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Alexei Nawalny: Jenseits von Mut und Wahnsinn

Alexei Nawalny wurde bekannt als russischer Oppositionspolitiker, Antikorruptions-Aktivist, Anwalt und Blogger, der von Putins Staatsmacht politisch verfolgt wurde. Dem Anliegen, weite Bevölkerungsteile zu mobilisieren und Putins Partei «Einiges Russland» (die er eine «Partei der Gauner und Diebe» nannte) zu besiegen, ordnete er politische Stringenz sowie sicherheits- und aussenpolitische Weitsicht unter.

Er vertrat – nicht nur für westliche Ohren – furchtbare, nationalistische Positionen und war im besten Sinne des Wortes ein Populist.

Der Schmerz, jetzt in der Vergangenheitsform über ihn schreiben zu müssen, rührt deshalb nicht aus der Sympathie für seine politischen Positionen.

Sondern daher, dass er zu einem Hoffnungssymbol für ein freies Russland und zu einem heroisch-unbeugsamen Gegenspieler Putins geworden ist. Nawalny outete sich auch als gläubiger Mensch – und wies auf eine Hoffnung hin, die zwar über diese Welt hinauszeigt, sich aber im Diesseits bewährt.

Die Anfänge

Nawalny begann in den frühen 2000er Jahren, Korruptionsfälle in Russland zu untersuchen und über seinen Blog sowie soziale Medien öffentlich zu machen. Seine Enthüllungen erregten schnell Aufmerksamkeit.

Im Jahr 2007 trat er als Mitbegründer einer russischen Bewegung, bekannt als NAROD (Das Volk), in Erscheinung und ging mit zwei nationalistischen Gruppen Bündnisse ein. In der Folge trat er bei nationalistischen Kundgebungen auf, verglich die Kaukasier mit Kakerlaken und forderte die Deportation aller georgischen Bürger.

2011 gründete Nawalny den Fonds zur Korruptionsbekämpfung (FBK), der zahlreiche Fälle staatlicher Korruption aufdeckte. Er engagierte sich zunehmend in der politischen Opposition gegen das Regime von Präsident Wladimir Putin.

Er rief zu Protesten gegen Wahlfälschungen und Korruption auf und kandidierte 2013 selbst bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau. Er erzielte einen Achtungserfolg und galt seither als Anführer der Anti-Putin-Bewegung.

Im Dezember 2016 kündigte er an, für die Präsidentschaftswahl 2018 zu kandidieren.

Nach Veröffentlichung seines Dokumentarfilms über Dimitri Medwedew protestierten Zehntausende öffentlich. In der Folge wurde er selbst Opfer tätlicher Angriffe, polizeilicher Überwachung und Schikane. Schliesslich wurde er von der Wahl ausgeschlossen – mittels juristischer Winkelzüge, die internationale Proteste nach sich zogen.

Vergiftet

Rückenwind verspürte Nawalny kurzfristig durch die Proteste 2020 in Belarus. Er rechnete damit, dass auch in Russland eine ähnliche Revolution stattfinden werde.

Offensichtlich teilten Regierung und Geheimdienst diese Einschätzung: Schon in der zweiten Woche der Proteste wurde Nawalny mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet.

Nachdem er zwei Tage im Krankenhaus in Omsk behandelt worden war, wurde er auf Ersuchen seiner Familie in die Berliner Charitée verlegt. Dort ging es ihm schnell besser und das Gift konnte nachgewiesen werden. Eine Recherchegruppe konnte die Machenschaften des FSB detailliert nachzeichnen.

Den populärsten Nachweis besorgte Nawalny jedoch gleich selbst: Er führte persönlich einen manipulierten Telefonanruf mit einer als Konstantin Kudrjawzew (alias «Sokolow») identifizierten Person. Dabei gab er vor, den Anruf von der FSB-Zentrale aus zu tätigen.

Nawalny gab sich während des Anrufs als Maxim Sergejewitsch Ustinow aus, einen angeblichen persönlichen Mitarbeiter des ehemaligen Chefs des FSB. Er behauptete, die Nummer vom stellvertretenden Leiter des Wissenschaftlich-Technischen Dienstes und Chef des Zentrums für Spezialtechnik des FSB erhalten zu haben.

Während des Gesprächs gab Nawalny alias Ustinow Anweisungen an Kudrjawzew und forderte von ihm einen Bericht über den gescheiterten Mordanschlag. Überraschenderweise bestätigte der Angerufene nicht nur die Einzelheiten des Anschlag. Er nannte auch Beteiligte, ohne dass Nawalny diese zuvor erwähnt hätte, und behauptete sogar, dass Rückstände von Nawalnys Kleidung, einschliesslich seiner blauen Unterhose, entfernt wurden, um die Beweismittel zu vernichten.

Ohne Todesfurcht

Nur einen Monat später kehrte Nawalny nach Russland zurück. Nach der Ankunft am Flughafen wurde er direkt verhaftet und in einem Schnellverfahren in Untersuchungshaft genommen.

Seine Organisation veröffentlichte tags darauf den Dokumentarfilm «Ein Palast für Putin». In der Folge kam es zu landesweiten Protesten und diplomatischen Spannungen zwischen Schweden, Polen, Deutschland mit Russland.

Durch den Giftanschlag und die Rückkehr nach Russland rückte Nawalny ins internationale Bewusstsein.

Er war für Putin nicht mehr länger ein nationaler Konkurrent, sondern ein aussenpolitisches Problem. Die internationale Öffentlichkeit diskutierte, ob Nawalny besonders mutig oder einfach verrückt sei, nach Russland zurückzukehren.

Bereits am 20. Februar musste sich Nawalny in Moskau gleich zwei Prozessen stellen: Er soll gegen seine Bewährungsauflagen verstossen und einen Weltkriegs-Veteranen beleidigt haben.

Beide Prozesse waren inhaltlich absurd – aber sie boten Nawalny eine Gelegenheit, frei und öffentlich zu sprechen.

Im Prozess hat der Angeklagte das letzte Wort. Wer die Reden heute liest und sie nicht einfach als strategische Frömmlerei abtut, findet in ihnen einen Glauben jenseits von Mut oder Wahnsinn.

Jenseits von Mut und Wahnsinn

In seiner ersten Rede «Russland wird glücklich sein» outet sich Nawalny als gläubiger Mensch. Er erzählt, von einem Brief, den er erhalten habe:

«Nawalny, dir sagen sie ständig: ‚Halte durch, gib’ nicht auf, ertrage es, beiss’ die Zähne zusammen. Was hast du denn eigentlich zu ertragen? Du hast doch in einem Interview gesagt, dass du an Gott glaubst. Und es steht doch geschrieben: Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Wahrheit, denn sie werden gesättigt werden. Also, es geht dir doch bestens.‘

Und ich dachte: Wow, wie gut dieser Mensch mich doch versteht. Nicht, dass es mir bestens gehen würde, aber diesen konkreten Spruch habe ich eigentlich immer als eine Art Handlungsanweisung verstanden.»

Nawalny weiss, dass diese biblische Verheissung fremd und unwirklich klingt. Besonders in einem System, das politische Gegner vereinzeln und isolieren will.

Er erinnert an Harry Potter, an die «bemerkenswerte Philosophin Luna Lovegood»: «Als sie sich mit Harry Potter in einem schwierigen Moment unterhält, da sagt sie: ‚Es ist wichtig, sich nicht allein zu fühlen. Denn an Voldemorts Stelle würde ich sehr wollen, dass du dich allein fühlst.‘ Unser Voldemort in seinem Palast will das mit Sicherheit genauso.»

Er beschreibt, wie er durch all die Isolation und Einschüchterung hindurch an der Gewissheit festhält, dass die Wahrheit, das Menschliche und die Gerechtigkeit siegen werden.

Die versprochene Seligkeit ist demgemäss gerade keine Vertröstung auf ein Jenseits, sondern die Zukunft, die denen gehört, die sich nach Wahrheit sehnen.

Menschliches Gericht und Höllenfeuer

In seiner zweiten Rede führt er aus, wie absurd es sei, ihn der Verunglimpfung und Beleidigung eines Veteranen zu bezichtigen, während der Staat Veteranen im Stich lässt. Mehr noch – wie die verbrecherische Regierung sie sogar für die Legitimation ihres ungeheuren Reichtums instrumentalisiert.

Nawalny wird überdeutlich: «Ja, ich denke, dass Sie für all das in der Hölle brennen werden. Und ich hoffe – Sie sind ja alle noch recht jung – dass Sie nicht nur in der Hölle brennen werden, sondern sich auch noch vor einem normalen, menschlichen Gericht für all das verantworten werden, was Sie getan haben.»

Wir sollten diese Rede nicht vorschnell als Missbrauch religiöser Höllenangst abtun.

Viel stärker ist darin die Hoffnung, dass ein menschliches Gericht die Verbrecher zur Verantwortung ziehen wird. Oder mit Nawalnys eigenen Worten: «So oder so nimmt die Wahrheit sich ihren Teil, und jeder wird bekommen, was er verdient hat.»

Hoffnung für dieses Leben

Nawalnys Glaube war eine Hoffnung, die in dieser Welt weder auf- noch untergeht. Und schon gar keine Vertröstung auf eine andere Welt, die einen gemütlichen inneren Rückzugsort angesichts der Ohnmacht in dieser Welt böte.

Seine Hoffnung bezieht sich auf das Reich Gottes, das in dieser Welt auf uns zukommt.

Jetzt, wo wir wissen, dass er sein «glückliches Russland» nicht mehr erleben wird, halte ich mich an die Hoffnung, dass er unter der Folter des Straflagers, in den schlaflosen Nächten der Isolationshaft, zwar hungrig und fiebrig war, sich aber wenigstens nicht allein gefühlt hat.

«Gebt nicht auf!»

Nawalny war unter anderem wegen angeblichem «Extremismus» zu insgesamt 19 Jahren Lagerhaft verurteilt worden. In Wirklichkeit war er ein politischer Gefangener. Einer, vor dem Putin sich so sehr fürchtete, dass er ihn an den äussersten Ort seines Reiches verschleppen und foltern liess.

Vielleicht weil Nawalny keine Angst vor ihm hatte, sie wenigstens nicht zeigte. Oder weil in ihm mehr Hoffnung als Furcht war.

In dem mittlerweile mit einem Oscar ausgezeichneten Dokumentarfilm «Nawalny» des kanadischen Regisseurs Daniel Roher wird Nawalny gefragt: «Alexej, falls du verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wirst oder falls das Undenkbare eintritt und sie dich töten: Welche Botschaft wirst du dem russischen Volk hinterlassen?»

Nawalny antwortet daraufhin: «Für den Fall, dass ich getötet werde, ist meine Botschaft sehr einfach: Gebt nicht auf!»

 

Bild: Michał Siergiejevicz, Wikipedia

5 Kommentare zu „Alexei Nawalny: Jenseits von Mut und Wahnsinn“

  1. Danke Stephan, für diese Einordnung. Kein Mensch, selbst Nawalny nicht, hat nur gute Seiten. Aber sein Mut, sein Glaube und seine Entschlossenheit, an seiner Hoffnung auf ein gerechteres Leben hier auf Erden (in Russland) ist zu bewundern. Und kann uns als Beispiel dienen. – Dass im Jenseits irgendwie alles gut wird, ist ein erschreckend empathieloser Trost.

    1. Lieber Sven-Erik, genau, niemand ist nur gut. Ich staune bei einigen Reaktionen auf Facebook, dass Menschen jetzt (!) bereit sind, Nawalnys nationalistische Äusserungen gegen das Schicksal und die Folter abzuwägen, die ihm widerfahren sind. Weshalb tut man das? Seine nationalistischen Äusserungen waren falsch. Sie sind aber weder Ursache noch lindern sie das Unrecht, das Nawalny angetan worden ist. In der zweiten Rede (über die Veteranen) sagt Nawalny, dass er glaube, dass sie „in der Hölle brennen werden“ und hoffe, dass sie zuvor aber auch von einem weltlichen Gericht stehen. Die Hoffnung auf letzteres sollten wir bewahren!

  2. ZITAT:
    «Nawalny, dir sagen sie ständig: ‚Halte durch, gib’ nicht auf, ertrage es, beiss’ die Zähne zusammen. Was hast du denn eigentlich zu ertragen? Du hast doch in einem Interview gesagt, dass du an Gott glaubst. Und es steht doch geschrieben: Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Wahrheit, denn sie werden gesättigt werden. Also, es geht dir doch bestens.‘

    Und ich dachte: Wow, wie gut dieser Mensch mich doch versteht. Nicht, dass es mir bestens gehen würde, aber diesen konkreten Spruch habe ich eigentlich immer als eine Art Handlungsanweisung verstanden.»

    Hmmh …, ich habe das Buch, das „diesen konkreten Spruch“ enthält, geschüttelt, habe dabei Kopfstand gemacht, Tee getrunken und abgewartet, aber vergeblich: Er wollte einfach nicht herausfallen! Langsam beginne ich, zu verzweifeln. Sogar an Lesekunst. Ist das Leben bloß ein Missverständnis? Was muss ich tun, um gesättigt oder, wenn das aus (editions)philologischen Gründen nicht geht, gerettet zu werden? Ist der Glaube des Herrn Putin der Glaube an Jesus Christus? Vor wem fürchtete er sich dann aber so sehr, dass er — wiederum Zitat — „ihn“ „an den äussersten Ort seines Reiches verschleppen und foltern liess“?

  3. Der Beitrag ist recht naiv. Meinst du wirklich, dass sich in Russland etwas ändern würde, wenn Nawalny an die Macht käme? Auch Putin definiert sich als Christ. Dass das russische Politiker gerne tun, ist politisches Kalkül.

    Es fehlen zudem einige wichtige Stationen im Leben Nawalnys. Mit dem Staat kam er schon vor 2000 und damit vor Beginn seiner politischen Betätigung in Konflikt. Und zwar, weil er selber der Korruption angeklagt wurde, dann in Folge immer wieder gegen Bewährungsauflagen verstiess. Aus der liberalen Partei (Jaboklov) würde er ausgeschlossen wegen nationalistischer und rassistischer Äusserungen. Politisch war er in Russland bedeutungslos (Anteil seiner Partei zwischen 2 und 3%).

    Fazit: Nawalny ist ein Propaganda-Asset des Westens, das mit seinem Tod seine letzte Schuldigkeit getan hat.
    Nichtsdestotrotz darf man seinen Tod zum Anlass nehmen auf politische Gefangene weltweit (auch in der Ukraine) aufmerksam zu machen.

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