Ein weiteres Gleichnis gab er ihnen zum Nachdenken: «Die Welt Gottes ist mit einem Therapiebad zu vergleichen, in das versehrte Menschen zur Behandlung ihrer Gebrechen gehen. Alle Menschen sind willkommen in der sanften Kraft, die das Wasser spendet, Linderung und Heilung für ihre zerbrochenen Körper und Seelen zu erfahren, ganz so, wie Gott ihnen Linderung und Heilung schenken will.» (Frei nach Matthäus 13,31-32)
Die Kirche, so sagt man, müsse ein Ort sein, an dem man sich wohl und angenommen fühlt. Hier dürfe man so sein, wie man ist.
Wenn das so ist, dann befindet sich meine Kirche in dem kleinen Kantonsspital unterhalb des markanten Hausberges in meiner Heimatstadt. Es liegt im Untergeschoss etwas versteckt bei den Reha-Abteilungen.
Meine Kirche ist das Therapiebad, eine heilige Stätte, eine, die ohne Pomp und Gloria auskommt. Ein stiller, ein friedlicher Ort. Ich besuche ihn jede Woche.
Eine Kirche ohne Firlefanz
Die hohen Glasfenster des Bades lenken den Blick auf den Fronalpstock. Der Berg ruht wie ein schlummernder Riese sanft in der Landschaft. Daneben legt sich, dicht bewaldet der Gibel, länglich ins Tal hinein.
Tannen, Fichten und Föhren strecken vor den Fenstern ihre Äste dem Sonnenlicht entgegen. In der im Sommer wunderbar blühenden Wildblumenwiese tanzen tausende Insekten.
Dieser Kirchenraum braucht keinen Firlefanz, denn ist nicht die Natur das grösste Gottesgeschenk?
Das Becken ist nicht lang und auch nicht breit. Manchmal schwimmt schon jemand darin, manchmal bin ich allein. Manchmal sind ganze Gruppen angemeldet und ich muss warten, bis sie fertig sind.
Ich richte mich nach den Gegebenheiten und nehme das Geschenk des Alleinseins genauso an wie das der Gemeinschaft.
Selig sind die mit dem Stoma und die mit Krebs
In diesem Sakralraum ist und wirkt Gott im lindernden Wasser und alle sind hier seliggesprochen. Selig sind die zerbrechlichen Alten, auf die sonst kaum jemand mehr wartet: Hier wartet das Wasser auf sie. Selig sind auch die Jungen, die ebenso zerbrochen sind. Das Wasser schenkt ihnen Ruhe.
Selig sind die, die in gebrochenem Deutsch sprechen und die, die Schwyzerdütsch träumen. Selig sind die Heimatlosen und die, die Heimat in ihrem Herzen tragen.
Das Wasser unterscheidet nicht zwischen Hiesigen und Auswärtigen, nicht zwischen Reichen oder Armen, zwischen Dicken oder Dünnen.
Selig sind die mit dem Stoma und die mit Krebs im Endstadium, die Rheuma-Liga, die Kleinkinder aus der Babyschwimmgruppe und die Paraplegiker:innen.
Im Wasser sind wir alle gleich. Zerbrechlich. Versehrt. Mit Schrammen und Wunden. Heilend oder sterbend.
Schwimmende, sich treibenlassende, kämpfende und aufgebende, vom Leben gezeichnete, vergängliche Kreaturen.
Da ist nicht krank noch gesund, da ist nicht schwer noch dünn, da ist nicht bald sterbend oder langsam gesundend: Denn alle seid ihr einzig – einig im Messias Jesus. (Frei nach Galater 3,28)
Die Therapie als Liturgie
Das Vorbereiten und Eintreten in das Bad kommt einer Liturgie gleich: Ich kleide mich entsprechend der Vorschriften in meinen schwarzen Badeanzug, ziehe mir die Schlappen an und nehme mein Handtuch aus dem Spind Nummer 22, meine Lieblingszahl. Ich scanne meinen Türschlüssel und stosse nach dem dreimaligen Piepen der Sperre die Schwingtür zum Bad auf.
Vom leisen Gurgeln und Blubbern des herunterströmenden Wassers empfangen, das über den abgerundeten Beckenrand friedlich in die Abflussrinnen läuft, betrete ich meinen Kirchenraum.
Es ist zu jeder Jahreszeit warm hier drin und durch die hohen Fenster fällt das Licht weich und hell in den Raum.
Ich wähle die Utensilien, die ich für meine Übungen brauche – eine Poolnudel, zwei Gewichte, eine Gewichtsstange, ein Schwimmbrettchen. Es sind immer die gleichen, und in gleicher Abfolge lege ich mir sie griffbereit neben das Becken. Ein Ritual im Alltagsgestürm, Kontemplation am Beckenrand.
Unter der Dusche vor dem Becken spüle ich mir Sonnencreme, Bodylotion und Strassenstaub von der Haut.
Ich reinige mich vom Alltag und den Sorgen, bevor ich das Allerheiligste betrete; das Becken.
Da wo mich das Wasser berührt, kräuselt es sich in heiliger Willkommenheit. Warm ist es, umfängt mich geduldig, und so stelle ich mir auch Gott vor: eine warme, willkommen heissende, tragende, bergende, umgebende Kraft.
Von allen Seiten umgibst du mich, hältst deine Hand über mich. (Psalm 139,5)
Ich bin ein Schmerzmensch
An der Holzdecke spielen durch die Sonne gespiegelt Wellenschattenspiele, Hunderte fliessende, weiche, strömende Bewegungen. Ich frage mich, ob das die Geistkraft ist, die sich über dem Wasser schwebend offenbart und vor allem in der menschlichen Begegnung:
Wir, die wir hier schwimmen, sind einander ebenbürtig. Uns verbinden Leben und Schmerz, und auch wenn wir nicht miteinander reden, strömt unausgesprochen stilles Verständnis und Rücksichtnahme zwischen uns.
Meine steifen Glieder werden in der Wärme langsam weich und während ich schwimme, offenbart mir das Wasser ungeschönt und trotzdem sanft meine Stärken und Schwächen: Mein Körper ist lädiert, verschoben und verspannt.
Ich bin ein Schmerzmensch. Mein Körper wird beherrscht von brennenden, bohrenden, rücksichtslosen Schmerzen. Meine Seele ist erschöpft, oft schlaflos und unruhig. Ich bin ein versehrter Körper mit einem versehrten Geist.
Doch mein Körper ist auch hier und jetzt – er ist – in diesem Moment und zu dieser Zeit. Er trägt und hält mich, stösst sich kraftvoll durchs Wasser, immer wieder, Zug für Zug.
Ich bin hier. Ich lebe. Ich überlebe. Ich bin stark, trotz allem.
Lass dir meine Zuneigung genug sein. Gerade in den Schwachen lebt meine volle Kraft. (2. Korinther 12,9)
Meine Gedanken kommen durch die leise plätschernden, fliessenden Geräusche langsam zur Ruhe. In der heiligen Dreieinigkeit, Körper, Geist und Wasser, finde ich Frieden.
Eine zerbrechliche Heiligkeit
In meiner Kirche, dem Therapiebad, muss ich nicht den Bauch einziehen, noch die kahlen Stellen an meinem Kopf verstecken. Ich muss nicht sämtliche Konzentration aufbieten, um nicht über meine schräg gewachsenen Beine zu stolpern.
Meine Haut muss nicht stoppelfrei sein, ich muss mich nicht für die vielen blauen Flecken und Narben schämen, nicht für die Pickel, die schmutzige Brille und die Augenringe.
Im Therapiebad muss ich mir keine Gedanken um meine Wirkung und mein Aussehen machen. Niemand muss sich hier Gedanken darum machen. Hier sind wir alle Ebenbürtige, von Gott Geliebte.
Die Kirche, so sagt man, müsse der Ort sein, an dem man sich wohl und angenommen fühlt. Hier dürfe man sein, wie man ist.
Im Krankenhaus gibt es oft keine Alternative, als mit dem, was man hat, zu sein. Genau darin liegt für mich diese zerbrechliche Heiligkeit, die ich an so vielen Orten sonst schmerzlich vermisse: Es ist die schonungslose und doch sensible Ehrlichkeit des Lebens.
Das Gebet meines Körpers
Und so finde ich Sicherheit in der einfachen Liturgie der Regeln und Abläufe des Bades, im Gebet meines Körpers und in der Gemeinschaft der Zerbrochenen.
Ich komme zur Ruhe in der Anbetung des Wassers, das unaufhörlich über den Beckenrand strömt und dabei die tröstlichste Melodie spielt.
Ich finde Frieden im Flüstern der Geistkraft, die sich im Licht- und Schattenspiel an den Decken, Wänden und im Wasser offenbart.
Aus all ihren Poren strömt die schönste Verheissung: Selig seid ihr, selig und geschöpft, gewollt, geliebt, gesehen.
Alle dagegen, die von dem Wasser trinken, das ich ihnen gebe, werden bis in Ewigkeit nicht mehr durstig sein, sondern das Wasser, das ich ihnen geben werde, wird in ihnen zu einer Quelle sprudelnden Wassers für das ewige Leben werden. (Johannes 4,14)
Sarah Staub ist Pfarrerin in der evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz und selbst betroffen von einer multisystemischen Körperbehinderung. Sie veröffentlicht bei RefLab in loser Folge Artikel rund um die Theologie der Behinderung und ihre eigenen Erfahrungen damit. Bisher sind zwei Artikel erschienen, «Ich war zu jung für den Schmerz» und «Der behinderte Gott». Auf Instagram postet Sarah Staub als «die fromme Häretikerin» regelmässig Illustrationen und Texte.
Foto von Joanes Andueza auf Unsplash
2 Gedanken zu „Das Therapiebad, meine Kirche“
Thank you for this beautiful, honest, gentle and caring text. I feel you and hear you. If the divine isn’t found in the most vulnerable then it, she doesn’t deserve our attention. Thank you!
Sooo wunderbar, so sinnlich, göttlich und menschlich.
Danke!