Alle Jahre wieder ist es noch ein bisschen hin. Ein paar Stunden noch bis es los geht. Jubel, Trubel, Heiterkeit. Ramba zamba. Friede Freude Lebkuchen und Weihnachtsstollen. Alle Jahre wieder muss auf die letzte Minute noch eine Kleinigkeit für den Schwager besorgt werden. Zum Glück haben die Geschäfte noch auf. Alle Jahre wieder Geschenkpapier schlachten. Einen über den Durst essen.
Viel hilft viel, und wenn jeder noch etwas zum Nachtisch mitbringt, dann können wir von dem Kuchen und der Torte und dem Tiramisu noch mindestens eine Woche gut leben. Ganz zu schweigen von den Adventskalender-Schokoladenresten, die immer noch mit verbraucht werden wollen.
Alle Jahre wieder alles auffahren für die grosse Show. Während die Scheinwerfer in Position gebracht werden, ist der Braten das Minimum an Füllmaterial. Frei nach dem Song «Rolling around the Christmastree». Apropos Weihnachtsbaum. Schön muss es aussehen, festlich und elegant. Klar. Aber im Zweifelsfall macht man auch aus dem kleinsten Stall ein Weihnachtszimmer. Wir schmücken einfach gegen die grauen Gedanken an. Welt ging verloren, Christ ist geboren.
Singen, laut und bestenfalls schräg.
Alle Jahre wieder war der Baum letztes Jahr aber trotzdem schöner und alle Jahre wieder wird jemand vermisst am Weihnachtstisch. Das Auto voll packen, um zu der Familie zu fahren, oder das voll bepackte Auto erwarten. Alle Jahre wieder überlegen, wann es das letzte Mal an Weihnachten geschneit hat.
Alle Jahre wieder gibt es kleine Enttäuschungen und grosse Fettnäpfe, in die getreten werden will. Grosse Erwartungen und kleine Hoffnungen, die sich in den Herzen breitmachen. Kleine Wunder und grosse Worte. Grosse Pakete und kleine Aufmerksamkeiten.
Kleine Menschen, die grosse Augen machen. Und grosse Menschen, denen bestimmt in dem ein oder anderen Wohnzimmer eine kleine Träne über die Wange kullern wird. Apropos grosse Menschen und ihre Verstrickungen. Wir kommen ja doch zusammen, trotz allem, was gewesen ist. Und falls nicht, sei dir gewiss, ich denk an dich.
Christ ist erschienen, uns zu versöhnen? Die Kernfamilie ist also beisammen. Wobei das bei Maria und Josef ja direkt schon schwierig wird mit der Kernfamilie. Eine schwangere Frau, wer der Vater des Kindes ist, ist unklar, aber mit einem Mann ist sie trotzdem unterwegs.
Nun denn, zu den Grosseltern fährt man am ersten Weihnachtstag – aber wenn die Kinder schon etwas größer sind, stellt sich natürlich auch die Frage, wer von den Partner:innen nun auch da ist. Josefs Familie müsste ja auch eigentlich in Bethlehem sein, aber da die beiden auf Herbergssuche nicht die Schwiegereltern anvisieren, scheint es da auch Schwierigkeiten zu geben. Das eine Geschwisterkind zieht sich halt immer raus.
Heiligabend findet sich nicht selten Wahlverwandtschaft.
Bei denen, wo Bethlehem oder Zuhause zu weit entfernt ist. Alle Jahre wieder: Wahlverwandtschaft in Freunden oder in Ochs und Esel und Hirten. Und wieder kommt das Christuskind, auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind.
Weihnachten ist also angerichtet. Gnadenbringende Weihnachtszeit. Das Setting für den Abend ist irgendwann klar, gleichermassen auch die Protagonisten. Zumindest jeder weiss, wer mitspielt. Die angeheiratete Tante und die drei Könige. Konflikte sind sowieso vorprogrammiert. In der Geschichte, die erzählt wird, jedes Jahr aufs Neue.
Aber auch in den Geschichten, die wir jedes Jahr an Weihnachten wieder und neu miteinander schreiben. Wir fallen in eine alte Geschichte und schreiben neue Geschichten.
Jedes Jahr werden alte Erinnerungen neu geschrieben. Die Bilder werden nachgestellt, die Krippe in der Kirche oder in den Wohnzimmern, bei den leuchtenden Weihnachtsbäumen. Die dargebrachten Geschenke, Gold, Weihrauch und Myrrhe werden präsentiert.
Freue, freue dich!
Die Emotionen kommen mit den Ritualen, mit der Musik und den Bildern. Wir können gar nicht anders. Die Geschichte, in die wir gefallen sind, verwebt sich jedes Jahr aufs Neue mit unserem Leben an diesem Abend.
Maria und Josef finden eine Herberge bei uns im Wohnzimmer.
Christ ist erschienen, uns zu versöhnen. Mit unseren vergessenen Geschenken, den Familienkonflikten und Wahlverwandtschaften. Mit den Menschen, die wir vermissen, besonders heute, und den grauen Gedanken, die neben dem Weihnachtsbaum stehen. Alle Jahre wieder wird Gott mit uns und unseren Liebsten feiern.
Ich glaub dran. Noch ist es ein bisschen hin. Noch ein paar Stunden, bis es losgeht.
Und jetzt nochmal innehalten. Durchatmen. Kurz auf Pause drücken.
Kurz innehalten. Einmal die Augen schließen. Ich blicke zurück auf das, was war. Die letzten Wochen und Monate. Auf die schönen Momente. Auf die Momente, in denen Tränen geflossen sind.
Ich blicke zurück auf alle Anstrengungen und das Hin und her und die Änderungen in letzter Minute. Ich blicke zurück auf die dunklen letzten Wochen, den ersten Schnee und die Tage, an denen ein Licht angezündet wurde. Jede Woche wurde es etwas heller.
Jetzt ist der 24. Dezember.
Ich sehe die Lichterketten. Ich sehe die Kugeln, die schon am Baum hängen, die Strohsterne und das Engelshaar. All die zum Verschenken bereit gestellten Präsente. Liebevoll eingepackt, mit Schleifen und Anhängern. Ich sehe die Hoffnungen und Wünsche, die kleinen Träume für alles was kommt.
Ich denke, an die kommenden Stunden. Die Menschen, die mir die liebsten sind. Diese besondere Zeit im Jahr.
Ich denke an die Stille, die heute Abend irgendwann einkehren wird. Ich denke an die Menschen, die ich vermisse, dieses Weihnachten. Und das Wohnzimmer wird zur Herberge für mich, mit meiner Sehnsucht und meinen Träumen.
Foto: Annie Spratt/unsplash