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 Lesedauer: 8 Minuten

Der Tag der seltenen Krankheiten

29.2.2024 ist ein rarer Tag – und gerade deshalb wurde er als internationaler Tag der seltenen Krankheiten gewählt. An diesem Tag soll auf die Anliegen und Lebensrealitäten der Betroffenen aufmerksam gemacht werden.

In der Schweiz gibt es zwar fast keine epidemiologischen Daten über seltene Erkrankungen (warum eigentlich nicht?!).

ProRaris spricht von etwa 580‘000 betroffenen Menschen.

Das sind nicht wenige, trotzdem laufen sie im Alltag unter dem Radar von so vielen. Wie ich auch hier auf RefLab bereits geschrieben habe, gehöre auch ich zu dieser anonymen und etwas diffus anmutenden Gruppe – ich habe ein Ehlers Danlos Syndrom.

In meinem Umfeld habe ich Stimmen von Menschen gesammelt, die wie ich von einer seltenen Erkrankung betroffen sind. Ebenfalls gibt es dazwischen eingestreut Tipps zur Unterstützung der Betroffenen.

Einsamkeit, Ungerechtigkeit, medizinische Unterstützung

Anni: Ich bin krank und wünsche mir, dass meine Aussagen nicht ständig hinterfragt werden. Etwa, wenn ich Bedürfnisse äussere oder auch einfach nur über die Erkrankung rede. Ich meine damit auch gutgemeinte Kommentare wie «aber du siehst doch gar nicht krank aus». Auch das Anbieten von vermeintlichen Lösungen zählt da für mich dazu.

Ana: Ich wünsche mir mehr Aufklärung, Verständnis und Unterstützung, auch seelische.

Steffi: Ich wünsche mir weniger Einsamkeit und arbeiten gehen zu können. Auch bedauere ich den Wettstreit unter Kranken («Wer ist kränker oder gesünder, wer hat die besseren Ärzt:innen oder bekommt eine finanzielle Unterstützung vom Staat»)

Tabea: Ich wünsche mir langfristige Zuwendung von Freund:innen – also auch, wenn mein Zustand anhält und nicht besser wird.

  • Sichtbarkeit schenken
  • Aussagen nicht hinterfragen, sondern ernst nehmen
  • Sich aufklären lassen, Verständnis bieten
  • Beziehung auch langfristig leben, Wege und Kompromisse finden, wenns schwierig ist

Begegnung auf Augenhöhe

Simone: Ich wünsche mir Begegnungen auf Augenhöhe. Behinderung wird noch zu oft und ganz selbstverständlich mit «Leiden», «Leid» oder «traurigem Schicksal» gleichgesetzt. Das führt dazu, dass Menschen mit Behinderung höchstens als Objekte der Fürsorge angesehen werden, anstatt als mitbestimmende Bürger:innen.

Dabei wird vergessen, dass wir unsere Behinderung als unsere Lebensform ansehen. Wir wollen dafür weder Mitleid noch übermässige Anerkennung für Selbstverständlichkeiten.

Wir wollen einfach dazugehören, wie alle anderen auch.

  • Sich mit Sprache und Begrifflichkeiten auseinandersetzen, keine Angst vor dem Wort «Behinderung» haben und Euphemismen vermeiden
  • Bei Unsicherheit lieber nachfragen
  • Die eigene Haltung hinterfragen oder reflektieren «wie sehe ich Menschen mit einer Behinderung wirklich? Behandle ich Menschen mit einer Behinderung so, wie ich gesunde Menschen behandle?»

Sensiblere Gesellschaft

Peer: Ich habe dank guter medikamentöser Einstellung seit vielen Jahren keinen Krankheitsschub mehr. [1] Trotzdem werde ich öfters krank, da diese Medikamente mein Immunsystem unterdrücken. Ich würde mir wünschen, dass die Gesellschaft da sensibler würde. Nur weil man nicht krank ist, heisst das ja nicht, dass man nie davon betroffen wird; viele chronische Krankheiten treten später im Leben auf.

Jessie: Ich wünsche mir, dass man den Mut hat, uns chronisch Kranken etwas zuzutrauen. Von der Kirche wünsche ich mir, dass sie meinen Glauben nicht anzweifeln und in mir nicht die versteckte Sünde suchen.

  • Im Herbst/Winter oder bei Krankheitsausbrüchen, aber auch ganz allgemein daran denken, dass es Menschen akut betreffen kann und sich dementsprechend sensibel verhalten
  • Sich bewusst werden, dass ca. 2 Millionen Menschen in der Schweiz behindert sind und ca. 580‘000 Menschen eine seltene Erkrankung haben – vielen sieht man diese jedoch nicht an
  • Bewusstsein dafür entwickeln, dass es alle treffen kann

Nur 3 % aller Behinderungen oder Krankheiten sind angeboren. Quelle

Eine bessere, gerechtere Welt

Mark: Ich träume von einer Gesellschaft, in welcher die Schwachen für ihre Kraft und ihren Mut gesehen werden. Ich träume von einer Gesellschaft, in der wir Menschen mit einer seltenen Erkrankung nicht mit Füssen getreten werden, sobald wir fallen.

Ich träume von einem Arbeitsplatz, an dem die Aufzüge funktionieren, wo Menschen an überfüllen Orten eine Maske anziehen, Onlinezusammenarbeit akzeptiert wird, Meetings kurz gehalten und Veranstaltungen rücksichtsvoll geplant werden, sodass ich teilnehmen kann.

  • Den Arbeitsort zur Barrierefreiheit prüfen, allenfalls Massnahmen initiieren oder fordern – Unterstützung suchen bei betroffenen Fachpersonen
  • Tagungen zum Thema besuchen, das Thema in der eigenen Kirche/Verein/Arbeitsplatz aufgreifen, Schulungen buchen
  • An Aufklärungskampagnen initiieren oder teilnehmen
  • Einschränkungen in Kauf nehmen, um anderen die Teilhabe zu ermöglichen
  • Versuchen, Inklusion zu denken und zu erlauben – bei sozialen Events, aber auch am Arbeitsort

Teilhabe auch in Kirchen!

Beatrice: Es gibt so viele Kirchen, die für Behinderte [2] im Rollstuhl nicht erreichbar sind oder nur mit grossem Umweg. Es ist an der Zeit alle Kirchen barrierefrei anzupassen.

In der Gesellschaft wünsche ich mir mehr Arbeitgebende, die behinderten Personen einen Arbeitsplatz geben, der ihrem Können entspricht und an dem sie gleichberechtigt bezahlt werden.

In der Politik ist der Ruf nach Gleichberechtigung von behinderten Personen noch nicht überall angekommen. Obwohl per Gesetz alle Bahnhöfe schon längstens behindertengerecht ausgebaut werden müssten, ist dies nur an wenigen Orten der Fall. Es ist zum Teil eine Katastrophe, den Bus zu erreichen, weil da eine hohe Bordkante ist, die mit dem Rollstuhl nicht zu überwinden ist.

Ich wünsche mir, dass die Medikamente, die wir brauchen, auch verfügbar sind.

Es gibt Menschen, die sterben, weil ein gewisses Medikament nicht mehr verfügbar ist oder von der Krankenkasse nicht mehr bezahlt wird.

  • Bauliche Massnahmen für die Zugänglichkeit in Kirchen prüfen; oftmals sind bereits einfache Lösungen oder Versuche besser als nichts
  • Nicht nur an Personen im Rollstuhl oder blinde Menschen denken – es gibt viele unsichtbare Behinderungen/Krankheiten
  • Die Politik auffordern, ihren Versprechungen nachzukommen mit Leserbriefen, E-Mails an verantwortliche Politiker:innen
  • Inklusiv abstimmen und Menschen wählen, die selbst von einer Krankheit/Behinderung betroffen sind oder sich für diese einsetzen
  • Öffentliche Verkehrsbetriebe auffordern, ihrer Verpflichtung nachzukommen, z. B. mit Leserbriefen oder E-Mails
  • Solidarische Teilhabe an Events, Veranstaltungen oder Demonstrationen von Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen
  • Teilen von Instagram-Posts oder informativen Websites
  • Das Umfeld sensibilisieren

Ohnmacht und Hürden

Patrick: Als Mensch mit einem angeborenen Ehlers Danlos Syndrom fällt mir immer wieder auf, wie wenig unsere Krankheit Ärzt:innen zu kümmern scheint. Ich werde selten ernst genommen, meine Krankheit ist zu komplex und man verdient an mir kein Geld, das sind meine Erfahrungen. Ich wünsche mir, dass sich da endlich was ändert. Ich fühle mich oft sehr ohnmächtig.

Nadine: Ich wünsche mir, dass Arbeitgebende mir unkompliziert so viele Krankheitsfehltage wie nötig ermöglichen.

Marlen: Ich wünsche mir von Kirchen, dass seltene Erkrankungen und Behinderungen offen und ohne Scham kommuniziert werden können und es als Teil von Gottes Schöpfung gesehen wird und nicht als Unfall oder als Folge von Sünde.

Ich wünsche mir, dass das Wort «behindert» nur noch als Beschreibung verwendet wird und nicht als Beleidigung.

Ich wünsche mir mehr Spendengelder für die Forschung. Viele von uns haben keine Hoffnung mehr und das würde uns Hoffnung geben. Ausserdem erwarte ich von der Politik, dass sie endlich die Forderungen vom Pflegepersonal umsetzt.

Samuel: Ich habe eine seltene Erkrankung, die viele Fachleute nicht einmal kennen. Ich bin dadurch selbst zu einem halben Arzt geworden. Das und die diffusen Krankheitssymptome erschöpfen mich. Ich wünsche mir für mich, dass ich es schaffe und, so wie ich es meiner Frau an unserer Hochzeit versprochen habe und Kuno Lauener es singt: «Aut u fett u glücklich wärde» (Alt und fett und glücklich werden).

  • Zuhören – auch wenn es schwierig ist
  • Nachfragen, versuchen vorurteilsfrei zu bleiben
  • Sich einsetzen für eine faire Krankenkasse
  • Sich bewusst sein, dass das Solidaritätsprinzip auch bedeutet, dass man irgendwann froh sein wird um die Solidarität der anderen
  • Organisationen mit Spenden berücksichtigen, die sich für Menschen mit (seltenen) Krankheiten oder Behinderungen einsetzen; Forschung unterstützen (z. B. mit Unterschriften oder Spenden)
  • Sich über Medikamentenkonsum bewusst werden: Medikamentenmissbrauch (z. B. Diabetes-Medikament als Schlankheitskur zu missbrauchen) schädigt Betroffene
  • Achtsamer werden im Alltag gegenüber Menschen mit unsichtbaren Krankheiten/Behinderungen. Sich über das Symbol der Sonnenblume («Hidden Disability Sunflower») erkundigen und allenfalls im Umfeld etablieren

Unabgeschlossen

Die Wünsche all dieser Menschen sprechen unterschiedliche Bereiche an; zum Beispiel Barrierefreiheit, Anerkennung, Teilhabe usw. Ich weiss, dass nicht alle Wünsche, die oben gesammelt wurden, von heute auf morgen lösbar sind. Einige sind es aber doch.

Und ich finde, es wäre Zeit, wieder ein paar Schritte weiterzukommen.

 

© Foto: Sarah Staub

Fachtagung von «Glaube und Behinderung» am 29. Mai 2024: «Dazugehören – gemeinsam für eine inklusive Kirche und Gesellschaft»

[1] Erklärung: gewisse seltene Erkrankungen verlaufen in Schüben, in denen die Krankheit in einer starken Symptomatik, bzw. einer Progression der Erkrankung auftritt. Es kann auch zu symptomfreien Zeiten kommen.

[2] Erklärung zum Begriff «behindert»: Behindert oder Behinderung ist eine neutrale (Selbst-)Bezeichnung, die öfters mit Euphemismen ersetzt wird. Viele behinderte Menschen fühlen sich durch Euphemismen jedoch in ihrer Realität herabgesetzt, infantilisiert oder nicht ernst genommen. Sie kämpfen dafür, dass das Wort «behindert» nicht länger als Schimpfwort missbraucht wird, sondern als ermächtigende Selbstbezeichnung. Dabei wird sprachlich unterschieden zwischen der «People First»-Sprache, also dass der Mensch vor der Behinderung steht oder der «Identity First»-Sprache, dass die Identität vor dem Menschen steht.

1 Kommentar zu „Der Tag der seltenen Krankheiten“

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