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 Lesedauer: 4 Minuten

Zum Nahostkonflikt: Empathie verträgt kein «Aber»

Es gibt wohl ganz wenige Menschen, die den Nahostkonflikt und seine vielen historischen, politischen und religiösen Dimensionen genügend überblicken, um dazu als Expert:in in diesen Tagen fundierte Aussagen treffen zu können.

Ich gehöre definitiv nicht dazu. Und wenn ich mich durch die Newsportale scrolle, zweifle ich auch bei vielen der sogenannten Expert:innen-Meinungen, Analysen und Erklärungen, ob sie das Ausmass des Konflikts tatsächlich ausreichend abbilden.

Es ist eine dieser Situationen, in denen man eigentlich schweigen sollte. In denen man eine Kerze anzünden und bei Bekannten, die direkt oder indirekt betroffen sind, nachfragen sollte, wie es ihnen und ihren Angehörigen und Freund:innen geht.

Ähnlich wie beim Ukrainekrieg

Doch in unserer Zeit, in der ab einer gewissen digitalen Präsenz und Reichweite auch das Schweigen Interpretationsspielraum bietet, ist dies für eine Plattform wie RefLab auch keine Option.

Schon vor anderthalb Jahren unterbrachen wir unsere fastenzeitliche Social-Media-Pause, weil Russland die Ukraine angriff. Ähnlich wie Anfang 2022 gehen auch heute die Wogen von Entsetzen, Trauer, Wut und Betroffenheit bei vielen Menschen hoch.

Doch nun mischt sich in manchen Kommentar auch unverhohlene Schadenfreude.

Und dies ist der ausschlaggebende Punkt, warum Schweigen in dieser Situation keine Option ist.

Jenseits von Gut und Böse

Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir reflexhaft in «Gut» und «Böse» unterteilen.

Bei Russland vs. Ukraine war dies einfacher, auch wenn es schon damals Ambivalenzen gab und pro-russische Stimmen den Angriff zu rechtfertigen versuchten. Dort kämpften – sehr verkürzt ausgedrückt – zwei Staaten gegeneinander, ein diktatorischer und ein demokratischer.

Im Nahen Osten ist diese pauschale Unterteilung schlicht unmöglich.

Genauer genommen ist sie es schon seit der Staatsgründung: Hier eine Gruppe von Menschen, die die Schoah überlebt haben, da eine Bevölkerung, die zugunsten der Wiederansiedelung jener Menschen vertrieben wird, und dort eine Kolonialmacht, welche sich aus dem Staub macht. Und all das in einem Landstrich, der seit Jahrtausenden umkämpft ist.

Die Situation ist an Komplexität kaum zu überbieten.

Dem Reflex, Entführungen, Vergewaltigungen und Tötungen von Unschuldigen richtigerweise in die Kategorie «böse» einzuordnen, wird von Begriffen wie «Dekolonisierung» und «Befreiungsschlag» der Haken gestellt. Und so dominiert in vermeintlicher Differenziertheit die Floskel «Ja, aber…» die Kommentarspalten.

Dies stellt eine Relativierung von Taten dar, die ohne jedes Wenn und Aber zu verurteilen sind.

Dass angesichts von Terror und Tod gefeiert wird, und das nicht in Gaza, sondern auf dem Times Square in New York, ist eine beispiellose Täter-Opfer-Umkehr.

Anteilnahme bedeutet nicht politische Positionierung

Was die Hamas mit ihrem Angriff anrichtete, darf nicht mit der Politik einer nationalistischen Regierung relativiert werden. Einer Regierung, gegen die in den letzten Monaten notabene immer wieder Hunderttausende Israelis auf die Strasse gingen.

Wer in den vergangenen Jahren forderte, palästinensische Zivilist:innen nicht in einen Topf zu werfen mit einer islamistischen Terrororganisation, welche Entwicklungszahlungen abzweigte für Kriegsmaterial und Schulkinder mit antisemitischer Propaganda fütterte, darf nun umgekehrt auch nicht dasselbe mit der israelischen Bevölkerung tun.

Erst recht nicht, wenn absehbar ist, dass der Konflikt nun eskaliert und auf beiden Seiten viele weitere unschuldige Tote fordern wird. Angriffe, Vergeltungsangriffe, und dazu andere Staaten, die sich einmischen.

Reminder: Empathie braucht keine politische Positionierung.

Entsetzen und Anteilnahme angesichts von Gewalt auszudrücken, bedeutet nicht automatisch, Partei zu ergreifen für eine politische Position oder Partei. Oder wie es Politikexpertin Kristina Lunz in einem Instagram-Post ausdrückte:

«Empathie ist kein Nullsummenspiel. Empathie für eine Gruppe von Menschen zu zeigen, bedeutet nicht, dass man für die andere weniger Empathie hat. Die einzige Seite, die wir wählen müssen, ist die Seite von Zivilist:innen und Menschenrechten für alle.»

Und diese Seite verträgt kein «Aber».

 

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10 Kommentare zu „Zum Nahostkonflikt: Empathie verträgt kein «Aber»“

  1. Merci Evelyne.
    Nach überfordertem Scrollen auf div. Newsportalen bin ich dankbar für diesen Artikel.
    Und mit dem Zitat «Die einzige Seite, die wir wählen müssen, ist die Seite von Zivilist:innen und Menschenrechten für alle » hast du mir ins Herz und den Verstand gesprochen.

  2. Liebe Evelyne
    Danke für deine Gedanken; ja, tatsächlich verträgt Empathie grundsätzlich kein Aber- bei Terrorismus stösst diese Konzept bei mir an seine Grenzen: 2018 habe ich in Israel mein Sabbatical zum Thema „Interreligiöse Friedensarbeit“ gemacht und mit meiner Familie 2 Monate in Jerusalem gelebt; ich war in der Westbank und hab mich mit fast allen „Parteien“ unterhalten und alle hatten sie mein Verständnis und Mitgefühl- eine Lösung gab es aber nicht; kein Mitgefühl meinerseits aber hat die Hamas verdient- diese Terrororganisation hält ihr eigenes Volk in Geiselhaft; wohl aber hat die Bevölkerung von Gaza Empathie verdient, die leiden jetzt mit…
    Heute hat uns eine befreundete jüdische Familie aus Jerusalem angefragt, ob sie in den nächsten Tagen bei uns unterkommen könnten- sie möchten mit ihren Kindern dann nach Italien, bis sich der Konflikt wieder ein bisschen gelegt hat… sie fürchten sich vor dem allgegenwärtigen Terror in ihrem Land- bei solchen Geschichten kommt sogar meine Empathie an ihre Grenzen- nur gegenüber über Terroristen, wohl gemerkt!

    1. Evelyne Baumberger

      Lieber Roland, danke für den Kommentar. Ich sehe es genauso, und ich hoffe, mein Beitrag kann nicht in Richtung „Empathie für Terroristen“ missverstanden werden. Es geht mir wirklich um die Betroffenen aller Seiten. Liebi Grüess!

  3. «Empathie für eine Gruppe von Menschen zu zeigen, bedeutet nicht, dass man für die andere weniger Empathie hat. Die einzige Seite, die wir wählen müssen, ist die Seite von Zivilist:innen und Menschenrechten für alle.
    Und diese Seite verträgt kein «Aber».»
    Ja, und das scheint für viele soo schwer zu begreifen.

  4. Vielen Dank, kaum einer überblickt diese verwobene und verstrickte Situation in und um Israel und deswegen bin ich (sollten wir) traurig sein und mitleiden mit all den vielen unschuldigen Opfern auf beiden Seiten ( „In denen man eine Kerze anzünden und bei Bekannten, die direkt oder indirekt betroffen sind, nachfragen sollte, wie es ihnen und ihren Angehörigen und Freund:innen geht.“ )

  5. Ich glaube, wir sind als Menschheit jetzt gefordert, zwischen ganz unterschiedlichen Reaktionen zu unterscheiden: „Empathie“ = Mitgefühl, verdienen alle, die leiden, egal woran und warum, aber nicht diejenigen, die Leiden verursachen, also keine gewalttätigen Terroristen. „Verständnis“ = kognitives Nachvollziehen einer Entstehungsgeschichte sogar von abscheulichen Handlungen, verdienen auch alle, sogar schlimme Täter. ABER: Verstehen bedeutet nicht „Rechtfertigen“, und schon gar nicht „Damit einverstanden sein“. „Verstehen“ kann mit göttlicher Gnade zu so etwas wie „Vergeben“ führen, was wiederum nicht mit „Rechtfertigen“ zu verwechseln ist. Diese göttliche Gnade ist ein transpersonales Mitgefühl, jenseits menschlicher Interaktionen, wie Jesus sie in den biblischen Berichten immer wieder demonstriert hat. Transpersonales Mitgefühl ist ein all-liebender, heilender, heil machender, „Heiliger Geist“. Nichts braucht unsere Welt mit dem historischen Brennpunkt Israel-Palestina derzeit mehr als das. Lasst uns alle alles tun, was uns hilft, tanspersonales Mitgefühl in uns einzuladen!

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