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 Lesedauer: 5 Minuten

Badi-Kolumne, Teil 4: Arturo oder die Begegnung mit dem Tod

Über Bademeisterinnen existieren zwei Klischees: Entweder sie hechten in leuchtendroter Kleidung sexy ins Wasser und retten Menschen vor dem nahen Tod. Oder dann sitzen sie den ganzen Tag an der Sonne und tun, genau: nichts.

Fabienne arbeitet seit sieben Jahren als Bademeisterin. Wieviel diese Klischees mit der Realität zu tun haben, und was sich in einigen Zürcher Freibädern tatsächlich so alles abspielt, erzählt sie in dieser Sommer-Kolumne.

Da Badis sensible Orte sind, wurden die Angaben zu Gesprächen und Erlebnissen verfremdet. Manches ist genau so geschehen, manches nicht ganz.

Inhaltsangabe: In diesem Beitrag beschreibe ich, wie ich bei einem Todesfall anwesend war. Wenn das zu viel für dich ist, liest du den Artikel besser nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt.

Theater wegen nichts?

Früher oder später begegnet man als Bademeisterin dem Tod. Meine erste Begegnung mit ihm kam sehr unerwartet – und es war nicht in der Badi.

Ich war 24 und mit einem Freund zum Kaffee verabredet. Es war ein heisser Sommertag im Juli, der Freund hatte seinen Zug verpasst und kam eine halbe Stunde zu spät. Ich sass am Zürcher Hauptbahnhof auf einer Bank und las.

Vis-à-vis auf der Bank sass ein älterer Mann in einem hellblauen Hemd und lehnte sich mit beiden Armen an die metallenen Abfallbehälter. Er schwitzte sichtlich und bewegte sich auf und ab. Es kam mir seltsam vor. Betete er? Hatte er Angst vor seiner Reise? Sollte ich rübergehen?

Damals war ich eine junge Bademeisterin und dachte: «Bestimmt mache ich ein Theater wegen nichts.» Berufskrankheit eben.

Heute würde ich mich nicht mehr in mein Buch vertiefen. Besser einmal zu viel fragen als einmal zu wenig. Als ich das nächste Mal aufblickte, lag der Mann rücklings, allerdings bei Bewusstsein, auf der Bank. Eine Person beugte sich über ihn.

Unscharfe Erinnerungen

Ich beobachtete die Szene kurz, dann ging ich rüber. «Haben Sie schon eine Ambulanz gerufen?», fragte ich die Person über ihm.

Sie verneinte und nahm ihr Smartphone in die Hand. Anschliessend beugte ich mich zu dem Mann.

Meine Erinnerungen an die folgenden 20 Minuten sind extrem unscharf. Ich weiss, dass ich versuchte, mit ihm zu reden. Ich weiss nicht, ob er etwas sagte.

Aus meiner Erinnerung versuchte er es, aber ich meine, dass er nur ein röchelndes Ringen um Worte zustande brachte.

Woran ich mich überdeutlich erinnere, ist die Schnappatmung, die so typisch ist für Herzinfarkte.

Ich weiss noch, wie der Mann meine Hand nahm und mich mit seinen hellblauen Augen ansah. Sie waren weit geöffnet und starrten mich angsterfüllt an. Vermutlich hatte er keine Ahnung, was mit ihm geschah.

Kurz darauf muss der Mann sein Bewusstsein verloren haben. Das nächste Bild in meinem Kopf ist, wie er auf dem Boden liegt und zwei Bahnhofspolizisten zu uns rennen, weil die Ambulanz benachrichtigt war. Noch heute sehe ich die Polizisten vor mir, wie sie mit der Herzmassage beginnen und wie ich wegblicke, als sie den Defibrillator installieren.

«Du warst dabei, oder?»

Wir standen fassungslos daneben. Leute kamen und starrten. Ich rief verzweifelt, dass sie doch bitte damit aufhören sollten und begann, mit meinem Badetuch eine Schutzmauer zu bilden. Andere folgten.

Als die Sanität nach einer Weile kam, übernahm und letztlich ein Zelt aufbaute, wurden wir weggeschickt. Ohne jegliche Informationen.

Ich hatte keine Ahnung, ob der Mann lebte oder gestorben war. Entsetzt und verzweifelt starrte ich das Zelt an.

Ich muss so weggetreten gewesen sein, dass es mir wie aus dem Nichts vorkam, als sich ein fremder Mann, der die Szene beobachtet hatte, neben mich stellte. «Du warst dabei, oder?», fragte er auf Englisch. Ich bejahte. Dann erklärte er schonungslos: «Er ist tot.» Entgeistert sah ich ihn an: «Woher wissen Sie das?» «Sie haben ein Zelt aufgestellt.»

Privatsphäre geht vor Information

In einem Notfall ist es so: Wenn alles gut geht, bedankt sich die Sanität. Wenn nicht, hört man kein Wort. Auch wir Bademeister:innen dürfen fragenden Gäst:innen nichts sagen darüber, wie eine Situation ausgegangen ist.

Bei Unfällen, bei denen wir Personen leblos aus dem Wasser ziehen und viele das direkt mitbekommen oder sogar mithelfen, kann ich verstehen, wie schwierig das sein muss. Man wünscht sich ja nichts mehr, als dass die Person wieder lebt. Gleichzeitig soll die Privatsphäre einer Person geschützt werden.

Selbst wenn wir Bademeister:innen im Krankenhaus anrufen, erhalten wir nicht immer Informationen.

Manchmal haben wir Glück und die Person selbst oder jemand aus dem Umfeld kehrt zurück und bedankt sich.

An den Tod gewöhnt man sich nicht

Ich will mit dieser Geschichte nicht sagen, wie tough ich bin. Im Gegenteil. Ich fand meine Reaktion damals weder besonders professionell noch tough. Heute würde ich ganz anders handeln.

Dementsprechend gehen einem solche Situationen jedes einzelne Mal nahe. An Notfälle mit leblosen Personen gewöhnt man sich nie. Sicher, man lernt, die Situation zu managen. Man spielt sich als Team ein.

Doch an den drohenden Tod gewöhnt man sich nicht, unabhängig davon, wie die Reanimation verlief.

Man redet miteinander, versucht, einander zu entlasten. Doch die Stimmung ist jedes Mal gedrückt. Es fühlt sich ein bisschen an, als hätten wir unseren Job nicht gut genug gemacht.

Fast jedes Mal fragt man sich, was man hätte besser machen können und ob das geholfen hätte.

Den alten Mann werde ich nie vergessen. Wie könnte ich auch, wenn ich vermutlich die Person war, deren Hand er gehalten und in deren Augen er geblickt hat, bevor er das Bewusstsein verlor.

Noch heute denke ich an ihn. Als Trauerritual habe ich ihm einen Namen gegeben. Ich weiss nicht mehr, weshalb ich ihn im Kopf als Italiener abgespeichert habe. Hatte jemand etwas gesagt? Waren es das schicke Hemd und seine schwarzen Lederschuhe?

Für mich ist dieser alte, unbekannte Mann Arturo. Auch wenn er vermutlich ganz anders heisst.

Illustration: Rodja Galli

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