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Armageddon Now?

«Armageddon», sagt der amerikanische Präsident. Ich sage: Kindheit. Es fühlt sich verdammt nach Kindheit an. Wir stehen wieder am Rande eines Atomkrieges, heisst es. Genau wie vor vierzig, fünfzig Jahren. Ein vertrautes Szenario für alle, die vor der Wendezeit von 1989 geboren sind. Es fühlt sich fast nostalgisch an, wäre es nicht so niederschmetternd.

Der letzte Nazi, dem die Panzerfaust aus der Hand gefallen ist, gab interessanterweise nicht so sehr Anlass zu feiern wie der letzte «russische Soldat», der abgezogen wurde. Kaum einer aber zweifelte in den Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs daran, dass aus dem kalten blitzschnell ein heisser Krieg werden könnte.

Die Atomauslöschungsangst war der Motor des sogenannten Kalten Kriegs.

Ich habe nie wirklich verstanden, was das sein soll, ein «kalter Krieg». Es fühlte sich nach Frieden an (zumindest bei uns). Aber wir waren überzeugt, dass es jeden Augenblick aus sein kann, und zwar für alle, für die gesamte Welt. Per Knopfdruck. Apokalypse. Armageddon. Schluss. Ende.

Wütender alter Mann

Ich erinnere mich an betonierte Augenbrauen und ein scheinbar regungsloses Gesicht am Fernsehbildschirm. Der Anblick des damaligen russischen Staatschefs hinter dem unüberwindlichen Eisernen Vorhang flösste mir als Kind höllische Angst ein: ein in Kinderaugen uralter Mann, wortkarg, unberechenbar wie ein Knallkörper und mit einem Namen ausgestattet, der an Breschen schlagende Maschinengewehrsalven erinnerte:

B R E S C H N E W

Mir schien es, als verberge sich hinter der Betonfassade nur mühevoll zurückgehaltene schreckliche Zerstörungswut. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, so war zu fürchten, konnte der Greis die Fassung verlieren und auf den Atomknopf drücken: und damit atomare Gegenschläge provozieren.

So jedenfalls meine kindliche Zusammenfassung dessen, was ich an Dringlichkeiten aus der damaligen westlichen Medienberichterstattung und den beständigen Warnungen vor der Atomkriegsgefahr infolge russischer Provokationen aufschnappte.

Sehe ich heute Aufnahmen von Breschnew, der übrigens Ukrainer war, kann ich meine Angst kaum noch begreifen. Ich sehe einfach einen alten Mann, fast ein wenig unbeholfen. Zu Breschnews «anderer Seite» siehe hier.

Strahlender Rest

Die Angstfiguren haben ihre Namen und Gesichter gewechselt. Ich bin heute nicht mehr bereit, Dämonen oder sogar Teufel in Politikern und Staatschefs zu sehen. Was aber an Beklemmung und Ohnmachtsgefühlen derzeit ausgelöst wird, kann sich durchaus damit messen, was wir damals erlebt haben.

Die Welt, heisst es, steht wieder am Rande eines Atomkrieges.

Die Vorzeichen ähneln jenen der Kubakrise. Damals, im Herbst 1962, stationierte Russland Atomwaffen auf Kuba – und die USA sahen sich zu atomarer Gegenwehr gedrängt. Jetzt ist es das amerikanisch-europäische Verteidigungsbündnis NATO, das an Russlands Grenzen heranrückte. Im Februar 2022 erfolgte der völkerrechtswidrige Grenzübertritt Russlands – und Putin droht mit Atomwaffen.

Zu sagen, die Welt stehe am Rande eines Atomkriegs, aber erscheint sogar noch untertrieben. Schon seit Monaten wird Europas grösstes Atomkraftwerk beschossen. Fliegt Saporischschja in die Luft, was jeden Tag, jede Stunde, jede Minute passieren kann, braucht es keinen Atomwaffeneinsatz, um maximale Zerstörung und unvorstellbares Leid anzurichten.

Sollten wie damals beim Teschernobyl-Unfall 1986 die Winde mit dem Niederschlag wieder nach Westen ziehen, werden auch wir verstrahlt, und zwar nachhaltig. Als «nachhaltige», umweltverträgliche Energiequelle wird Atomenergie neuerdings ja gelabelt. Sogar die Grünen sind seit dem Kriegsausbruch und der Energiekrise für ein Weiterbetreiben alter Atomkraftwerke.

Atomkraftwerke werden beschossen statt geschlossen.

Was bedeutet Armageddon?

Es war der amerikanische Präsident Joe Biden, der jetzt von Armageddon sprach. Joe Biden sagte am 6. Oktober 2022:

«Seit Kennedy und der Kubakrise sind wir nicht mehr mit der Aussicht auf Armageddon konfrontiert worden. Ich denke nicht, dass es möglich ist, taktische Atomwaffen einzusetzen, ohne dass es am Ende ein Armageddon, eine Katastrophe gibt.»

Für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj (im BBC-Interview) ist Armageddon bereits eingetreten :

«Auch aus meiner Sicht ist das hier Armageddon. Es ist eine Bedrohung für den ganzen Planeten.»

Wettrüsten, Machtmuskelzeigen und atomare Auslöschungsdrohungen: Merkwürdigerweise hat sich für mich die Panik an dieser Stelle abgenutzt. Ich hoffe, es ist keine Dissoziationsstörung, sondern Optimismus. Weil auch damals der Atomkrieg ausgeblieben ist, sage ich mir: «Es wird schon gut gehen. Wir werden das hoffentlich aussitzen.»

Feuer mit Feuer löschen wollen

Armageddon oder auch «Harmagedon» (Hebräisch: «Har Meghiddṓn») bezeichnet einen Ort im alten Israel. Der Ausdruck kommt in der Bibel nur einmal vor (in Offenbarung 16,16.) Die «Schlacht von Armageddon» betrifft nicht nur ein bestimmtes Gebiet, sondern die ganze Erde (Jeremia 25,32-34; Ezechiel 39,17-20).

Im übertragenen Sinn ist Armageddon eine Endzeitschlacht zwischen vereinten politischen Mächten der Erde gegen die göttliche und gute Herrschaft: mit Feuer, Schwefel, sinntflutartigem Regen, Blitzen, Naturkatastrophen und Epidemien.

Armageddon ist ein Beinahe-Weltuntergang. Ein heiliger Rest an Menschheit bleibt aufgespart.

Der alterskluge Alexander Kluge hat nach dem Ausbruch des Ukrainekrieges daran erinnert, dass man Krieg nicht durch Krieg besiegen kann.

«Man kann den Krieg nur beenden, wenn man den kleinen Möglichkeitsraum findet, in dem Frieden möglich wäre».

Kriege lassen sich nicht durch Kriege gewinnen: Das gilt umsomehr für Atomkriege. Atomkriege lassen sich schlechterdings nicht gewinnen.

Zum Thema Ängste haben wir auch eine Stammtisch aufgenommen.

Photo by Javier Miranda on Unsplash

2 Kommentare zu „Armageddon Now?“

  1. Armageddon Now?
    Als Kind des Kalten Krieges begleitet mich diese Frage seit meiner Jugend. Schon 1976 hat Erich Fromm, Psychoanalytiker und Philosoph mit einem eindrücklichen und eindringlichen Appell im gesellschaftskritischen Werk „Haben oder Sein“ auf die besorgniserregende Situation hingewiesen: Der 1968 gegründete «Club of Rome» kommt zum Schluss, dass nur drastische, nach einem weltweiten Plan durchgeführte ökonomische und technologische Veränderungen eine grosse, letztlich globale Katastrophe verhindern können. Ein fundamentaler Wandel der menschlichen Grundwerte im Sinne einer neuen Ethik und neuen Einstellung zur Natur.
    Zum ersten Mal in der Geschichte hängt das Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen und sozialen Veränderung des Menschen ab. Dieser Wandel im „Herzen“ des Menschen ist jedoch nur möglich, in dem drastische Veränderungen – nach Fromm das Schliessen der Kluft zwischen Arm und Reich, Verbreitung von objektiven Informationen, atomare Abrüstung und vernünftiger Konsum eintreten. Das Anliegen des Buches „Haben oder Sein“ ist aktueller denn je! Es stellt sich, nach wie vor, die bange Frage: schafft die Menschheit den Sprung aus der Sackgasse?

    In „Das Leben endet nie“ beschreibt Willigis Jäger die grossen Herausforderungen im Leben der Menschen: Alter, Krankheit und Tod. Auch der Frage nach dem Weltuntergang geht er nach: Was bedeuten 80 Jahre eines menschlichen Lebens angesichts der Milliarden Jahre kosmischen Geschehens? Was bedeutet eine Stunde, was ein Tag? Welches Gewicht hat ein Krieg auf diesem Staubkorn Erde? Wie wichtig ist eine Beleidigung, die uns schier umwirft, in diesem Zusammenhang? Warum nehmen wir uns und unser Leben vor diesem Hintergrund so wichtig? Warum machen wir so viel Aufhebens davon? Unser Ich engt uns ein. Es dramatisiert die Ereignisse, es bläst sie auf zu belastenden Ungeheuern, vor denen wir uns dann fürchten. Wenn die Erde im Blitz einer atomaren Zerstörung für einige Millionen Jahre unbewohnbar würde, hätte das in der kosmischen Evolution keine besondere Bedeutung. Das passiert im Kosmos unentwegt. Galaxien kommen und gehen. Und es gibt sicher Millionen von Sternen, auf denen intelligentes Leben existiert. Wer die Welt aus der mystischen Sicht sieht, erfährt sie als eine Wasserblase auf einem reissenden Strom. Dieses kleine Staubkorn Erde hängt unbedeutend zwischen Milliarden anderer Gestirne in der Unendlichkeit des Kosmos, der schon seit Milliarden von Jahren existiert. In einer solchen Weltsicht bekommen alle persönlichen Probleme dieser Spezies Mensch, die seit ein paar hunderttausend Jahren über sich selber reflektieren kann, eine ganz andere Relation. Sie gibt uns ein Gefühl der Heiterkeit und Leichtigkeit. Es ist die Heiterkeit Jesu, wenn er von den Spatzen auf dem Dach und den Lilien auf dem Feld spricht. Manchen mag diese Weltsicht dazu verführen, die Hände in den Schoss zu legen und sich in die Kontemplation zurückzuziehen. Aber das wird von allen Religionen als die falsche Haltung und Konsequenz gebrandmarkt. Denn in unserer Existenz liegt eine einmalige Bedeutung. So, wie wir sind, sind wir die Ausdrucksform des Göttlichen. Wir sind eine einmalige und unverwechselbare Offenbarung des göttlichen Lebens. Diese Dynamik im Werden und Vergehen zu erfahren, das ist Himmel. Es ist die Erfahrung der überquellenden «Gottheit».

    Auch in der Katastrophe ist Gott zugeben – als diese Katastrophe. Das klingt hart, aber es zeigt auch, dass wir von Gott nie wirklich verlassen sind – im Leben, aber auch im Sterben nicht! Auch ein Weltuntergang schmeckt nach Gott. Dieses Ewige kennt nicht Geborenwerden und Sterben. Dieses Ewige ist auch unsere wahre Existenz. Auch für uns gibt es nicht Geborenwerden und Sterben. Es stirbt immer nur die menschliche Hülle. Das Leben selbst geht weiter. In welcher Form und Weise, wissen wir nicht. Letztlich gibt es keinen Untergang. Untergang ist Übergang in eine andere Existenz-Form. Untergang ist ein Überleben anderer Art – und das nicht im Sinne eines Überdauerns des Ich, sondern im Sinne eines Weiterbestehens unserer wahren Identität.

    So spricht der Mystiker Willigis Jäger. Tröstlich für mich, wir können unseren Weg selber wählen und mutig und geduldig Schritt für Schritt umsetzen.

  2. Herzlichen Dank für diese philosophischen und theologischen Überlegungen! Ich habe als Kind (Jg. 1968) auch noch die Ausläufer des Kalten Krieges miterlebt. Hier gibt es wohl generationsbedingte Gemeinsamkeiten des Empfindens. Besonders wichtig finde ich diesen Satz: «Dieser Wandel im ‹Herzen› des Menschen ist jedoch nur möglich, in dem drastische Veränderungen – nach Fromm das Schliessen der Kluft zwischen Arm und Reich, Verbreitung von objektiven Informationen, atomare Abrüstung und vernünftiger Konsum eintreten.» Jürgen Moltmann sagte im Frühling 2022 bei einer Konferenz mit dem Titel «Glaube Liebe Wandel»: «Die Politik sieht den ‹großen Transformationsprozess› nur technisch: erneuerbare Energien, recycling industries. Aber es gehört mehr dazu: ein neues Naturverständnis, ein neues Menschenbild, ein neuer Lebensstil und eine neue kosmische Spiritualität: eine Erfahrung Gottes. Die Theologie steht vor radikalen Herausforderungen.»

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