Es ist matschig. Braungrauer, nasser Matsch überall.
Jeder Schritt macht dieses Geräusch, das entsteht, wenn sich die Schuhsohle von der nassen Erde löst. Schmatz, Flatsch. Flatsch, Schmatz, Klatsch. Meine Füsse werden langsam nass.
Anleitung für Gründonnerstag
Für alle, die schon mal am Boden lagen, die Liebhaber*innen und Shakespeare-Freunde.
Ein Jahr sind wir nun schon gemeinsam unterwegs. Mal schreibst du mir, mal weiss ich, wo du anzutreffen bist. Vor einem Jahr hast du mich durch den Karfreitag begleitet.
Heute ist Gründonnerstag. Viel mehr über die Feiertage gelernt habe ich nicht, aber gelebt habe ich sie sehr intensiv. Intensiver zumindest, als ich erwartet habe.
Schlamm hängt an meinen Schuhen. Hier und dort ragt eine gelbe Stange oder ein rotes Seil aus dem Matsch heraus. Die feuchte Luft zieht in meine Kleidung und unter meine Haut. Ich lasse mich auf nasses Gummi nieder und stosse mich ab.
Begib dich an einen Ort, der dich zu Fall gebracht hat. Was hast du hier erlebt? Wie fühlt sich der Boden hier an?
Meine Füsse schwingen sich in den Himmel, mein Körper schraubt sich Stück für Stück weiter in die Luft. Ich war lange nicht hier. Das Gerüst quietscht mit jedem Schwung. Das Ziel ist der Absprung.
Fallen
Fallen, sich dem Boden annähern, aufschlagen, flach werden, Dreck fressen. Die eigenen Grenzen spüren, manchmal auch auf die harte Tour. Wie hoch, wie weit noch? Früher war das ein Spiel, heute habe ich Angst davor, auf dem Boden aufzuschlagen. Aber egal.
Ich sehe selten Erwachsene Menschen auf Spielplätzen, ausser sie sind mit ihren Kindern dort. Grenzen ausloten und dabei Gefahr laufen, im Dreck zu landen wurde irgendwann zwischen 17 und 30 wohl uncool.
Grenzen werden nur noch selten ohne Auffangnetz überschritten. Wir fallen so ungern. Wir hören einfach irgendwann auf.
Noch zweimal in die Höhe schwingen und dann: springen. Mein Körper schleudert umher. Dann kurze Schwerelosigkeit, in der Luft hängen, alles wird leicht. Ich spüre, ich falle. Und dann verstehe ich auch, ich falle. Beim Fallen bin ich ganz, alles ist da, mein Körper und mein Geist, die Welt um mich herum.
Und dann kommt der Aufprall. Der schlammige Boden stoppt meinen Fall. Mein Knie schmerzt, es schmeckt nach Erde in meinem Mund.
Ich falle nicht irgendwo hin. Ich falle auf den Boden. In den Staub, auf die Erde, in den Matsch. Meine persönlichen Unzulänglichkeiten bringen mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Judas weiss, wie sich der Boden anfühlt.
Bedenke Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst. Immer wieder.
Ich bin nicht allein mit meinen erdigen Händen und meinem geschundenen Herz. Ich werde hochgezogen, auf meine Füsse gestellt, schüttle den Dreck von mir und blicke mich um. Wir sehen alle so aus.
Wann bist du zu hoch geflogen? Wie fühlt sich Fallen für dich an? Wie sehen deine Grenzen aus? Sind sie matschig und haben aufgeschürfte Knie oder hast du sie mit Blumen bepflanzt.
Zu Hause stelle ich mich unter die heisse Dusche. Der letzte Rest Dreck wird von meinen Händen gespült, die kleine Schramme am Knie brennt auch noch am nächsten Tag.
Liebe
Die Blumen, die ich dir kaufe, sind pink und weiss. Tulpen, damit der Frühling auch bei dir im Wohnzimmer zu Gast ist. Du kochst und ich bringe die Blumen mit.
Kennst du die Liebe? Wohnt sie bei dir, in deinem Zuhause? Oder musst du nach draussen, um ihr zu begegnen. Finde sie! In einem Film oder einem Buch. An deinem Ort, in einem Gespräch. Wo passiert Liebe in deinem Leben? Erstelle eine Liebes-Liste.
Die Frage, ob du alles hast, was du für deine Reise brauchst. Ob auch der Schlafsack warm genug ist und wie ich dich erreichen kann. Der Anruf, einmal die Woche, meistens sonntags auf meinem Spaziergang am See. Du erzählst dann von Jakob und Jan und wie die Arbeit gerade läuft und ich schaue auf die Berge und vermisse dich. Die Bilder, die ich dir schicke, immer wenn ich Zitronenkuchen esse, weil ich dann an dich denke.
Liebe ist keine Annahme. Sie bleibt nicht in Worten, sie will aus sich selbst heraus, wohnt nicht in Erwartungshaltungen. Die Liebe beruht nicht auf erzwungener Gegenseitigkeit. Liebe geht nicht nur in Gedanken.
«Die Liebe wirkt sich nicht nur auf unser Denken und unser Verhalten gegenüber den von uns geliebten Menschen aus. Sie verändert unser gesamtes Leben. Aufrichtige Liebe ist eine persönliche Revolution. Die Liebe nimmt unsere Ideen, Wünsche und Handlungen und schweißt sie zu Erfahrungen und einer lebendigen Realität zusammen, die ein neues Ich schaffen.» (Thomas Merton)
Liebe ist ein Tuwort. So haben wir früher in der Grundschule zu den Verben gesagt. Wörter, die ausdrücken, dass man etwas tut. Menschen lieben.
Das Leibgericht, das ich dir koche, wenn du krank bist. Milchreis mit heissen Kirschen und Zimt und Zucker. Die Nachttischlampe, die die ganze Galaxie neben deinem Bett an die Decke zaubert, und alle Sterne leuchten für dich. Die Gedichte, die ich dir schreibe, unzählige.
Ich liebe heisst: Ich schreibe, denke, koche, frage, schicke, denke, höre Dich.
Den Wein, den ich mit dir trinke. Das Brot, das ich mit dir teile. Das Öl, das ich über dein Haupt giesse. Ich bin bei dir, auch wenn du weinst. Auch wenn ich weine.
Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe. Oder besser gesagt: Liebt einander, mit allem, was ihr tut. Du liebst. Das macht dich schön.
«Wieso bleiben von den Millionen Sätzen, die wir im Leben hören, nur wenige ein Leben lang wortwörtlich im Gedächtnis? Wieso erinnert man sich aus der ganzen Flut von Empfangenem immer nur an wenige Sätze, jahrelang, jahrzehntelang, meist sogar mit der Stimmlage der Sprechenden? –
Du bist so schön. Das erste Mal, dass jemand mir den Satz schenkte, ist ungefähr zwanzig Jahre her, und ich weiss noch immer, von wem und mit welcher Begeisterung er mir gesagt wurde.» (Katrin Schumacher, Liste der gebliebenen Dinge)
Welche Liebestaten haben sich in dein Gedächtnis eingebrannt? Wann hast du mit jemandem Wein und Brot geteilt? Wen findest du schön und wann hast du es dieser Person das letzte Mal gesagt? Tu es!
Vergebung
Die Blumen haben dir gefallen, du hast sie auf deinen Küchentisch gestellt. Nun sitze ich wieder an meinem Küchentisch. Den, den wir zusammen aufgebaut haben. Auf dem Zettel, der vor mir liegt, stehen vier Namen.
Nimm dir einen Zettel und einen Stift. Stell dir eine Kerze daneben. Schreibe die Namen der Menschen auf, die du um Verzeihung bitten willst. Vielleicht hast du ihnen Unrecht getan, schlecht über sie gedacht, ganz egal, welchen Grund es gibt. Notiere dir ihre Namen. Falte den Zettel zusammen und lege ihn an einen sicheren Ort. Zünde dir nun die Kerze an. Stell dir vor: Sie haben dir schon längst vergeben.
Schön wärs. In meiner Vorstellung muss ich erst alt dafür sein, in einem Schaukelstuhl sitzen und stricken gelernt haben. Ich würde wieder Zeitung lesen, so richtig, nicht nur auf dem Handy und ich hätte gelernt, mir selbst zu vergeben.
Ich träume von Vergebung, von heil sein. Und weiss gleichzeitig, ich bin noch nicht so weit. Vergeben braucht Zeit. Zu sehr noch hänge ich an meinem Leid. An meinen Fehlern und meiner Lieblosigkeit. Wenn ich alt bin möchte ich frei davon sein.
Wie lächerlich verstrickt ich bin. In meinen selbstgemachten Enttäuschungen durch nicht erfüllte Erwartungshaltungen. So unnötige Gedankenspinnereien. Das Glas ist halb leer, ich trink es aus und schenke mir neu ein. Irgendwann möchte ich frei davon sein.
Kann ich irgendwann gnädig mit mir sein? Frage ich mich und blicke in den Kerzenschein. Schön wärs.
Lies William Shakespeare. Im «Kaufmann von Venedig» steht:
«Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang. / Sie träufelt wie des Himmels milder Regen / zur Erde unter ihm, zwiefach gesegnet: / Sie segnet den, der gibt, und den, der nimmt.» (William Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig IV 1.)
Gnade wird verschenkt. Vergebung macht auch mich selig. Du hast mir wohl schon längst vergeben.
Deine Gnade legt sich wie Balsam auf meine Seele, du salbst mein hoffnungsloses Haupt, meinen kaputten Kopf mit dem Öl der Könige. Du krönst mich heimlich.
Ich, die Judasjüngerin vor dem Herrn. Die trotzdem so gern deinen Wein trinkt und mit dir am Tisch sitzt. Du machst mich selig. Der ersten Sünderin am Hofe wird Vergebung zuteil. Wie schön.
Und nun iss und trink deinen Wein mit gutem Mut, denn Gott hat dein Tun schon längst gefallen.
Foto: Noah Silliman @unsplash
3 Gedanken zu „Anleitung für Gründonnerstag“
Sehr schöner Text und gute Praxisanleitung.
Wir sind alle irgendwo/wie gefallen, brauchen, geben (hoffentlich) Liebe, Vergebung. Gut, dass er die Quelle gibt.
Schöner Text ❤️
Vielen Dank, das hat mich sehr beeindruckt und bewegt.