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 Lesedauer: 7 Minuten

Anleitung für Pfingsten

Es ist Nacht geworden. Schweiss tropft auf meinen Kopf. Mein Shirt klebt an meinem Körper. Meine Schuhe kleben an dem Boden. Alles klebt.

Der Bass dröhnt, Orientierung fällt mir schwer. Um mich herum ist es dunkel. Wo bin ich hier eigentlich?

Anleitung für Pfingsten

Für alle, die öfter mal durch den Wind sind und sich mitreissen lassen, von dem Unverfügbaren, für die Freigeister unter uns.

Nach meinem letzten Ausflug auf das Riesenrad, darf ich Pfingsten wohl etwas ruhiger angehen. Dachte ich. Keine schwindelerregenden Höhen oder Kunstmuseen.

Pfingsten ist zart und gewaltig. Unbegreifbar und unverwüstlich. Es geht um Geist. Zumindest hat mir meine Kirchenjahr-App das gesagt. Die wird wohl recht haben.

Hingabe

Begib dich an einen Ort, der glüht.

Das war also deine einzige Anweisung. Und dass ich nun hier bin, habe ich mir selbst zuzuschreiben. Die Tropen sind ein Witz gegen das hier, denke ich. Ich schwitze. Andere Menschen um mich herum schwitzen. Der Boden vibriert.

Wenn du an diesem Ort bist, spüre, was das Glühen mit dir macht.

Die Energie der sich bewegenden Körper strahlt aus, der Raum ist feucht-heiss. Alles bebt. Hitze übt eine seltsame Faszination auf mich aus, sie belebt und lähmt mich gleichzeitig. Gerade gewinnt das Belebtsein.

Endlich mal wieder den Kopf ausschalten, ich bin wie berauscht. Während meine Haut zu glühen beginnt, ergreift auch meinen Geist einen ekstatischen Zustand. Jeder einzelne Muskel in meinem Körper lebt. Wie Feuer lodert es in mir. Ich verliere mich in Zeit und Raum. Körperliche Grenzen verschwinden. Ich gebe mich hin.

Lies das Gedicht Brandstifter von Ocean Vuong.

«& so haben wir getanzt: Die weissen Kleider unserer Mütter quollen uns von den Füssen, Ende August färbte unsere Hände tiefrot. & so haben wir geliebt: eine Flasche Wodka & ein Nachmittag auf dem Speicher, deine Finger durch mein Haar – mein Haar ein Lauffeuer. Wir hielten uns die Ohren zu & der Wutausbruch deines Vaters verklang zu Herzschlägen.»

Heute Nacht verbrenne ich meine Zweifel. Ich bin ein Phönix aus der Asche, du bist meine nächtliche Auferstehung in Geist und Fleisch. Energie, die freigesetzt wird. Intensität bis in die Fussspitzen. Geist ist Leib ist frei ist Geist.

«Im Museum des Herzens bauen zwei kopflose Menschen ein brennendes Haus. […] So haben wir getanzt: alleine in schlafenden Körpern. Das heisst: So haben wir geliebt: ein Messer auf der Zunge, das zur Zunge wird.»

Ich bin Feuer und Flamme. Verbrannte Erde lasse ich hinter mir. Ich schüttle die Asche von meinem Haupt, spüre die Glut in mir, bin vom Leben berauscht. So müssen sich Feuerzungen anfühlen, wenn sie über meinen Körper tanzen.

Ich liebe lichterloh, zumindest für einen Moment, denn mit der Sonne kommt auch das Ende der Nacht. Und jedem Ende wohnt ein Zauber inne.

Wenn du das Glühen um dich herum gespürt hast, denke an einen Moment, in dem du geglüht hast. Was hat dich in Brand gesetzt?

Veränderung

Du hast dein Feuer entfacht, gib dir Zeit nachzuspüren, wie es dich verändert hat.

Besuche einen Ort, der im Wandel ist. Eine Umgebung, die morgen anders aussehen wird als noch heute. Wenn du kannst, gehe ans Meer, oder an einen Fluss. Wo Wasser ist, ist Veränderung.

Ein neuer Tag, ein neuer Ort. Kilometerweit kein Wasser zu sehen. Nur Sand und Meeresboden. Irgendwo da hinten ist das Meer. Ebbe und Flut wechseln sich ab, mal ist das Wasser da, mal ist es weg. Meine Zehenspitzen hinterlassen Abdrücke in dem feuchten Sand. Der Boden ist noch kalt.

Obwohl ich am Meer aufgewachsen bin, faszinieren mich die Gezeiten. Eine Unverfügbarkeit der Natur, für die ich zwar Regeln aufstellen kann, die aber trotzdem im Wandel bleibt.

Die Flut kommt. Wo gerade noch Meeresboden zu sehen war, umspülen meine Füsse jetzt das kalte Nordseewasser. In jedem Moment, in dem ich das zurückflutende Meer betrachte, verändert es sich. Und ich mich mit ihm.

Ich bin nie losgelöst, ich bin immer im Verhältnis zu meiner Umgebung.

In der Unschärferelation von Werner Heisenberg heisst es:

«Es gibt nicht mehr das Ding an sich, sondern nur die Beziehung, die Relation zwischen dem Apparat und dem Ding.»

Gut, vielleicht etwas dramatisch formuliert. Aber was Heisenberg meint, ist, wenn ich den Ort eines Teilchens lokalisiere, verändert sich dadurch zwangsläufig seine Energie. Indem man etwas betrachtet, verändert man es. Energie ist im Fluss.

«Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich»

Wenn sich das, was du siehst, vor deinen Augen verändert, lies den Songtext «Times they are a changin» von Bob Dylan:

«Come gather ‚round people/ Wherever you roam/ And admit that the waters/ Around you have grown/ And accept it that soon/ You’ll be drenched to the bone/ If your time to you is worth savin’/ And you better start swimmin’/ Or you’ll sink like a stone/ For the times they are a-changin’»

Die Wirklichkeit ist immer eine andere. Der Geist weht, wo er will, denke ich während das Wasser meine Knöchel kühlt. Es wird Zeit zu gehen.

Und trotzdem: Ich würde behaupten, wenn Gott uns betrachtet, verändert sich auch unsere Energie. Und indem wir Gott betrachten, verändern wir unsere Wirklichkeit mit Gott.

Bist du die gleiche Person geblieben, während sich deine Umgebung verändert hat? Wo wohnt dein Geist? Wo in deinem Körper spürst du Veränderungen am deutlichsten?

Verbindungen

Nicht nur Orte verändern dich. Auch Menschen, besonders Menschen.

Geh nach Hause. Nimm dir ein altes Fotoalbum zur Hand. Betrachte die Fotos und Menschen, die du darin siehst. Wie sehen ihre Gesichter aus? Was tun sie gerade?  

Schau dir die Bilder auf deinem Telefon an. Was zeigen sie? Besitzt du mehr Fotos von dir oder von anderen Personen?

«Wenn alle Menschen, die du kennst, in einem Raum wären, nach wem würdest du Ausschau halten?»

Die Frage stand auf einer Kachel, die in meinen Instagram-Feed gespült wurde.

Seit ich meinen Feed bereinigt habe, umsorgt mich mein Algorithmus nur noch mit schönen und positiven Dingen, Mode, Mental Health und Architektur-Content. Mir flatterte also dieser Spruch auf einer Kachel in meinen Feed. Und ich bin daran hängegeblieben.

Menschen, liebste Freund:innen, Seelenverwandte, lose Liebschaften, Sportbekanntschaften, Familienangehörige, Sandkastenfreund:innen, gute Bekannte, Arbeitskolleg:innen, Sitznachbarn, Strassenbegegnungen, Erzfeind:innen, nützliche Netzwerkkontakte, Partner:innen, Schwestern, Schwärmereien, die Bezeichnungen für die Menschen, die mein Leben geprägt haben, sind schier unendlich.

Verbindungen, die mir im Gedächtnis bleiben, deren Geist in mir wirkt.

Wir sind nicht allein unterwegs. Wir haben die guten Geister bei uns. Sandkastenseelenverwandte und die ganze innere Cheerleading Crew. Die uns den Weg Richtung morgen weisen und einfach mal das Licht anmachen. Damit wir wieder hell werden. Sie lassen uns Flügel wachsen und unsere schweren Schritte werden wieder leichter. Sie halten unsere Hand und unseren Mut hoch. Sie singen uns ein Lied durch die Nacht.

Beziehungen wollen wir fassen, erklären, verstehen. Nachvollziehen, wieso da diese geisterhaft magische Verbindung ist, zwischen mir und dir. Die Krux: Ich werde sie wohl nie gänzlich verstehen, ich verstehe mich ja selbst kaum. Ich bleibe unscharf.

Oder wie Ernst Bloch schrieb:

«Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.»

Lies aus Fabian Bernhardts Essay zu Geistern:

«Von Geistern können wir lernen, dass Begriffe wie Leben und Tod, Anwesenheit und Abwesenheit, Gegenwart und Vergangenheit nicht immer absolut trennscharfe Kategorien darstellen. Sie sind immaterielle Verkörperungen dessen, was sich klarer Zuordnungen entzieht.»

Gottes Geist verstehen zu wollen, erscheint mir schier unmöglich. Es ist ein wehender Geist, den ich nicht sehen, aber sehr wohl sehr spüren und fühlen kann. Der da ist, in meinem Feuer, in der Veränderung der Welt, in der Unschärfe, in mir und dir, und uns verbindet.

Denke an die vielen Menschen, die dein Leben geprägt, die Seelen, die dich begeistert haben. Wie sieht dein unverwüstlicher Geist aus? Welche Menschen hast du begeistert?

 

Zur Unschärferelation: Ferdinand von Schirach, Kaffee und Zigaretten, München 2019. S. 121f.

Ocean Vuong, Nachthimmel mit Austrittswunden,München 2020. S.62.

Foto von Joshua Newton @unsplash

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1 Kommentar zu „Anleitung für Pfingsten“

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