zu, ich verstehe kein Wort, aber du bist so schön.

Casper singt, wir taumeln, immer kurz vor dem Fall:

«Wir hör’n die letzten Züge fahrn/ sinken in das Gras im Park/ und Blitze springen über/ zwischen uns glüht es schwarz/ füllen Sekunden mit absolutem Nichts/ und reden von für immer/ wir reden von für immer»

Die Gegenwart dauert in diesem Sommer ungefähr 4 Monate. Durchtanzte Nächte. Sex zu Bob Marley. Zusammen frühstücken in deinem Zimmer unterm Dach. Leere Weinflaschen auf dem Boden. Viele erste Male, gefühlt hast du mein ganzes Jahr gefüllt.

Lies eine Passage aus dem Buch «Die Stille verschieben» von Etel Adnan:

«Meine Lieblingszeit ist auf der anderen Seite der Zeit, in ihrer anderen Identität, die, die zusammenbricht und manchmal wieder zum Vorschein kommt. Die, die wie Marshmallows aussieht, wie Granatäpfel und seltsamere Dinge. […] Die Tage sind dahin gegangen, wohin Tage gehen, auf ihre eigenen Friedhöfe. Heute sehe ich überall Ewigkeit. Gestern stand ein leeres Glas Champagner vor mir auf dem Tisch, und es sah genauso unendlich aus wie ewig.»

Sich auf einem Friedhof stehend an die erste Liebe zu erinnern ist eigentümlich passend. Ob meine Oma jemals verliebt war, ich weiss es nicht.

Ob sie dieses Gefühl kannte, wenn sich die Zeit ausdehnt. Wenn alle Erinnerungen an gestern verblassen und die Erwartungen an das Morgen dem Erleben der unmittelbaren Gegenwart geopfert werden. Weil alles nur jetzt ist.

Das Gehirn wird überflutet von Dopaminstössen, Hormone spielen verrückt, der Körper ist im Ausnahmezustand. Meine Haut hat vibriert, wenn du mich berührtest.

Wie viel haben die Menschen hier wohl geliebt. Wie viel ausgedehnte Gegenwart haben sie erleben dürfen? Andauernde Gegenwart, ein Rausch von Aufmerksamkeit und Bewusstsein. Ich hoffe sie hat es erlebt, zumindest einmal in ihrem Leben.

Wie fühlt sich verliebt sein für dich an? Wann hat sich deine Gegenwart ausgedehnt?

Spuren

Es zieht mich wieder nach Hause. Mir ist kalt. Ich koche mir Tee, um meine Füsse schmiegen sich warme Wollsocken. Draussen hat es angefangen zu regnen.

Suche einen Ort auf, an dem du Spuren hinterlassen hast. Eine Parkbank oder eine Clubtoilette. Die Bushaltestelle in der Heimat oder der Klapptisch ganz hinten links im Hörsaal an der Uni. Wo findet man dich? Welche Menschen haben bei dir Spuren hinterlassen?

Ich sitze vor dem Bildschirm, er strahlt mich mit blauem Licht an. Ein Fenster ist geöffnet. Das Gesicht einer blonden Frau, die wiederum mich anstrahlt.

Sie ist Schauspielerin. Ich finde ein Portrait von ihr und klicke mich durch ihre Vita. Geboren am 4.12.1984 in Leimen. Ich betrachte die Spuren, die ich von ihr im Internet finde.

Weshalb ich das tue? Sie heisst so wie ich. Janna Horstmann. Denn wenn ich ehrlich bin, will ich nur herausfinden, welche Spuren ich im Internet hinterlasse.

Judith Schalansky schreibt in ihrem Buch «Verzeichnis einiger Verluste»:

«Kränkelnd ist die Einsicht, sterblich zu sein, und verständlich das eitle Verlangen, der Vergänglichkeit zu trotzen und einer unbekannten Nachwelt Spuren zu hinterlassen.»

Das Internet, welch ein wunderbarer Ort, um Spuren zu hinterlassen. Unmengen an Informationen, die gespeichert und archiviert werden.

Ich versinke in den Tiefen meines Egozentrismus. Immerhin bin ich schon der zweite Eintrag nach der Schauspielerin. Der Tee wird kalt. Hinter dem Bildschirmlicht bricht die Nacht herein.

Wenn kleine Staub- oder Gesteinsteilchen in der Atmosphäre verglühen, werden sie gemeinhin als Sternschnuppen bezeichnet. Dabei ist das Licht, das wir am Nachthimmel sehen können, vielmehr eine Lichtspur, die zurückbleibt, wenn das Gesteinsteilchen schon längst verglüht ist.

Es ist nicht primär das Verglühen, was wir beobachten können. Es ist die Spur eines Teilchens, das bereits verglüht ist. Eine Leuchtspur.

Wir wollen Spuren hinterlassen. Wir wollen uns vergewissern, das wir leben und unsere Umwelt davon Notiz nimmt. Auch wenn wir schon verglüht sind.

In den Raumsonden Voyager und Voyager II finden sich Zeitkapseln, die von menschlichem Leben zeugen sollen. Mozarts Arie der Königin der Nacht irrt gerade durch das Weltall in der Hoffnung, unsere Werke auf der Erde bleiben nicht bloss Teil eines ewigen Prozesses von Erschaffen und Ver(loren) gehen. Und ich google meinen Namen. Wie absurd.

Dabei hinterlasse ich permanent Spuren. Gedanken, Hautschuppen, Kleidungspartikel, die sich lösen und als Materie in der Welt ablagern. Ein Satz, der dir im Gedächtnis bleibt. Ein Haar auf deinem Kissen.

Der Energieerhaltungssatz: Wenn ich Energie bin, werde ich immer als Energie ein Teil der Welt sein.

Lies das Erdstück VI von Yoko Ono:

«Das Blinken eines Sterns ereicht uns erst nach einer Milliarde Lichtjahren. Auch das Licht der Erde erreicht andere Planeten erst nach sehr langer Zeit. Wenn wir diese Zeitschleife nutzen würden, könnten wir die Erde aus verschiedenen Entfernungen beobachten und sehen, was mit unserem Planeten zu einem beliebigen Zeitpunkt in der Vergangenheit passiert ist […] Schau also nicht zurück. Schau nach vorn. Nur dann wird die Vergangenheit sichtbar.»

Ich bin nicht für mich, ich bin Teil der Welt, ich war nie etwas anderes. Materie, die von mir kommt und zu etwas anderem wird. Leuchtspuren, die ich hinterlasse, die vielleicht erst viel später irgendwo am Nachthimmel erscheinen und einen Menschen dazu bringen, sich etwas zu wünschen.

Vielleicht findet irgendjemand irgendwann meinen Spotify Account und sagt sich: mega guter Musikgeschmack. Vielleicht will ich das aber auch nur glauben, weil ich es glauben muss. Weil die Erkenntnis, das ich irgendwann sterbe, eine Beleidigung meiner Existenz ist.

Ich klappe den Laptop zu. Am Nachthimmel leuchten mir Leuchtspuren entgegen.

Wo hast du heute Spuren hinterlassen? Wann hast du das letzte Mal eine Sternschnuppe gesehen? Was ist dein letzter Wunsch?

Tod

Es ist 4 Uhr, eine gute Zeit für ein Gespräch mit dem Tod. Er mag die frühen Morgenstunden. Ich schlafe dann lieber.

Zünde dir eine Kerze an. Deck dich zu, mit wollnen Decken. Koche dir einen Tee, versorge dich mit ausreichend Keksen. Höre dir das Lied «Froh dabei zu sein» von Philipp Poisel an.

Du bist doch noch so jung
Das ist was die Leute sagen
Doch wenn ich heute gehen müsste
Könnt ihr euch wirklich nicht beklagen
Was ich alles schon erleben durfte
Wenn ich an all‘ die Menschen denk‘
Die schon so früh ihr Leben ließen
Dann ist meines ein Geschenk

Ich hab furchtbar Angst vor’m Tod
Ich hoffe ich bin dort nicht allein

Der Tod ist mir nun schon recht häufig begegnet. Meistens aus der Ferne, oder so dass wir kurz aneinander vorbei gegangen sind. Ein kurzes zustimmendes Nicken. Ich sehe dich, du siehst mich, passt.

So richtig zu Besuch war er noch nie. So mit Tee trinken und reden und Keksen essen und sich mal vernünftig über alles unterhalten.

Ab und an kamen seine Geister nachts vorbei, um mich wachzuhalten. Dann fühlte sich der Tod dichter an. Als würde er neben mir sitzen und wir führen ein ums andere Mal dieselbe Unterhaltung.

Setz dich mit dem Tod auf dein Sofa. Höre ihm zu, was er dir zu sagen hat. Welche Geschichten er erzählt. Welche Geschichte hast du mit dem Tod?

Du hast mir nicht gesagt, was ich tun soll. Wo ich hingehen soll, was ich lesen oder hören soll. Du hast mich mit dem Tod allein gelassen. Mitten in der Nacht, mit Tee und Keksen.

Ich weiss, was ich zu Menschen sage, die gerade dem Tod begegnet sind. Ich weiss nur nicht, was ich dem Tod sagen würde.

Wie es angefangen hat, mit mir und dem Tod, habe ich schon erzählt. Mit meiner Oma, damals, als ich 16 war. Und dann haben wir uns irgendwie so miteinander auf den Weg gemacht. Jeder für sich und doch irgendwie wissend, wo sich der jeweils andere gerade rumtreibt.

Ich sitze vor meinem Tee und der Dose mit den Keksen.

Pheobe Bridgers singt im Hintergrund davon, dass sie bei einer Beerdigung für ein Mädchen singt, das nur ein Jahr älter ist, als sie selbst.

Ich bin überfordert mit dem alleine sein. Mit der stillen Forderung, die im Raum steht. Mich mit dem Sterben, mit dem Tod auseinanderzusetzen.

Ich rede vor mich hin, der Tod hört zu.

Auf dem Friedhof in Ohlsdorf, dem viertgrössten Friedhof der Welt, darf eine Trauerfeier nicht länger als 30 Minuten dauern. Sonst werden die Bestatter unruhig. 25 Minuten sind besser.

… (stummes Nicken)

Das Holz für die meisten Särge stammt aus Italien.

Ich habe Angst vor dir. Ich habe Angst das mir, bis du da bist, nicht genug Zeit bleibt. Ich habe Angst nicht genug gelebt zu haben, wenn ich sterbe.

Die Zeit ist auch nur so eine menschliche Konstruktion.

Aber ich kenne doch nichts anderes.

Während der Tod und ich so auf meinem Sofa sitzen, Musik hören und Tee trinken, wird es langsam hell um uns. Der Tod wird immer dünnhäutiger, mir fallen immer wieder die Augen zu.

Als ich morgens aufwache stehen auf dem Tisch immer noch meine Teetasse und die unberührten Kekse.

 

Fotot: Danie Franco@unsplash

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1 Kommentar zu „Anleitung für Ewigkeitssonntag“

  1. Hans Erich Nossak hat sogar ein Interview mit ihm geführt. Ein ganzes dünnes Buch kang. Und Heinz Rudolf Kunze hat ihm einen wunderbaren Song gewidmet:
    Du also bist mein Tod
    Hätte gedacht, du wärst alt
    Streif von den Schuhen den Kot
    Schließ schnell die Tür, es wird kalt
    Du also bist mein Tod
    Wir sollten uns prima vertragen
    Wir sitzen im selben Boot
    Du weiß ja, ich hab’s mit dem Magen
    Du also bist mein Tod
    Dachte schon, nur ein Vertreter
    Nichts also kommt mehr ins Lot
    Geschenkt, denn ich hasse Gezeter
    Du also bist mein Tod
    Prüftest, wie tief ich nachts schliefe
    Du also riefst in der Not
    Es gibt eine Alternative
    Du also bist mein Tod
    Wie zu erwarten war: stumm
    Du also bist mein Tod
    Du also bringst mich um

    Mein Keks zum Tee.

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