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 Lesedauer: 7 Minuten

Eine Zwischenzeit: die Rauhnächte

Falls ihr noch etwas waschen müsst, dann heute oder morgen. Einer der üblichen Sprüche meiner Mutter kurz vor Weihnachten. Alles, was man noch brauchte, musste vor dem Fest gewaschen sein.

Dies war nicht der mangelnden Motivation meiner Mutter geschuldet, sondern einem Aberglauben, den es bei uns zuhause gab. Zwischen Weihnachten und Neujahr durfte keine Wäsche gewaschen werden. Nun gut, eigentlich durfte keine Wäsche rausgehängt werden, aber bei uns wurde dieser Brauch sehr ernst genommen, weshalb gar nicht erst gewaschen wurde in dieser Zeit.

Die Rauhnächte (auch «Raunächte»). Die Zeit zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag. Die Zeit zwischen den Jahren. In Artikeln zu dieser Zeit finden sich viele ähnliche Sätze:

Die Nächte sind lang und dunkel. Das Wetter ist oft stürmisch. Man ist auf sich selbst zurückgeworfen.

Ein post-Festtags-Hype

Ich bin in einer Buchhandlung. Auf dem Tisch neben der Kasse liegen Bücher zu den Rauhnächten: «Das Geheimnis der Rauhnächte», «Das Wunder der Rauhnächte» und «Die weibliche Energie der Rauhnächte. Eine magische Reise für Frauen». Die Cover der Bücher zieren Monde und Tannenzweige.

Die Rauhnächte liegen im Trend. Reflexionssets mithilfe derer die Tage bis zum neuen Jahr bewusst gestaltet werden können, Prozesse des Loslassens und neu Ausrichtens werden angestossen.

Aber auch Online Retreats und Journaling Kits. In der «Brigitte» werden mir 5 Rituale nähergebracht, mit denen ich meine Wünsche für das nächste Jahr manifestieren kann.

Ich blättere in den Büchern. Die weibliche Energie verspricht mir einen Wandlungsprozess, der sich ähnlich liest wie ein Ratgeber zum Durchschreiten der weiblichen Zyklusphasen. Das mir bei Instagram angebotene Journaling Kit verspricht eine Prozessbegleitung. Ich fülle zu entsprechenden Impulsen kleine Heftchen aus. Reflexionsprozess zum Jahreswechsel statt Raketentamtam.

Rituale, Meditationen, Reflexionen und Manifestationen. Der Rauhnächte-Hype bietet einiges an Beschäftigungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Und entspricht damit vermutlich der Sehnsucht nach bewusster Lebensgestaltung.

Sensible Zeiten

Die Dezember-Endzeit. Eine Zeit, in der ich dünnhäutig bin. Ich habe nichts zu tun. Im Fernsehen laufen die Kindheitsklassiker, Termine habe ich keine, ausser ich habe sie mir bewusst gesetzt.

Es ist eine Zeit, in der sogar das Wetter egal ist. Weil es nicht wichtig ist, was ich anziehe und wie schnell ich wieder in Innenräumen bin. Ich muss nämlich nicht zwingend vor die Tür. Wohl die einzige Zeit im Jahr, in der niemand unter FOMO leidet (aber auch nur bis Silvester, das ist die Hochzeit von FOMO).

In den Rauhnächten tut sich ein Fenster zu der Geisterwelt auf. Zumindest besagen das die alten Geschichten, die sich in der guten Stube nach Weihnachten erzählt wurden. Die Tore zur Zwischenwelt sind offen, Verstorbene kehren zurück, Dämonen treiben ihr Unwesen.

Wenn die Geister zwischen Tag und Nacht unterwegs sind, ziehen sich die Menschen in die Häuser zurück. Der Rückzug passt zu der neuen Sensibilität der letzten Jahre.

Die einst auferlegte Auseinandersetzung mit dem Selbst wird nun zur Paradedisziplin. Aufgeladen und bereichert durch Selbstfindungs- und Lebensgestaltungszeremonien. In Wendezeiten sind wir besonders sensibel. Und das sind wir bekanntlich nicht besonders gern.

In dem Märchen Allerleirau trägt die verstossene Prinzessin einen Mantel aus allerlei Rauwerk. Einen Mantel aus zusammengeflickten Stücken Pelz der Wildtiere. Sie schützt sich damit vor den Tieren im Wald, wenn sie schläft. Sie wird selbst für ein Wildtier gehalten unter ihrem Mantel. Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr macht mir meine Schutzbedürftigkeit bewusst.

Du solltest auf gar keinen Fall…

Ein Brauch besagt, wenn in dieser Zeit Wäsche aufgehängt wird, stirbt jemand. Die genauen Umstände des Todes waren nicht weiter festgelegt. Aber die Vorhersehung war dramatisch genug. Meine Mutter wollte es nicht riskieren, einzig und allein aufgrund von gewaschener Wäsche einen Todesfall heraufzubeschwören.

Ich lese mir den Wikipedia-Artikel zu den Rauhnächten durch und bekomme direkt eine Erklärung für den Wäschebrauch, der in meiner Familie gilt. Der Aberglaube dazu besagt, Dämonen verfangen sich in der Wäsche. Wenn die Geister aus der Zwischenwelt übers Land ziehen, werden sie von den weissen Laken im Garten angezogen und bleiben bei dem Haus.

Im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens finden sich allerlei Einträge zu den «Rauchnächten», wie sie dort noch geschrieben werden:

«Man muß sich in den Rauchnächten vor allem möglichen bösen Zauber hüten. Man soll nicht dreschen, sonst verdirbt das Getreide, so weit man den Schall hört. Man muß in einen Kübel husten und die Kinder auf Decken wiegen (so still muß es sein). Wenn man sich auf einen Tisch setzt, so kriegt man Furunkel. Ein Mädchen, das vor den Rauchnächten ihren Wickel nicht abgesponnen hat, kommt das Jahr nicht zum Heiraten oder kriegt einen bärtigen Mann oder stirbt […].»

Ich kann nichts tun, ohne entsprechende Konsequenzen zu erwarten. Dann doch lieber selbst in die Hand nehmen, was ich kontrollieren und steuern kann. Und mit Aktivismus ins Handeln und Verändern gelangen.

Irgendwas passiert immer

Transformationsprozesse bedürfen einer Reflexion, um diese erst als solche zu erkennen. Wenn unser Leben aus den Fugen gerät, ungeplante Umbrüche über uns hereinbrechen, sind wir erstmal mit Aufräumen beschäftigt. Im Inneren sowie manchmal auch im Äusseren.

Neuanfänge zu gestalten, besonders wenn sie sich ankündigen, setzt Aktivierungsenergie in uns frei. Sich selbst zu verändern, fällt leichter, wenn sich auch äusserlich etwas verändert. Die klassischen steigenden Zugänge in Fitnessstudios mit Beginn des neuen Jahres sind ein hervorragendes Beispiel.

Wenn das neue Jahr sowieso kommt, kann ich auch ganz bewusst das Alte loslassen und in mir selbst einen Transformationsprozess anstossen. Oder zumindest den Übergang bewusst gestalten.

Gestaltungswut

Apropos gestalten. Menschen gestalten Dinge. Sie feiern Abschiede und zelebrieren Neuanfänge. Menschen richten Weihnachtsfeste und Silvester aus. Sie schauen «Dinner for one» und giessen Blei. Sie inszenieren Geschenkübergaben und Jahresabschlussfeiern.

Das Leben auf uns zukommen lassen, liegt uns nicht.

Worauf ich hinaus will, ist: Mit diesen neuen 12 Monaten, die da vor mir liegen, bin ich manchmal überfordert. Nicht umsonst machen Menschen sich Jahrespläne. Daran, dass es Dinge gibt, die geschehen, an denen wir nichts ändern können, haben wir uns mittlerweile gewöhnt.

Dass wir trotzdem versuchen, diese berechenbarer zu machen, versteht sich von selbst. Ein neues Jahr kommt, ist so. Kann ich nicht ändern. Aber ich kann mich nichtsdestominder darauf vorbereiten.

Alles ist möglich

In den Rauhnächten kommen uns unsere Möglichkeiten nahe. Der eine Traum, den ich schon seit einigen Jahren mit mir herumtrage, der in meiner Vorstellung so rosig aussieht und hell glitzert. Diesen Traum krame ich in den Rauhnächten hervor und prüfe ihn, ein ums andere Mal. Vielleicht um ihn dann wieder zurückzulegen, in das kleine Kästchen, das hinten links in meinem Ordnungssystem im Regal steht.

Überbordende Möglichkeiten mit einer Prise Ungewissheit. Mary Chapin Carpenter singt in ihrem Lied New Years Day von den Gedanken, in denen wir besonders zu Beginn des neuen Jahres schwelgen.

«And I feel like we belong among/ The living and these ghosts/ And I know that I am dreaming/ As I memorize each part/ In the telling lies a reverie/ In the details lie the heart»

Ausdruck finden diese Möglichkeiten in den Wünschen und Träumen, die in den Rauhnächten besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Die Träume, die in dieser Zeit eine Vorhersehung für das kommende Jahr sein sollen. Die Wünsche, die in einem Ritual auf kleine Zettel geschrieben und verbrannt werden.

Und nun, was tun?

Frühere Rituale der Rauhnächte sind geprägt von Dunkelheit und Einkehr. Einer Vorausschau auf das kommende Jahr. Sei es, die Nächte sagen das Wetter für das kommende Jahr voraus, oder in den Träumen zeigen sich zukünftige Begebenheiten. Ebenso ist die Nähe zu Geistern und der Zwischenwelt in Zeremonien präsent.

«An diesen Abenden durchräuchert ein Priester alle Räume des Hauses und die Ställe mit geweihten Kräutern oder Weihrauch und besprengt sie mit Weihwasser. Dazu werden Gebete gesprochen, um Hexen und böse Geister zu vertreiben.»

Das Ausräuchern wird auch heute noch als Ritual für die Rauhnächte angepriesen. Neben den vielen anderen Angeboten. Die Welt verändert sich und ich versuche Schritt zu halten. Den jahreszeitlichen Prozess nehme ich in den Rauhnacht-Ritualen auf und fülle ihn mit meinen Highs und Lows des vergangenen Jahres, sowie meinen Hoffnungen für das Kommende.

Rituale sind wichtig, um Übergänge und Wendezeiten zu bewältigen. Sie wiederholen sich, schenken Sicherheit in diesen sensiblen Zeiten. Meine Bedürftigkeit wird mir besonders bewusst, wenn ich nichts zu tun habe. Gerade in den Rauhnächten.

Also reflektiere und gestalte ich, verbrenne Zettel und schreibe Träume auf. Vielleicht kaufe ich mir auch noch dieses Buch mit der weiblichen Energie. Oder vielleicht liege ich auch einfach auf dem Sofa und schaue Filmklassiker. Ganz sicher werde ich aber bestimmt niemals, auf gar keinen Fall auf die Idee kommen, Wäsche zu waschen. Niemals.

 

Bild: Alexandra Lazarescu/Unsplash

1 Kommentar zu „Eine Zwischenzeit: die Rauhnächte“

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