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 Lesedauer: 7 Minuten

Anleitung für einen Karfreitag

Bald ist es also wieder so weit. Du und ich und dieser Tag, mit dem ich so oft nichts anzufangen weiss. Karfreitag. Familiäre Zusammenkünfte an den Osterfeiertagen werfen ihre Schatten voraus.

Du fragst mich, ob ich Pläne habe für den Tag, ob ich nach Hause fahre? Ich verneine.

«Und was nun mit diesem Tag?» frage ich. Du hältst kurz inne, die Falte, die sich ihren Weg vom Rande deiner linken Augenbraue bis in die Mitte der Stirn bahnt, zeigt sich von ihrer besten Seite. «Ich sag dir, was du tun wirst», sagst du.

Als ich am Freitagmorgen deinen Briefumschlag öffne, finde ich drei dicht beschriebene Seiten Papier, handgeschrieben. Ganz ehrlich, wer macht sich heutzutage noch die Mühe mit der Hand zu schreiben? Aber es passt du dir. Ich falte die Zettel auseinander und beginne zu lesen:

«Anleitung für einen Karfreitag»

Für alle, die sich dem Karfreitagsgefühl von Perspektivlosigkeit, Trauer und Melancholie einen Tag lang ganz hingeben wollen.

Denn auch das benötigt Liebe und Aufmerksamkeit. Klar, du kannst Karfreitag auch ganz still und heimlich verbringen. Dich einigeln, warten bis der Tag vorüber ist.

Aber auch der Tod, denn darum geht es ja letzten Endes, will zelebriert werden. Auf seine ganz eigene Art und Weise, mit deprimierender Musik, tiefgründiger Poesie, alten Geschichten, einsamen Orten und traurigem Essen.

Dunkelheit

Begib dich an einen Ort, an dem du dich wohlfühlst. Dein Lieblingssessel, in welchem das Kissen schon perfekt geknautscht ist. Oder die Bank im Park, von der der Lack überall abplatzt, mit dem Blick auf den See. Kannst du den Himmel, von dort wo du bist, sehen? Schau dich um, studiere deine Umgebung.

Ich weiss nicht, wann genau ich meine Liebe zur Lyrik entdeckt habe. Vielleicht war es als junge Erwachsene, in meinen ersten Jahren an der Universität. Ich besuchte Philosophie-Vorlesungen, las amerikanische Literatur und schaute Woody-Allen-Filme. Vielleicht war es die Szene in «Dead Poets Society», in welcher die Halbstarken sich in einer Höhle beschworen, ihr Leben in vollen Zügen auszukosten und dabei Thoreau zitierten:

«Ich wollte intensiv leben. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde innewürde, dass ich gar nicht gelebt hatte.»

Vielleicht war es die Intensität der Sprache, die mir so viel mehr über das Leben angesichts des Todes bedeutete als die Summe der einzelnen Worte. Wie unendlich wütend macht mich der Tod. Wütend über die Unwissenheit, mit der ich zurückbleibe. Die Unwissenheit über die grossen Zusammenhänge der Welt, über den Sinn des Lebens, über mich selbst. Wer bin ich schon?

Lies dir das Gedicht laut vor:

«Geh nicht gelassen in die gute Nacht/Glühe, rase, Alter, weil dein Tag vergeht/Verfluch den Tod des Lichts mit aller Macht

Denn weise Männer, wissend, nichts, was sie gedacht/Hat Licht gebracht ins Dunkel und es ist zu spät/Gehen nicht gelassen in die gute Nacht

Und du mein Vater, den, der bei dir wacht/Verdamm und segne weinend ihn. Hier mein Gebet:/Geh nicht gelassen in die gute Nacht/Verfluch den Tod des Lichts mit aller Macht» (Dylan Thomas)

Menschen lieben die Dunkelheit, aber eintauchen wollen sie nur in das Licht. Mit dem Tod geht das Licht. Unwissenheit bleibt zurück, und Wut.

Erinnerst du dich an einen Moment, in dem etwas in dir gestorben ist? Etwas woran du geglaubt hast, etwas das dich hat leuchten lassen.

Einsamkeit

Finde einen Ort, der unter normalen Umständen sehr belebt ist, heute aber still. Ein öffentlicher Platz, eine Einkaufsstrasse, ein Bahnhof zu einer ungnädigen Zeit. Was tun die Menschen hier? Ziehen sie nur vorbei oder halten sie sich hier länger auf?

Vor einigen Wochen bin ich allein ins Theater gegangen. Das Stück war mässig interessant, es war eine Premiere, trotzdem war der Oberrang kaum besetzt.

Ich buche meistens die Logenplätze. Die Sicht ist nicht wirklich gut, aber der Preis ist ok und ich ärgere mich nicht, wenn das Stück mir nicht zusagt. In der Loge sitze ich neben Fremden. Das Einzige, was wir teilen, sind die kleinen Reaktionen auf das Geschehen auf der Bühne.

Ich bin es gewohnt, ein Wir zu sein. Ich und meine Freund:innen, ich und meine Familie, ich und mein:e Partner:in. Ohne das permanente Rauschen anderer Wahrnehmungen und Gefühle ist es seltsam still. Einsam kann ich auch in Gesellschaft sein. Unter Freunden, beim Abendmahl. Ob Jesus wohl einsam war an seinem letzten Abend?

Die Einsamkeit an sonst belebten Orten ist besonders laut. Die Spuren bleiben zurück. Alles schreit danach, dass hier bis eben gerade noch gelebt wurde. Ein Kind ein Eis gegessen hat, eine Frau über die Strasse geeilt ist.

Menschen haben ihre Abdrücke hinterlassen, die sichtbaren und die unsichtbaren. So wie ein Stein, der plötzlich verschoben ist oder ein Paar Schuhe, das neben einem Papierkorb abgelegt wurde. Lebenszeichen, die auch in der Leere noch Geschichten erzählen.

Lies den Brief von Rilke an den jungen Dichter Franz Xaver Kappus:

«Mein lieber Herr Kappus, Sie sollen nicht ohne einen Gruß von mir sein, wenn es Weihnachten wird und wenn Sie, inmitten des Festes, Ihre Einsamkeit schwerer tragen als sonst. Aber wenn Sie dann merken, daß sie groß ist, so freuen Sie sich dessen; denn was (so fragen Sie sich) wäre eine Einsamkeit, welche nicht Größe hätte; es gibt nur eine Einsamkeit, und die ist groß und ist nicht leicht zu tragen.

[…] Denken Sie, lieber Herr, an die Welt, die Sie in sich tragen, und nennen Sie dieses Denken, wie Sie wollen; mag es Erinnerung an die eigene Kindheit sein oder Sehnsucht zur eigenen Zukunft hin, – nur seien Sie aufmerksam gegen das, was in Ihnen aufsteht, und stellen Sie es über alles, was Sie um sich bemerken. Ihr innerstes Geschehen ist Ihrer ganzen Liebe wert.»

All das, was in dir aufsteigt, ist deiner ganzen Liebe wert. Nicht mehr und nicht weniger. Und deshalb will es mit Liebe betrachtet werden. Besonders an Tagen, an denen man die Einsamkeit pflegt. Besonders an diesen Tagen.

Wie fühlt sich Einsamkeit für dich an? An wen hast du deinen letzten Brief geschrieben?

Bekenntnis

Geh nach Hause, lege dich in dein Bett. Wenn du magst, decke dich zu.

Als ich das erste Mal das Glaubensbekenntnis des Judentums gelesen habe, lernte ich gerade Hebräisch. Meine Hebräisch-Lehrerin war eine Dame mittleren Alters mit einem Faible für überdimensionierte Halsketten und Culotte-Hosen. Da sie eine eher klein gewachsene Frau war, wirkte sie damit schnell überladen.

Sie mochte mich nicht. Das traf sich, ich war auch nicht ihr grösster Fan. Aber sie liebte, was sie lehrte.

Wenn sie vom «Sch’ma Jisrael» erzählte, dieses Glaubensbekenntnis vortrug und uns erklärte, welche Praxis zu dem alten jüdischen Gebet gehört, schwebte die kleine, überladene Frau mit ihren schwingenden Hosen und Halsketten durch den Raum. Die Worte veränderten sie.

Bekenntnisse sind Kraftspender und Trostworte, ich muss nichts selbst glauben oder bekennen. Ich lege mich in die Worte hinein, tauche ein in ihre Wortwelten und bringe ihnen meine ganz eigene Bedeutung bei. Ich kann in den Worten verschwinden. Sie decken mich zu mit ihrem Klang.

Höre dir «In den dunkelsten Stunden» von der Band «Herrenmagazin» an.

«Ich glaube an das Böse im Menschen/ Ich glaube an das jüngste Gericht/ Ich glaube, Gott hat diese Erde verlassen/ Ich glaube noch eher, es gibt ihn nicht/ Ich glaube an den Tod im Vorbeigehen/ Ich glaube, dass man gut sein kann/ Ich glaube, es werden alle einsehen/ Sie tragen selbst die Schuld daran»

Wenn ich Worte für etwas finde, erschaffe ich meine eigene Wirklichkeit. Und sei es nur zu bekennen, ich bin verzweifelt. Ich weiss nicht mehr, woran ich glauben soll.

Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ein Bekenntnis der Verzweiflung. Ein Bekenntnis am Kreuz. Vielleicht kein Trost. Trotzdem Worte, an denen ich mich heute noch festhalten kann.

«Und in den dunkelsten Stunden/ Wirft der Schatten das Licht/ Löscht das Feuer die Brände/ Schweigt man sich aus über dich/ Spendet Streit seinen Trost/ Führt dich der Sturm in den Hafen/ In den dunkelsten Stunden/ Schlaflos erwachen»

Musik kann auch trösten. Mit Worten und Klängen. An welchen Worten hältst du dich fest?

Unser Spaziergang durch den Karfreitag ist nun zu Ende. Wenn du mit mir durch den Tag gegangen bist, sei freundlich mit dir. Tue dir etwas Gutes, koche dir dein Leibgericht, nimm ein Bad.

Du hast vieles gesehen und dir einige Gedanken gemacht. Du bist in die Dunkelheit hineingegangen. Vielleicht fühlst du dich nun etwas wohler dort.

 

Foto: Adrien Olichon @unsplash

Zur Einsamkeit auch der Podcast «Draussen mit Claussen»: «Einsamkeit, das zweite grosse Leiden dieser Zeit»

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