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 Lesedauer: 9 Minuten

Was ist Interspiritualität?

Viele praktizieren heute mit grösster Selbstverständlichkeit östliche Meditations- und Entspannungsformen; mich eingeschlossen. Praktiken wie das indische Yoga oder das chinesische Qigong sind so sehr Teil des Lebens westlicher Menschen geworden, dass die Rede von fremd oder eigen immer weniger Sinn ergibt.

Bei der Beurteilung von «multipler religiöser Identität» (Perry Schmidt-Leukel), Mehrfachspiritualität oder auch interkonfessionellen Formen legen uns unsere Sprachen abwertende Bilder nahe: «Vermischung», «Mischmasch» oder auch «Verwässerung» und «Verflachung».

Sogar Unworte aus dem rassistischen Diskurs wie «Bastardisierung» schwingen mit.

Nicht Mischmasch, sondern neue Kulturen

Dem «Mischmasch» oder «Synkretismus» werden Reinheitsvorstellungen vermeintlich wahrer, tiefer, authentischer und ernsthafter religiöser und spiritueller Praxis kontrastierend gegenübergestellt. Natürlich gibt es geistlose Aneignung ohne Interesse an der Herkunftskultur. Sehr häufig aber bemühen sich Menschen, Verbindungen in der Tiefe herzustellen und Diversität authentisch zu leben.

Hinzu kommt: Religionen, auch die christliche, sind immer schon Mischphänomene gewesen und sie unterliegen Wandlungen.

Dem postmodernen Denken verdanken wir eine neue und frische Sicht auf kulturelle Begegnungsphänomene, die von Neugier anstelle von Angst geprägt ist.

Abwertende Begriffe insbesondere aus dem Kolonialismusdiskurs wurden in den vergangenen Jahrzehnten umgewertet. Kreolisierung (Kreolsprachen sind koloniale Mischsprachen) etwa bezeichnet in den heutigen Kulturwissenschaften gesellschaftliche Prozesse kultureller Durchmischung, an deren Ende kein Mischmasch steht, sondern eine neue Kultur.

Interspiritueller Dazwischenraum

Hybridisierung steht für Prozesse kultureller Fusionierung, die in einen Zustand «kultureller Hybridität» münden: in Situationen des intensiven synchronen Kulturtransfers.

Der Raum zwischen unterschiedlichen spirituellen Formen und Mischformen lässt sich mit dem Begriff «interspirituell» bezeichnen. Wenn sich unterschiedliche Linien, etwa bei verschiedenreligiösen Eltern, in ein und derselben Person verbinden, spricht man von «intrareligiös».

Der Charme von Interspiritualität liegt im Potenzial, durch Entgrenzung zu verbinden.

Die Herausforderung besteht darin, die eigene Identität im Zusammenspiel mit anderen Identitäten zu erweitern und gleichzeitig genauer herauszufinden, wer man selbst ist bzw. immer mehr man selbst zu werden.

Geräumiger G*ottesbegriff

Karen Anke Braun, ordinierte interspirituelle Seelsorgerin (OneSpirit Interfaith Foundation), die in Sozialen Medien als «interspirituell» unterwegs ist, schrieb als Reaktion auf meinen kürzlich veröffentlichten Blogbeitrag «Ist Spiritualität die neue Religion?»:

«Interspiritualität bedeutet nicht, einen Eintopf aller möglichen religiösen Bewegungen zu kochen, sondern einerseits ein Bewusstsein für Verbindendes zu haben. Andererseits steht der Begriff auch für die Zwischenräume, die von denjenigen Glaubenden ‹besiedelt› werden, deren G*ottesbegriff so weit geworden ist, dass er scheinbar Widersprüchliches zu einen vermag.»

Der Schweizer Jesuit und Zen-Meister Niklaus Brantschen erklärt in einem Interview im von mir 2023 herausgegebenen Heft zum Thema Interspiritualität des ökumenischen Magazins «Kunst und Kirche»:

«Konfessionen und Religionen sind verschieden, jawohl. Aber wenn sie tief genug geht, kann die Einheit bei aller Verschiedenheit als tragend erfahren werden. Dann kommt das dritte Moment dazu: die Einzigartigkeit. Aufgrund der Einheit und der Verschiedenheit kommt auch die Einzigartigkeit zutage, nicht nur zwischen Religionen, sondern auch zwischen Menschen.»

Der interspirituelle Raum ist ein spannender, ich würde sogar sagen heiliger Raum. Im interspirituellen Raum sind Bindungen an Traditionen gelockert, Dinge weniger festgefügt und Grenzen dazu da, überschritten – transzendiert – zu werden.

Das rückt den interspirituellen Raum in die Nähe des Raums der Kunst, der künstlerischen Freiheit und der Kreativität.

Welche Spiritualität brauchen wir im 21. Jahrhundert?

Im interspirituellen Raum können wir die kühne Frage stellen: Welche Spiritualität brauchen wir im 21. Jahrhundert? Welche Formen und Rituale brauchen wir, um spirituell zu (über-)leben und um den geplagten Planeten leben zu lassen?

Es ist wohl kein Wunder, dass in jüngerer Zeit gerade Künstler:innen ein verstärktes Interesses an Räumen zwischen Kunst, Religion und Spiritualität zeigen und dort als Vermittler:innen auftreten.

Die niederländische feministische Künstlerin Mathilde ter Heijne etwa, Professorin an der Universität der Künste Berlin (UdK), betrachtet sich als «facilitator» (Moderator oder Mediator). Die Niederländerin entstammt einem christlichen Background und ist heute eine Art Hilfspriesterin im afrikanisch-schamanischen Voodookult.

Die Künstlerin ist bemüht, in der Kolonialzeit gründende Vorurteile, hartnäckige Stereotype und kulturelle Abwertungen abzubauen. Ihre cross-kulturelle Kunst gemeinsam mit einem Berliner Voodoo-Priester, Messanh Amadegnato, bezeichnet sie als «lebendige hybride Praxis».

With all good vibes!

Die nigerianisch-britische Soundkünstlerin Evan Ifekoya sieht sich als «energy worker» und «healer». Die Künstlerin, deren Werke im Vorjahr im Migros Museum in Zürich zu erleben waren, verbindet Elemente traditioneller schamanischer Heilkunst ihres Volkes, der Yoruba, mit queerem Denken und aktueller Soundforschung. (Ein Kunstvlog zu Ifekoyas Sound Art findet sich hier.)

Evan Ifekoyas künstlerisches Material sind binaurale Beats und Solfeggio-Frequenzen, also meditative Klänge, healing sounds. Ohren und Körper werden im Museum von Tönen gestreichelt, aussen und innen fliessen ineinander. Ifekoya sagt:

«Ich glaube, alles geschieht genau dann und genau so, wie es soll. Durch Klang schaffe ich eine Lebenspraxis, um dem Verzweifeln keine Chance zu geben. Meine Vorfahren nutzten Kunst zum Heilen und erkannten, dass wir durch Klang Ordnung in das Chaos bringen. Das ist mein Erbe.»

Berührungspunkte gibt es zwischen ihren Soundinstallationen und Obertonmusik, die sich u.a. auch in der christlichen Musiktradition findet.

Trennlinien werden zu komplexen Kurven

Im Dazwischenraum von Kunst, Religion und Spiritualität geschieht heute, was der postmoderne Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro über den «transspezfischen» Dialog sagt, also die Kommunikation über Artengrenzen hinweg:

«Parallele Trennlinien [werden] zu einer unendlich komplexen Kurve [verbogen]. Es geht nicht darum, Konturen zu verwischen, sondern sie zu falten, verdichten, verzerren, irisieren, fraktalisieren.»

Auffällig ist: Bezugnahmen auf spirituelle Traditionen werden in der Kunst heute nicht mehr vorschnell als Esoterik oder Ethnokitsch abgetan. Eher schwer fällt allerdings, v.a. aufgrund der Geschichte christlicher Missionierung, die positive Bezugnahme auf christliche Religion und Spiritualität.

Zur Wahrheit gehört allerdings: Der interfaith dialogue des 20. Jahrhunderts wurde wesentlich von Christ:innen mitinitiiert. Den Begriff interspirituality prägte ein amerikanischer Mönch, Wayne Teasdale, in den 1990er-Jahren im Kontext von new monasticism und deep ecumenism.

Teasdale leitete aus der spirituellen Verbundenheit (connectedness) eine gemeinsame Verantwortung aller Menschen für den Planeten ab; durchaus vor dem Hintergrund der Ökologiekrise und aus pazifistischer Motivation.

Interspiritual mysticism und deep ecumenism

Der Begriff interspirituality taucht erstmals in Teasdales Hauptwerk auf: «The Mystic Heart: Discovering a Universal Spirituality in the World’s Religions», erschienen 1999. Teasdale ist Schüler des legendären Benediktinermönchs Bede Griffiths (1906-1993), der mich seit meiner Schulzeit fasziniert.

Bede Griffiths hat in seinem Ashram in Indien bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts christliche, hinduistische und buddhistische Elemente interspirituell verbunden und neben religiösen auch nicht-religiöse Menschen fasziniert.

Heute schwingt in dem Begriff «interspirituell» besonders auch die Dimension einer Spiritualität mit, die über den interreligiösen Dialog hinaus offen ist für säkulare, postreligiöse («religionslose Religiosität») und postsäkulare Zugänge; und offen auch für Zweifel.

Postreligiöse wie auch postsäkulare Spiritualität werden beispielsweise in Hinblick auf Spiritual Care diskutiert, der seelischen Betreuung schwer erkrankter Menschen.

Gibt es tatsächlich ein geteiltes Bewusstsein hinter spirituellen oder mystischen Strömungen der Welt? Kann im interspirituellen Austausch etwas entstehen, das etablierte Traditionen aller Beteiligten überschreitet und das für religiöse wie nicht-religiöse Menschen bedeutsam und wertvoll ist?

Die Väter der Interspiritualität glaubten dies.

Das interspirituelle Zeitalter

Dass sie als christliche Mönche christozentrisch dachten, also Jesus Christus als Erlöser ins Zentrum der Schöpfung stellten, liess allerdings den Verdacht aufkommen, ihre Propagierung eines «interspiritual age» sei ein verdeckter Versuch einer Christianisierung des Hinduismus in Indien. So sieht es etwa Kenneth Rose, Experte für Weltreligionen:

«The vision of a Christian India, so beloved of the pioneers of interspirituality, implies not a plural quest of spiritual equals for an exchange, but rather an inclusivistic attempt to transform Hinduism into an ethnic variety of Catholicism.»

«Die Vision eines christlichen Indiens, die den Pionieren der Interspiritualität so am Herzen liegt, impliziert nicht eine pluralistische Suche von spirituell Gleichgestellten nach einem Austausch, sondern vielmehr einen inklusivistischen Versuch, den Hinduismus in eine ethnische Variante des Katholizismus zu verwandeln.»

Im interspirituellen Labor

Die Untersuchung von Interspiritualität ermöglicht es nicht nur, spirituell-fliessende Formen als Gemeinsamkeit (common ground) zu entdecken, sondern auch problematische Übernahmen und Aneignungen («Spirituelle Appropriation») zu erkennen.

Aneignung kann so weit gehen bzw. so unverschämt sein, dass westliche Gurus nicht-westlichen Buddhist:innen, die weitaus in der Mehrzahl sind, erklären wollen, was wahrer Buddhismus sei.

Der Backlash sieht so aus, dass einige radikale Stimmen inzwischen behaupten: Nur Buddhisten unter den Religionswissenschaftler:innen seien befugt, sich über Buddhismus zu äussern und darüber zu publizieren.

Interspiritualität kann ein Labor und Möglichkeitsraum sein, wo heute jenseits identitärer Verengungen, aber auch jenseits strenger Appropriationsverbote neue spirituelle Verbindungen gestiftet und alte Vorurteile abgebaut werden.

In einer Zeit sich verschärfender kriegerischer Konflikte und identitärer Verhärtungen kann Interspiritualität fluide Zeichen der Neugier und des Austausches setzen.

Entspiritualisierung weicht Respiritualisierung und erfinderischem Mut!

Ich stelle mir den Raum der Interspiritualität vor …

  • als offenen Raum, wo nicht Meister und Schüler zusammenkommen, Experten und Laien, sondern Wissen, Fähigkeiten, Charismen, geteilte «Issues» (soziale Gerechtigkeit, eco-friendliness, Friedensengagement).
  • angesiedelt zwischen privat und öffentlich, also als «third space» (wie Kirchen, Cafés, Parks); hier können individuelle Erfahrungen in Kontakt mit gemeinsamen Formen und Anliegen kommen; die jeweilige spirituelle Biografie ist wertvoll für alle.
  • Wissensträger:innen können menschlich und anders-als-menschlich sein (z.B. Pflanzen als Heilerinnen; Bienen-Wissen).
  • hybride Formen, Kreuzungen, Kreolisierungen sind erwünscht und werden gefördert. Die Achtsamkeit für wertende Unterscheidungen, z.B. zwischen Hoch- bzw. Buchreligionen versus «Naturreligionen» (ein kolonialistischer Terminus) wird vergrössert, um solche Unterscheidungen aufzulösen.
  • die Anderen (anders-religiös, multiple-religiös, nicht-religiös etc.) werden nicht eingeladen, um «etwas beizutragen», sondern um den interspirituellen Rahmen und die Spielregeln mitzubestimmen.
  • Teilnehmer:innen des interspirituellen Austausches bleiben sicher ihrer je eigenen Herkunft und Prägung bewusst. Verschmelzung ist möglich, aber genauso Klärung des Eigenen.
  • als Labor, in dem Menschen ohne oder mit Religionsverbundenheit und aus verschiedenen Kulturen und Disziplinen kommend gemeinsam darüber nachdenken, welche Spiritualität wir im 21. Jahrhundert brauchen.

RefDate – ein Date mit dir und Gott

RefDate ist das Spiritualitätsnetzwerk der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Wer im Raum Zürich wohnt, wird auf der Plattform mit mehr als hundert spirituellen Angeboten bestimmt etwas Passendes in seiner Nähe finden: von traditionell christlichem Gebet über fernöstlich inspirierte Stillemeditation oder Exerzitien in Klöstern bis zu Yoga im Kafi Zytlos.

Weitere Links

2023 erschien im ökumenischen Magazin «Kunst und Kirche» ein Heft mit dem Titel «Interspiritualität – Die Kunst der (Ver-)Wandlung», hg. von J. Di Blasi. Darin finden sich u.a. Interviews mit Evan Ifekoya sowie ein Essay von Mathilde ter Heijne.

Das Standartwerk zu Interspiriualität: Wayne Teasdale, The Mystic Heart. Discovering a Universal Spirituality in the World’s Religions.

Podcasts der Reihe TheoLounge mit Niklaus Brantschen («Gott loslassen – um Gottes Willen!» und «In der Mystik können wir uns begegnen») sowie Claudia Kohli Reichenbach (Spiritual Innovation Lab).

Bild KI-geriert mit Adobe Firefly

Alle Beiträge zu «Ist Spiritualität die neue Religion?»

3 Kommentare zu „Was ist Interspiritualität?“

  1. Mir scheint, das „Meer“ der Interspiritualität hat hat für den Odysseus zu viele Steilküsten und Sirenen, die Möglichkeiten sind viel zu vielfältig als das man damit einfach mal rumexperimentieren könnte ohne über kurz oder lang in Überforderung zu zerschellen oder in tötlichem Schlaf zu versinken. Hohe Verluste in der Mannschaft sind ebenfalls vorhersehbar. Inkompatibilitäten sind schwerer als bei den Anschlüssen einer Soundanlage zu erkennen und müssen am eigenen Leib erfahren werden. Und am Ende landet man doch wieder nur bei einem neuen Steiner, Baghwan oder einem anderen geistlichen Führer. Sich dem Wunsch nach einer Minimalstruktur, Begleitung und Bestätigung zu verweigern, das schaffen die wenigsten. Ich zumindest nicht. Für mich macht es mehr Sinn, in dem mir vertrauten Kontext mit vertrauten Menschen gemeinsam nach neuen Möglichkeiten der Gotteserfahrung zu suchen.

    1. Danke Ratos, für diesen Kommentar, aufrichtig und mit herrlichen Sprachbildern. Beim Vertrauten ansetzen und sich von da zum Unvertrauten – dem alles Übersteigenden, Grenzenlosen, Transformierenden, Göttlichen – vortasten, finde ich wunderbar. Vielleicht erweist sich dieses dann sogar als das eigentlich Vertraute, das im tieferen Sinn Vertraute … Gott, du bist mir innerlicher als mein eigenes Inneres … Was ich nicht teile, ist die Angst vor dem Fremden, Angst ist kein guter Ratgeber, aber vielleicht höre ich da etwas aus dem Kommentar heraus, das gar nicht intendiert ist.

      1. Das Wort „Angst“ ist vielleicht etwas zu groß. Erfahrungsbegründete Befürchtungen trifft es wohl eher. Interspiritualität ist ja an für sich nichts neues, nur sind die Rahmenbedingungen, die Gründe seinen geistlichen Grund und Boden zu erweitern und auch Ziele, die man damit erreichen will für mich neu und anders. Ich weiß mittlerweile mehr zu schätzen was ich schon hatte und auch was ich nicht mehr will. Ich habe eine größere Akzeptanz für Menschen mit mir fremden Einsichten und Lebensentwürfen gewonnen, möchte längst nicht mehr alles mit der Kompatibilität für mein eigenes Leben bewerten. Aber ich kenne mich mittlerweile auch selbst gut genug um zu wissen, dass mir nicht alles guttut was mir gut erscheint. Um das Bild vom Meer noch mal zu bemühen: Ich bin nicht wasserscheu geworden, segele mittlerweile aber lieber in mir bekannten Gewässern.

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