Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 4 Minuten

Von grossem Mut und winzigen Mütchen

«Und du bist einfach so ins Wasser hineingesprungen?» frage ich. Sie nickt eifrig und ihre Augen leuchten. »Sogar ohne Nase zu halten!» platzt es aus ihr heraus, und zum ersten Mal, seit ich mit ihr spreche, verschwindet ihre Schüchternheit wie die Fühler einer Schnecke verschwinden, wenn man sie berühren will.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch als Ausdruck meiner Bewunderung. Die Mutter, die danebensteht und uns beobachtet, grinst. «Da warst du aber sehr mutig.» sage ich und das Kind, dem jetzt wieder einfällt, dass es ja mit einer Fremden spricht, versteckt sich hinter der Mutter. «Ja, sehr mutig…» flüstert die kleine Schnecke aus ihrem Versteck.

Später, als ich meine Längen schwimme, denke ich noch einmal an das Mädchen und ihren Mut.

Mut. Drei Buchstaben, die alles verändern.

Zum Beispiel, dass man, ohne die Nase zuzuhalten tauchen kann – ich kanns nicht – oder die Fühler auszustrecken, trotz möglicher Gefahr. Ich persönlich vermeide Sprünge vom Beckenrand, dafür getraue ich mich, mich in der Umkleide vor allen anderen auszuziehen und mit Fremden zu sprechen getraue ich mich auch.

Mut bedeutet für alle etwas anderes

Heute bin ich allein im Therapiebad, schwimme und fülle den grossen Raum mit meinen Gedanken. Wie unterschiedlich Mut im Verhältnis zu einem Leben aussehen kann, zum Beispiel: Da springt jemand mit einem Fallschirm aus dem Flugzeug, jemand anderes stellt sich mutig der Diagnose Lungenkrebs.

Da kündigt jemand ohne Anschlussstelle nach 30 Jahren seinen Job. Jemand anderes beginnt eine Lehre im Pflegeheim, trotz Ohnmachtsberichten aus Presse und Bevölkerung.

Ein Mann füllt einen Organspendeausweis aus. Eine Frau lässt die Maschinen, die ihren im Koma liegenden Bruder vom Sterben zurückhalten, abschalten. Ein kleines Mädchen springt mit Anlauf und ohne die Nase zuzuhalten ins metertiefe Unbekannte.

Veränderlich wie Wasser

Mut, denke ich schwimmend, Mut verändert sich und passt sich den Umständen an, kann je nach Situation zu- oder abnehmen oder gänzlich unscheinbar sein. Mut ist so fluide wie Wasser, das in verschiedenen Formen, Färbungen und Zuständen daherkommt.

Es kann fest oder flüssig, dampfend oder hart wie Eis sein – es bleibt Wasser. Mut bleibt Mut. Egal in welchem Kontext, egal in welcher Ausprägung oder mit welcher Sichtbarkeit.

Ist das kleine Mädchen aus der Umkleide weniger mutig als eine Klippenspringerin, die beim Redbull Cliff Dive aus 21 Metern in den Vierwaldstättersee springt?

Mut heisst, sich der Angst zu stellen

Ich drehe mich im Wasser langsam auf den Rücken, die Poolnudel unterstützend hinter meinen instabilen Nacken geklemmt. Mut ist, denke ich, diesen instabilen Nacken trotzdem zu benutzen, auch wenn er jederzeit brechen könnte.

Ich merke, wie aus meinem Innern eine kaum kontrollierbare, auch etwas irrationale Angst hochsteigt – das tut sie immer, wenn ich an meinen Nacken denke.

Mut ist, sich der Angst vor dem Zerbruch zu stellen, erneut und erneut.

Die Angst schwimmt nun als Träne in meinen Augen und ich lasse es zu. Ich habe meine Ängste lange verborgen, weil die Scham darüber gross war, gross ist. Es braucht mich viel Mut, zu all dem zu stehen und mit mir selbst Mitgefühl zu haben, ja sogar Tränen um meiner Selbst Willen zu vergiessen.

Mit allen Konsequenzen

Vielleicht bemut-, statt bemitleide ich mich auch, denn manchmal leidet mensch unter seinem eigenen Mut. Ich erinnere mich an mein Familienmitglied Luciano, der, als ich noch ein Teenager war, beim Versuch eine Frau zu beschützen zusammengeschlagen wurde und bis heute unter den körperlichen Folgen der damaligen Gewalt leidet.

Ich denke an die ältere Frau, die hier manchmal mit mir schwimmt und die den Mut hatte, die zweite, üble Chemotherapie durchzuziehen – für ihre Enkelkinder. Ich denke an meinen verstorbenen Freund Alois, der den Mut hatte seine Chemotherapie abzusetzen – für sich.

Ein winziges Mütchen

Meine Verzweiflungsträne hat sich mittlerweile in eine Mutträne verwandelt und der Zeiger der Wanduhr springt auf halb 12. In einer Viertelstunde ist meine Schwimmzeit um und das Therapiebad schliesst fürs Wochenende.

Mut zur Trauer, Mut zum Zerbruch, Mut für den Sprung ins Unbekannte.

Mut trotz Widerstand, Mut bis zum Schluss.

Der Zeiger springt auf Viertel vor 12. Schwimm- und Denkzeit zu Ende.

Es kostet mich etwas Mut, aus dem 34 Grad warmen Becken in den kalten, zugigen Gang zu treten und zur Umkleide zu laufen. Während ich fröstelnd unter der warmen Dusche stehe, lächle ich über dieses winzige Mütchen und beschliesse, beim nächsten Mal das Tauchen ohne die Nase zuzuhalten wieder einmal auszuprobieren.

 

Sarah Staub ist Pfarrerin in der evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz und selbst betroffen von einer multisystemischen Körperbehinderung. Sie veröffentlicht bei RefLab in loser Folge Artikel rund um die Theologie der Behinderung und ihre eigenen Erfahrungen damit. Bisher sind drei Artikel erschienen, «Ich war zu jung für den Schmerz», «Der behinderte Gott» und «Das Therapiebad: Meine Kirche». Auf Instagram postet Sarah Staub als «die fromme Häretikerin» regelmässig Illustrationen und Texte. 

Foto von Fernando Jorge auf Unsplash

1 Gedanke zu „Von grossem Mut und winzigen Mütchen“

  1. Danke für den Text: “Mut zur Trauer, Mut zum Zerbruch, …” gefällt mir sehr…
    Mut für die kleinen Dinge und auch Mut für das Unbekannte, weil ich das Morgen nicht in der Hand habe, ich hoffe es zwar und erzwinge es manchmal, aber auch mal mutig sein loszulassen und neue Wege zu gehen oder auch sein zu lassen…

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