Spiritualität ist – so wie ich es wahrnehme – ein Begriff, der individuelle, meist nicht institutionalisierte Formen des Transzendenzbezuges beschreibt. Er umfasst in der Regel eine persönlich etablierte rituelle Praxis wie z.B. Meditation, Kontemplation, Stille, Yoga etc.
Meist sind spirituelle Praxen stark erfahrungsbetont (Körperübungen, Wahrnehmungsorientierung, Überwindung kategoriellen Denkens etc.) – und stehen tendenziell im Gegensatz zu intellektuellen Formen der Religionsausübung wie Lektüre, Predigt, Diskussion.
Oft wird die Spiritualität im Gegensatz zur verfassten und institutionalisierten Religion verstanden, die stärker auf Gemeinschaft und vorgegebene rituelle Formen ausgerichtet ist.
Bei genauem Hinsehen scheint mir diese Unterscheidung jedoch nicht zutreffend. Auch individuelle Praxen des Transzendenzbezugs folgen vorgegebenen Formen und schöpfen aus traditionellen Quellen (Zen, Yoga …) und werden nicht auch sie in Gemeinschaften (Meditationsgruppen, Workshops, Freundeskreise) ausgeübt?
Handkehrum können im institutionalisierten Kontext der Religionsausübung individuelle, klar erlebnisorientierte Erfahrungen gemacht werden: Beim gottesdienstlichen Gesang, im Erleben des Kirchenraumes, beim Erleben des Abendmahls…
Gibt es eine reformierte Spiritualität?
Mich beschäftigt die Frage, ob es typisch reformierte Ausprägungen der Spiritualität gibt. Und in einem gewissen Sinne kann ich sagen, Reformiert-Sein ist per se spirituell.
Die reformierte Kirche zeichnet sich durch Bekenntnisfreiheit aus und durch die ausgeprägte Betonung des Individuums und seines persönlichen Gottesbezugs.
Es gibt keine institutionalisierte Glaubenslehre, kein Lehramt – dem einzelnen Menschen wird zugetraut, dass er die Bibel liest und verstehen kann und das Geheimnis des Glaubens sich zwischen ihm/ihr und Gott ereignet. Er/sie ist in seiner Beziehung zur Transzendenz selbstverantwortlich.
Es gibt nur wenige gemeinschaftliche Formen in der reformierten Kirche. Auch die Gottesdienste sind – im Vergleich zu anderen Konfessionen – wenig gemeinschaftsstiftend. Reformiert sein heisst, seinen eigenen Glaubensweg gehen. Es ist tatsächlich eine nicht institutionalisierte Form des Transzendenzbezugs.
Aber ist Reformiert-Sein auch erfahrungsbetont anstatt intellektuell, was ja im gängigen Verständnis zur Spiritualität gehört?
Plötzlich in ganz neuem Licht
Ein oft gehörter Vorwurf an die reformierte Tradition lautet ja gerade, sie sei extrem unsinnlich, wortlastig, spreche nur den Kopf an, aber nicht die Gefühle und den Körper. Ein Gottesdienst sei intellektuelle Vermittlung von Inhalten.
Meine Rückfrage ist, ob die Fixierung von Spiritualität auf Körper, Wahrnehmung, Gefühl, Erleben nicht eine Engführung ist?
Ist es nicht auch ein spirituelles Erleben, wenn ich einen biblischen Text plötzlich in einem ganz neuen Licht sehe und verstehe? Wenn mir ein bisher übersehener Aspekt einer biblischen Erzählung deutlich wird? Oder wenn ich eine neue Nuance im Bedeutungsspektrum eines Wortes entdecke?
Ein solche Erleuchtung – als gedankliche Erweiterung meiner selbst – erlebe ich durchaus auch als Erweiterung meines Transzendenzbezugs. Sie ist Erfahrung – im besten, nicht einengenden Sinn des Wortes – als kognitiv verarbeitetes Erleben.
Zu Fragen ist zudem, ob ein klassischer reformierter Gottesdienst nicht auch eine spirituelle Erfahrung sein kann. Er ist ein extrem reduziertes, nüchternes Ritual: Sitzen, aufstehen, beten, singen, hören auf die Bibel und die Predigt. Er reduziert, was mich ablenken kann. Ich kann mich ganz auf das ausrichten, was da läuft.
In seiner Klarheit und Nüchternheit kann der klassische reformierte Gottesdienst mich zentrieren. Das ist sicher nicht für alle so, und sicher nicht immer. Aber das Ritual von sitzen-aufstehen-beten-singen-hören hat etwas vom Charme eines Zen-Sesshins …
Ganz im Sozialen!
Spiritualität und Seelsorge/Diakonie: Ein Aspekt, der mit zuweilen in der Diskussion über Spiritualität fehlt, ist der der Begegnung. In der Begegnung zwischen Menschen, z.B. auch in der Seelsorge oder im diakonischen Handeln, ist Spiritualität möglich. Ich beziehe mich dabei auf die Tradition der Buber‘schen «Ich-Du-Philosophie» bzw. auch auf ihre Adaption in der Gestalttherapie von Fritz Pearls.
Dort wo man sich auf ein Du jenseits von kategorialen Bestimmungen («Kunde», «Patient», «Linker» …) einlässt und also Begegnung stattfindet, da weitet sich die Perspektive immer auch zum «Ewigen Du» hin. Solche Begegnungen sind also immer auch Transzendenzerfahrungen – ganz ohne Übung, Ritual und Rückzug auf sich selbst – dafür aber ganz im Sozialen!
Matthias Berger ist reformierter Theologe, Seelsorger in der Bahnhofkirche in Zürich und Bereichsleiter Pfarrämter mit gemischter Trägerschaft. Ausserdem ist er im Team von «Kunst und Religion im Dialog» im Kunsthaus Zürich. Bei RefLab erschien von ihm eine Reihe von Gedichten, z.B. «immer siehst du mich».
RefDate ist das Spiritualitätsnetzwerk der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Wer im Raum Zürich wohnt, findet auf der Plattform mit mehr als hundert spirituellen Angeboten etwas Passendes in seiner Nähe: von traditionell christlichem Gebet über fernöstlich inspirierte Stillemeditation oder Exerzitien in Klöstern bis zu Yoga im Kafi Zytlos.
Blogpost von Johanna Di Blasi: «Ist Spiritualität die neue Religion?»
Video/Blogpost von Evelyne Baumberger: «Definition: Religion – Glaube – Spiritualität – Theologie»
Podcast «Holy Embodied» mit Christoph Walser und Patrick Schwarzenbach: «Verliert man als Pfarrer:in die eigene Spiritualität?»
3 Gedanken zu „Gibt es eine reformierte Spiritualität?“
Vielen Dank – wunderbarer Arikel – denkt und schreibt und podcastet gerne mehr zu diesem Thema!
Grundsätzlich bin ich einverstanden, dass die Protestantin ihren eigenen Weg zu Gott sucht und findet bzw. gesucht und gefunden wird. In einem reformierten Gottesdienst ist die Entwicklung spiritueller Gefühle schwieriger – es wird dafür nicht genug Platz und Zeit gelassen, d.h. Stille, jeweils nach den Eingangsworten, nach dem Gebet, nach dem Singen, nach einem Bibeltext….. ansatzweise habe ich das nur bei Pfr. U. Knellwolf erlebt. Üblicherweise wird die Liturgie dann noch unterbrochen durch Mitteilungen und ähnliches….
Lieber Matthias
Hier ist Burkhard. Danke für Deinen Beitrag.
Als jemand, der sich als spirituelle Person versteht, fühlte ich mich angezogen von deinem Thema “reformierte Spiritualität”, Fragezeichen.
Ich habe meinen eigenen Begriff von Kontemplation als dem Auflösen aller Bezüge. Ob er einem Reformierten, Katholiken oder sonst-Religiösen passe, ist mir nicht wichtig. Jedoch: ich biete ihn anderen gerne an zum Gebrauch.
Die entsprechende Praxis ist für mich therapeutisch in dem Sinne, dass es mir hinterher besser geht als vorher.
Ich fühle mich klarer, das heisst leichter nach meiner Kontemplation.
Ein Wahrheit suche ich nicht mehr. Die Klarheit dessen, was ich möchte, macht mir das Handeln einfach.
Vergängliche Präsenz als gangbarer Weg – anfangen, dranbleiben, üben.
Danke