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Ist Spiritualität die neue Religion?

Etwa 84 Prozent der Weltbevölkerung gehören einer Religion an, bei steigender Tendenz. In unseren Breiten ist die Entwicklung jedoch gegenläufig. Über 80 Prozent der Jüngeren können heutzutage offenbar prima ohne Religion leben. Brauchen sie auch keine Spiritualität?

Was ist Spiritualität und brauchen wir das?

«Was Religion ist, sagen dir die anderen, was Spiritualität ist, musst du selbst herausfinden.»

Ein anderer Spruch lautet:

«Religion ist für Menschen, die Angst haben vor der Hölle. Spiritualität ist für Menschen, die durch die Hölle gegangen sind.»

Spiritualität hat die besseren Karten

Religionssoziologische Erhebungen in westlichen Wohlstandsnationen ergeben seit Jahren übereinstimmend, dass Menschen auf der Strasse – sofern sie das Thema überhaupt interessiert – Spiritualität ein überwiegend positives und Religion ein eher negatives Zeugnis ausstellen.

Beispielhaft ist die gross angelegte internationale Studie von Heinz Streib und Ralph W. Hood, publiziert 2016 unter dem Titel «Semantics and Psychology of Spiriuality». Diese untersuchten, welche Attribute «Religion» und welche «Spiritualität» von Zeitgenossen zugeschrieben werden. Das Ergebnis ist deutlich:

Religion steht für «Dogmen», «Regeln», «Macht» und «Rückbindung» an Tradition, während bei Spiritualität Begriffe wie «Geist», «Suche», «Achtsamkeit» und «Realität» mitschwingen.

In traditionell-frommen Milieus – die allerdings wie Schweizer Gletscher schwinden – ist es andersrum: Dort stösst man auf einen idealisierten Religionsbegriff, während Spiritualität oft abgewertet und mitunter regelrecht verteufelt wird.

Ich finde es interessant, wenn fromme Spiritualitätsverächter, ohne es offenbar zu merken, spiritistisch argumentieren: «Pass‘ bloss auf, welche Geister du mit fremdländischen okkulten Praktiken anziehst!»

Treffe ich auf solche Reaktionen, verweise ich darauf, dass das Christentum selbst als Migrant zu uns kam und dass im Yoga sehr viel mehr westliches Bodybuilding und Turnvater Jahn stecken als viele wissen.

Asanas, also Körperhaltungen, wie wir sie heute praktizieren, sind wesentlich in einem christlichen Zentrum in Indien ausgearbeitet worden (siehe: «Ist Yoga eine Religion?», von Johann Hinrich Claussen in «Chrismon» oder «Erlösung ohne Erlösung» im «Spiegel».)

Ich weiss inzwischen freilich, dass an hart gesottenen fundamentalistischen Krusten selbst die stärksten Argumente abprallen. Und ich kann fromme Wagenburgmentalität bis zu einem gewissen Grad sogar verstehen. Dahinter verbergen sich ja häufig ernst zu nehmende Ängste vor Selbstverlust in einer Welt, in der vieles anders ist als es war.

Räucherstäbchen und Intoleranz

Ich persönlich empfinde keinerlei Widerspruch zwischen meinem Christsein und dem Praktizieren von Yoga- oder Zen-Übungen. Die meisten Christ:innen in meiner Umgebung sehen das ähnlich.

Als ich Theologie studierte, besuchte ich regelmässig ein Śri-Aurobindo-Zentrum, um Yoga zu praktizieren. Vor dem Porträt des spirituellen Meisters Aurobindo und Mutter Mirra Alfassa glimmten Räucherstäbchen, die Atmosphäre war liebevoll-sanft. Als ich aber auf Nachfrage sagte, was ich studiere, begegnete ich harschem Unverständnis.

Die westlichen Yogapraktizierenden empfingen ihr Selbstverständnis ganz offensichtlich aus der Abgrenzung gegenüber den eigenen christlichen Wurzeln. Das Christentum charakterisierten sie pauschal als gewaltlastig und blutbefleckt.

Ich wunderte mich über die intolerante Haltung gegenüber meinem Christsein und ging noch häufiger zum Yoga: als lebendes Beispiel für ein weltoffenes tolerantes Christentum.

Die Offenheit des Spiritualitätsbegriffs fasziniert heute viele

Aufgeschlossenheit für Spiritualität schliesst häufig Offenheit für spirituelle Erfahrungen und Praktiken aus unterschiedlichen Traditionen, Sympathie für interfaith dialogue und eine angstfreie, neugierige Haltung gegenüber neuen und kreativen Formen und Praktiken ein.

Dazu gehören z.B. Internet-Spiritualität, interspirituality oder, in Zusammenhang mit der globalen Klimaerhitzungsherausforderung, eine vertiefte Naturspiritualität («Tiefenökologie»).

Naturspiritualität sehen manche als neue Religion an, als Weltreligion des 21. Jahrhunderts.

Chronisch schwer fällt, wie am Beispiel meines Yoga-Studios aufgezeigt, vielen Multispirituellen die Integration des Christentums in den globalen Regenbogen der Spritualitäten. Die Aversion hat zu einem grossen Teil mit der aggressiven Missionsgeschichte zu tun, dem Pakt mit Kolonialismus und Imperialismus, aber auch mit Fehlformen bei uns.

Was im christentumskritischen holistischen Milieu gern unterschlagen wird: Spiritualität ist ein Spross des Christentums.

Die neuzeitliche Rede von spiritualité kam im 17. Jahrhundert im Umfeld mystischer Aufbrüche im französischen Katholizismus auf und war zunächst ein abwertender Begriff (vgl. Simon Peng-Keller zur spannenden Herkunft des Spiritualitätsbegriffs).

Ein muslimischer Religionsforscher, der um die Geschichte des Begriffs weiss, sagte mir: «Wir wissen nicht so genau, was wir über Spiritualität denken sollen. Es ist ja vor allem etwas Christliches.»

Ist Spiritualität die neue Religion?

Sowohl Aufgeschlossenheit gegenüber dem Zeitphänomen Spiritualität als auch Abwertung und Abgrenzung lassen sich als Ausdruck der fortschreitenden Globalisierung ansehen. Mit der Globalisierung geht die zunehmende Vermischung kultureller, religiöser und spiritueller Formen einher.

Ein Beispiel für das Vermischungsphänomen ist der global buddhism. Dort ist heute der westliche Einfluss kaum geringer als der östliche (vgl. «Who Owns Religion?» von Jørn Borup.) Auch das liberale Christentum integriert mit grosser Selbstverständlichkeit östliche Praktiken, zum Beispiel Yoga.

Bei globalisierten Religionsformen lässt sich immer schwerer bestimmen, welche Traditionen bestimmend sind.

Man kann es mit Fusion Kitchen vergleichen. Manche schmecken aus dem, was ihnen serviert wird, allerlei interessante Nuancen heraus und schwören auf das Zusammenspiel. Anderen dagegen schmeckt Fusion Kitchen gar nicht.

Spiritualität kann sowohl religiös als auch säkular oder religiös-säkular hybrid sein. Dadurch erscheint der Begriff inklusiver und umfassender als Religion. Das macht Spiritualität wahrscheinlich zukunftsfähiger.

Über das Verschwinden der Religion mache ich mir trotzdem keine Sorgen. Steckt Religion doch als nährende Wurzel überall drin, wo Spiritualität draufsteht – und umgekehrt.

 

Was denkt ihr über Spiritualität? Ist sie eine Bereicherung eures Lebens? Oder ist Spiritualität überschätzt? Hinterlasst bitte Kommentare oder füllt den Fragebogen zur individuellen Spiritualität auf www.reflab aus. Der Fragebogen soll dabei helfen, ein genauers Bild der heute gelebten Spiritualität zu erlangen.

Mit euren Kommentaren auf Social Media tragt ihr dazu bei, dass viele Leute Beiträge von RefLab lesen können. So sind nun mal Algorithmen eingestellt. 🙂

RefDate – ein Date mit dir und Gott

RefDate ist das Spiritualitätsnetzwerk der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Wer im Raum Zürich wohnt, wird auf der Plattform mit mehr als hundert spirituellen Angeboten bestimmt etwas Passendes in seiner Nähe finden: von traditionell christlichem Gebet über fernöstlich inspirierte Stillemeditation oder Exerzitien in Klöstern bis zu Yoga im Kafi Zytlos.

Eine orientierende Begriffsbestimmung von Religion, Glaube und Spiritualität unternimmt meine Kollegin Evelyne Baumberger in ihrem Podcast «Unter freiem Himmel».

 

Bild KI-geriert mit Adobe Firefly

Alle Beiträge zu «Ist Spiritualität die neue Religion?»

8 Kommentare zu „Ist Spiritualität die neue Religion?“

  1. Ich würde sagen, einen christlichen Glauben, der nicht spirituell ist, ist ein toter Glaube, denn Glaube zielt auf Veränderung der eigenen Persönlichkeit. Weil aber allgemein in der Christenheit der Glaube zu bloßer Dogmen- , Bibelgläubigkeit erstarrt ist, blieb den suchenden Menschen nichts anderes übrig Spiritualität woanders zu suchen.
    Ich selbst entdeckte zum Glück die Spiritualität des Christentums, die nicht in Konkurenz zur „östlichen“ Spiritualität steht: https://manfredreichelt.wordpress.com/2018/07/14/uebung-macht-den-meister/ , https://manfredreichelt.wordpress.com/2020/08/12/aktives-nichtstun/ (überhaupt ALLE Beiträge meines Blogs).

  2. Guten Morgen miteinander!
    Der computergenerierten Vorlesestimme konnte ich leider nicht lange konzentriert zuhören. Auch wenn der Text nicht allzu lang war, riss der Faden für mich viel zu oft. An den fehlenden oder unpassenden Betonungen bin ich gescheitert. Danke, das der Beitrag auch schriftlich hinterlegt ist.

      1. Meine Augen werden immer schlechter: irgendwann werde ich wohl für den vorgelesenen Text dankbar sein.
        Aber momentan schätze ich es noch, dass ich mich lesend immer meiner eigenen Versteh-Geschwindigkeit hingeben kann: Aha-Erlebnisse auskosten, Neues überdenken, eingefügte Links ev. öffnen, Altbekanntes überfliegen, Unbequemes hinterfragen…
        Beim Hören werde ich einfach mitgerissen. Kurz pausieren lenkt ab. Schlussendlich bleibt viel weniger hängen.
        Darum vielen herzlichen Dank für all die guten, durchdachten Texte, die ich sehr schätze!

  3. Früher erwartete ich, dass der Pfarrer für mich betet. Ich zahle schliesslich Kirchensteuer 😉 Heute brauche ich keinen Pfarrer, der für mich betet und mit Gott spricht. Ich beten selber, natürlich ist auch der Pfarrer und die Pfarrerin im Gebet eingeschlossen. So funktioniert für mich – als Laie – Spiritualität.

    Der Pfarrer ist nicht für mein Schicksal verantwortlich, ich bin für mich selber verantwortlich! So hat auch Weihnachten und Ostern für mich eine tiefere Bedeutung erlangt, die ich nicht missen möchte.

    1. Heute – am 23. Dezember 2023 – erzählt uns Willigis Jäger aus „Suche nach dem Sinn des Lebens“ eine schöne und tiefgreifende Weihnachtsgeschichte:

      Wir feiern das Geburtsfest eines Menschen, der später erkannt hat, dass er der Christus ist, der Gesalbte, der Göttliche. «Ich und der Vater sind Eins» wird er später sagen, und «Das Reich Gottes ist in Euch» und «Ich bin das Licht der Welt». Jesus hat den Prozess der vollen Menschwerdung durchgemacht, um zu er-kennen, dass er der Christus ist, der Gott-Mensch.

      Es geht heute nacht nicht darum, einen Geburtstag zu feiern. Wer in der Geschichte steckenbleibt, tötet das Lebendige der Botschaft dieser Nacht. Religiöse Botschaft bezieht sich nicht auf historische Tatsachen.

      Heute ist euch der Heiland geboren. Nicht damals vor langer Zeit. «Wär Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du wärst doch ewiglich verloren» (Angelus Silesius). Im Weihnachtsfest vollzieht sich – wie in allen christlichen Festen – der Mythos von der Entfaltung des Ewigen in der Zeit. Dieser Mythos vollzieht sich heute an uns.

      In der Geburt dieses Kindes feiern wir unsere göttliche Geburt. Dieses Weihnachtsfest soll uns unseren transzendenten Ursprung lehren und uns so unsere eigentliche Würde erfassen lassen. Es will uns die Identität mit Jesus Christus nahebringen, damit Jesus Christus in uns Gestalt annimmt, wie Paulus sagt
      (Gal 4,19), und wir ein anderer Christus sind. Das zu erkennen, ist die wichtigste Aufgabe des Lebens.

      Wir feiern dieses Fest, damit auch wir begreifen, dass wir Gottessöhne und Gottestöchter sind, dass auch wir «Gottmenschen» sind. Wir feiern dieses Fest, damit wir bei all unserer Plumpheit, Erdhaftigkeit und Dummheit doch merken, dass wir göttlichen Ursprung sind.

      Und nur, wenn wir das erkennen, werden wir auch entsprechend handeln. Die Moral kommt aus der Erkenntnis unserer Würde. Wir werden nicht würdig, weil wir uns moralisch gut verhalten. Wir sind würdig, und wenn wir erfahren haben, wer wir sind, dann werden wir uns auch entsprechend verhalten.

      Wir feiern dieses Fest, damit auch uns eines Tages aufgeht: «Ich und der Vater sind Eins» und «Das Reich Gottes ist in uns» und «Ich bin das Licht der Welt». Dieses Fest zeigt uns die Lichtseite unserer Existenz.

      Es ist die wichtigste Aufgabe der Zukunft, die Menschen ihre transzendente Identität zu lehren und sie so zu ihrer eigentlichen Würde zu führen. Das ist die wahre Aufgabe auch aller Religionen, die einzig wichtige Aufgabe unseres Lebens und der tiefe Sinn dieser Nacht.

      Herzlichen Dank Willigis Jäger! Ich wünsche Ihnen allen schöne und lehrreiche Weihnachten, auch wenn Sie die Geschichte erst zu einem späteren Zeitpunkt, im Frühling, Sommer oder irgendwann lesen.

  4. „Nach diesen Befunden „boomt“ Spiritualität nicht, weder als Begriff noch als soziales Phänomen. Die Reichweite des Religionsbegriffs ist deutlich höher.“
    aus: Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft – Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, S.25

    1. Danke für den Hinweis. Die KMU6 in Deutschland wie auch die Studie zu Schweizer Religionstrends (2022) ermittelten tatsächlich keine Daten, die die These einer „Renaissance der Spiritualität“ belegen. Spiritualität ist kein Breiten-, sondern ein Tiefenphänomen. Für mein Leben ist sie sehr bedeutsam, einen Widerspruch zu Religiosität empfinde ich nicht. Beides ist für mich verbunden.

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