Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 10 Minuten

Islamistischer Terror und linke Sprachlosigkeit

Sascha Lobo hat jüngst diagnostiziert: „Die deutsche Linke – und auch die Liberalen und Bürgerlichen – haben zweifellos versäumt, eine nichtrassistische Islamismuskritik zu entwickeln.“ Die Reaktionen glichen einer betretenen Traurigkeit angesichts einer Naturkatastrophe, die man hinzunehmen habe. Ich glaube, dass Lobo damit zu Recht auf einen Schwachpunkt unserer liberalen Gesellschaften hinweist. Ich meine damit eine quasi-tolerante, im Kern aber defätistische Haltung, die intellektuell zwischen Religion und Fanatismus, zwischen Islam und Islamismus unterscheiden will, damit aber letztlich die Integrationsprobleme unserer Gesellschaften mehr verdunkelt, als erklärt.

Keine glaubwürdigen Alternativen

Man sollte deswegen nicht rassistisch werden. Auf gar keinen Fall. Aber man sollte anerkennen, dass es daneben bislang wenig Alternativen gibt. Nationalistisch rechtsgesinnte – religiöse und nichtreligiöse – Bürger und Bürgerinnen warnen spätestens seit 9/11 vor der schleichenden oder drohenden „Islamisierung“. Für sie stehen islamistische Terrorakte sinnbildlich für den hegemonialen Anspruch islamischer Kultur und Religiosität gegenüber dem christlichen Abendland. Verweise darauf, dass islamistischer Terror Muslime stärker getroffen hat als Bürger westlicher, liberaler Staaten vermögen diese Vertreter*innen nicht zu beschwichtigen. Und die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus lehnen sie als spitzfindigen und verharmlosenden Akt der Political Correctness ab. Das löst zwar das Problem keineswegs. Kein Terroranschlag kann durch diese Ressentiments verhindert werden. Aber mit jedem Terroranschlag fühlen sich durch dieses Feindbild mehr und mehr Menschen in ihren Intuitionen bestätigt. Und angesichts des beinahe reaktionären Schweigens der politischen und kulturellen linken Elite fehlt es an glaubwürdigen Alternativen.

Islamismus ist zu kritisieren

Denn soviel steht fest: Islamismus ist zu kritisieren. Besonders im Interesse der Muslime. Und gemeinsam mit vielen unter ihnen auch im Namen aller Menschen, die sich einer liberalen Rechtsordnung und der geistesgeschichtlichen Tradition des Humanismus und der Menschenrechte verbunden fühlen. Da hilft es nichts, die Terrortoten den Verkehrsopfern gegenüber zu stellen und das Problem quantitativ zu relativieren. Und auch nicht, beständig jeden Zusammenhang zwischen Islam und Islamismus oder Religion und Fanatismus zu leugnen. Wenn wir das weiterhin tun, dann ist Huntingtons „Kampf der Kulturen“ keine Warnung an aussenpolitische Entscheidungsträger*innen, sondern Parteiprogramm für die Innenpolitik westlicher Staaten.

Man mag noch soviel auf die „Unübersichtlichkeit“ postmoderner Gesellschaften und die Unsicherheit angesichts globaler Entwicklungen hinweisen und den Fundamentalismus und Fanatismus als Randphänomene einer sich durchsetzenden Aufklärung und Säkularisierung erklären. Intellektuell mag das aus einer bestimmten soziologischen Perspektive interessant sein. Politisch klüger und für das Gemeinwohl heilsamer ist es allemal, eine Haltung einzunehmen, die solche Gräueltaten unterbindet. Und dabei helfen uns weder die Schlachtrufe – „Das freie, christliche Abendland gegen den Rest der Welt!“ – von rechts, noch ein undifferenzierter Multikulturalismus – „Jeder ist frei auf seine Weise!“ – von links weiter. Dem rechten Lager gelingt es zwar, ein Problem auszudrücken, für das die anderen blind sind. Weil sie das Problem aber nur durch die Brille nationalstaatlicher Identitätspolitik in den Blick bekommen, verschärfen sie es zusätzlich. Das gelingt ihnen nicht zuletzt deshalb so gut, weil das linke Lager die Problemzusammenhänge nicht sieht oder leugnet.

Linke Faulheit

Wir haben uns daran gewöhnt, religiösen Fanatismus und Fundamentalismus als Bildungsprobleme anzusehen. Und es gehört zum guten Ton, die Gräueltaten von Islamisten in einen Kontext zu stellen, in dem diese – manchmal zugleich, manchmal vor allem (!) – Opfer sind. Seit Jahrzehnten kann man dies an der Haltung vieler westlicher Intellektueller gegenüber Israel beobachten. Seit 9/11 ist dieses Schema aber auch zum westlichen Deutungsmuster islamistischen Terrors geworden. Zu Recht verurteilen wir das Massaker, bei dem der rechtsterroristische Massenmörder Anders Breivik 77 Menschen das Leben geraubt hat. Ohne wenn und aber. Es ist dringend notwendig, dass wir rechten Terrorismus, wie er durch die NSU jahrelang unentdeckt verübt worden ist, wahrnehmen, verfolgen und ausmerzen. Ohne wenn und aber. Unbedingt, denn es gibt keine Gründe, die wir zu akzeptieren bereit sind oder die relativieren, was diese Mörder getan haben.

Das ist mit islamistischem Terror nicht anders. Wenn eine Missionarin in Mali von islamistischen Rebellen verschleppt und umgebracht wird, sind diese Mörder und die Missionarin das Opfer. Und das ist nicht dadurch zu relativieren, dass Westeuropa eine unrühmliche Kolonialismusgeschichte hat, Missionar*innen in der Vergangenheit Übel angerichtet haben oder sie sich des Risikos hätte bewusst sein müssen. Wenn in Paris ein Lehrer geköpft wird, der im Unterricht Mohammed-Karikaturen gezeigt hat, wurde er nicht ermordet, weil er diese Karikaturen gezeigt hat, sondern weil religiöse Fanatiker die Freiheit und Grundrechte unserer liberalen Ordnung verachten. Der Islamist ist nicht das Opfer einer hegemonialen westlichen Kultur, sondern ein Mörder. Wie Miniröcke kein Aufruf zur Vergewaltigung sind, sind Karikaturen kein Aufruf zu Gewalt. Beides gehört zur Freiheit unserer liberalen Gesellschaft.

Religion und Fanatismus

Die Mörder zu Opfern zu stilisieren, bedeutet, sie nicht ernst zu nehmen. Sie sind dann bildungsferne, nichtintegrierte, sozialschwache Tiere, die notwendig einem Instinkt folgen. Die Postmoderne hat sie abgehängt. Sie können gar nicht anders. Und wer ist schuld? Der zu schwache Sozialstaat, die unzureichende Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft, der sich gegenüber religiösen Intuitionen und Traditionen ignorant verhaltende Rechtsstaat. Und darum schweigt man lieber. Und das ist falsch.

Es gibt einen intrinsischen Zusammenhang zwischen Religion und Fanatismus, zwischen Islam und Islamismus und aus der eigenen Geschichte wissen wir, dass es diesen Zusammenhang auch im Christentum gibt. Er liegt in der Religiosität. Der Soziologe Georg Simmel hat das Phänomen vor über 120 Jahren psychologisch als eine Intensivierung von Wirklichkeitserfahrung beschrieben. (1)

Religions- und Ideologiefreiheit

Die Religiosität ist demnach eine emotionsintensivierende Kraft. Sie findet sich in Beziehungen, Ideologien, Weltbildern und Religionen. Darin muss sie, soll sie das Zusammenleben von Menschen nicht gefährden, reflexiv begleitet und juristisch beschränkt werden. Das heisst, Religionen brauchen eine Theologie, die sie an die Erfordernisse der Gegenwart anschlussfähig halten und die eigenen „Problemzonen“ von Innen heraus ansprechen und behandeln. Darin liegt die Freiheit der Religion. Die Gesellschaft braucht zugleich aber auch eine Freiheit von Religion und ihren Ansprüchen. Der liberale Rechtsstaat darf nur solche Religionsgemeinschaften dulden, die dessen eigene Ordnung und Gesetzgebung den religiösen Vorstellungen als übergeordnet verstehen und sich dazu bekennen. Der Katholik darf gegen Abtreibung sein. Aber er darf das Recht auf Abtreibung nicht anders als durch demokratische Mittel bekämpfen. Die Muslima darf Mohammed-Karikaturen falsch finden. Aber sie darf dagegen nur im Rahmen unserer Rechtsordnung vorgehen.

Der liberale Rechtsstaat gewährt seinen Bürgerinnen und Bürgern weitreichende Freiheiten. Sie dürfen Rassisten, Faschisten, Sexisten, Kommunisten, Christen, Freidenker oder Muslime sein. In ihrer Gesinnung sind sie frei. Aber sie dürfen in ihrem Handeln nicht gegen das Gesetz verstossen. Der eleganteste Weg dazu ist Bildung. Dann werden Rassisten, Faschisten, und Sexisten  über ihren Irrtum aufgeklärt und die Kommunisten, Christen, Freidenker und Muslime lernen sich selbst aus einer systemischen Perspektive in den Blick zu nehmen, verstehen ihre Rolle als Teile einer vielstimmigen Gesellschaft. Aber das alleine reicht nicht. Denn nicht immer gelingen Bildungsprozesse. Und nicht allen Menschen gelingt es, die Überordnung des liberalen Rechtsstaates in ihr Weltbild, ihre Ideologie oder ihre Religion gedanklich zu integrieren.

Kulturrelativismus

Ein Kulturrelativismus der diese Tatsache leugnet oder verschweigt, sägt den Ast ab, auf dem er selbst sitzt. Nur wenn Gleichberechtigung, Religions- und Meinungsfreiheit wirklich durchgesetzt werden, bleibt das Nebeneinander verschiedener Traditionen und Werthaltungen lebbar. Und nur unter diesen Rahmenbedingungen kann es zu einem neuen Miteinander werden. Manche verstehen Demokratie, Religionsfreiheit, den westlichen Humanismus oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau als eine mögliche Alternative neben anderen Werten. Das ist falsch. Aus zwei Gründen:

  1. Die Einsicht in die historische Genese und Bedingtheit der eigenen Werte, sollte diese nicht in ihrer Geltung relativieren, sondern viel mehr das Engagement für diese Errungenschaften einzutreten, befeuern. Wir hatten diese Werte nicht immer. Wir könnten sie verlieren. Das darf nicht geschehen.
  2. Unser Verhältnis gegenüber der Gesellschaft ist nicht dasjenige eines Soziologen. Wir beobachten Gesellschaft nicht nur, sondern nehmen an ihr teil. Die Grundwerte, welche sich in der Demokratie, dem liberalen Rechtsstaat, der Religionsfreiheit, dem Humanismus und der Gleichberechtigung ausdrücken, sind die mentalen Voraussetzungen unter denen wir uns als Gesellschaftsteilnehmer*innen gleichberechtigt begegnen können. Wenn wir aber den Glauben daran aufgeben, dass uns gleiche Rechte untereinander zukommen, dass wir frei sein sollten und nach Glück streben dürfen, dann gibt es kein „Wir“ mehr, dessen Kultur man relativieren könnte.

Man muss diese Grundwerte deshalb nicht gewaltsam in anderen Kulturen oder Ländern durchsetzen. Wahrscheinlich geht das auch gar nicht. Diese Einsicht teile ich mit den meisten Kulturrelativisten. Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind aber nicht relative Werte. Sie gelten unbedingt und zu jeder Zeit. Man wusste das nicht immer. Wir verdanken unsere Einsicht in deren Wichtigkeit einem langen, schmerzhaften Lernprozess. Aber es wäre zu jeder Zeit besser gewesen, wenn Menschen gleichberechtigt, frei und solidarisch miteinander verkehren.

Heute müssen wir uns dafür engagieren, dass innerhalb unserer Gesellschaft keine Parallelmilieus entstehen, keine Sozialräume, die einer ideologischen oder religiösen Eigengesetzlichkeit folgen. Der Staat, der die Religionsfreiheit garantiert, hat auch dafür zu sorgen, dass Hassprediger bestraft und deren Gemeinschaften verboten werden. Es gibt keine Toleranz gegenüber dem Faschismus. Nicht gegenüber religiösem Faschismus, religiöser Frauenverachtung, religiösem Morden.

Aufklärung

Es gibt dabei keinen substanziellen „Religionskern“, der Religionen mehr oder weniger anfällig macht für Extremismus und Totalitarismus. Man kann die Bibel oder den Koran lesen und dabei auf humanistische Ideale oder freiheitsvernichtenden Totalitarismus stossen. Der Text ist ein Text. Als solcher muss er interpretiert werden. Oder besser: Als solcher wird er ohnehin immer schon interpretiert.

Die westliche Aufklärung hat dazu Hilfe gefunden in der Historisch-kritischen Methode. Das war ein hilfreicher Weg, weil er der Bibel den Nimbus der Gottesoffenbarung genommen hat und die Offenbarung von der Schrift in die Verkündigung, vom Text in die Gemeinde transferiert hat. Wahr ist, was sich in der Gemeinde bewährt. Nicht das, was im Text steht.

Nun muss man „vom Islam“ nicht einfordern, dass seine Theologien ebenfalls den Weg historischer Kritik und ideengeschichtlicher Selbstverortung beschreiten. Aber man kann ihn auch nicht einfach machen lassen. Denn es gibt Zentren, um diese herum Extremismus blüht und gedeiht. Sondern muss fragen, wie innerhalb islamischer Theologien Selbstkontextualisierungen und Selbstrelativierungen eingetragen werden können. Wie Muslime die Überordnung des liberalen Rechtsstaates mit ihrem Glauben vereinbaren. Und es gibt darauf gute Antworten (2).

Aber Prediger und Gruppierungen, die nicht wenigstens um eine Antwort ringen, gehören nicht zu Europa wie die Demokratie oder die Menschenrechte, sondern gefährden diese und müssen Gegenstand  staatlicher Beobachtung und Sanktion sein. Wenn der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz in Deutschland, Georg Bätzing, angesichts islamistischen Terrors in Erinnerung ruft, dass Europa ein „grosses Projekt des friedlichen Zusammenlebens“ sei und wir uns diese Vision nicht durch Attentate zerstören lassen dürfen, ist das solange eine Sonntagsrede, bis wir für diese Vision einstehen, unliebsame Wahrheiten aussprechen und islamistischen Terror mit Bildung und demokratischen Mitteln zurückdrängen und mit der Staatsgewalt vereiteln. Ohne wenn und aber.

 

Photo by Jon Tyson on Unsplash

(1) „Die Beziehung des pietätvollen Kindes zu seinen Eltern, des enthusiastischen Patrioten zu seinem Vaterland oder des enthusiastischen Kosmopoliten zur Menschheit; die Beziehung des Arbeiters zu seiner sich emporringenden Klasse oder des adelsstolzen Feudalen zu seinem Stand; die Beziehung des Unterworfenen zu seinem Beherrscher, unter dessen Suggestion er steht, und des rechten Soldaten zu seiner Armee – alle diese Verhältnisse mit so unendlich mannigfaltigem Inhalt, können doch auf die Form ihrer psychischen Seite hin angesehen, einen gemeinsamen Ton haben, den man als religiös bezeichnen muss.“

(2) Dabei denke ich v.a. an die Debatten, die um Bassam Tibis Idee eines „Euro-Islams“ geführt werden, insbesondere aber an Mouhanad Khorchides neues Werk „Gottes falsche Anwälte“ 2020.

8 Kommentare zu „Islamistischer Terror und linke Sprachlosigkeit“

  1. Johanna Breidenbach

    Danke für diesen klugen Artikel, Stephan! Ich finde ihn super.
    Er fächert die verschiedenen Perspektiven gut auf, um die es geht und hält – für mich unendlich wohtuend fest – dass der jüngste islamistische Terror gebannt gehört, und nicht in erster Linie empathisch verstanden.
    Zwei Anmerkungen: Du schreibst von der Religiosität vor allem als einer zu zähmenden Kraft. Da stimme ich einerseits zu und finde andererseits, dass der Zusammenhang zwischen Religion und Fanatismus genauso intrinsisch ist wie der Zusammenhang zwischen Religion und etwa unbedingtem Respekt gegenüber geschaffenem Leben. Die Religion kann beides!
    Der robuste Säkularismus, der in Frankreich vorherrscht und Religion nur mit der Beisszange anfassen will, ist doch Teil des Problems. Ich will also auch die gesellschaftsproduktiven Kräfte der Religion betonen, nicht nur ihr destruktives Potenzial.
    Und dann: deine Argumente für eine entschiedene Position trotz Einsicht in deren Genese und Veränderbarkeit mögen mich völlig zu überzeugen – und ich argwöhne, dass sie das deshalb tun, weil ich dieselbe Position hinsichtlich des liberalen Rechtsstaates vertrete. Biegt sich irgendwann der Spaten da nicht doch auf sich selbst zurück und man muss einfach bekennen:
    Ich möchte halt in so einer Welt leben, in der es Platz hat für viele. Ich finde das eben, dass es zu allen Zeiten besser gewesen wäre, hätten die Menschenrechte gegolten. Und ich kann mit guten Gründen dafür Werbung machen, aber überzeugen werden wir solche, die anders denken, mit Gründen nicht. Sondern das findet auf anderen Ebenen statt (und führt dann eben doch auch dahin, nicht um ihn zu entschuldigen, zu sehen, was für ein Leben der jüngste Attentäter von Nizza in Tunesien hatte).

  2. Liebe Johanna!
    Herzlichen Dank für dein schönes Feedback und die wichtige Erinnerung daran, dass Religion auch so viel Tiefe, Schönes und Lebensförderndes zu bieten hat. Das ist wirklich wichtig und ich hätte das ruhig auch sagen können 😉
    Und ja: Was den liberalen Rechtsstaat angeht bin ich normativ. Weil er nicht etwas neben anderem ist, sondern die Grundlage, ohne den vieles gar nicht geht.
    Lieber Gruss!

  3. „Der robuste Säkularismus, der in Frankreich vorherrscht […], ist doch Teil des Problems.“ Inwiefern?

    Seit 20 Jahren brennen in französischen Großstädten die Banlieus. Die soziale, wirtschaftliche und edukative Perspektivlosigkeit der Bevölkerung dort führt dazu, dass die staatlichen Aufgaben u.a. von islamischen Organisationen übernommen werden. Diese transportieren eine bestimmte (auch politische) Ideologie mit, die u.a. erklärt, warum es den Muslimen in Frankreich schlecht geht. Die religiöse Radikalisierung führt (nicht kausal gemeint) zu den Morden. Bin ich zu naiv?

    1. Lieber Carsten,
      nein, da stimme ich dir zu. Aber ich gehe noch einen Dreh weiter: Wenn diese Sozialstrukturen fehlen, dann wird Religion zum Identitätsmarker. Im Falle eines dezidiert laizistischen Staates ist sie dann ein Alternativmodell zur Gesellschaft.
      Siehst du das anders?
      LG, Stephan

      1. Nein, ich sehe es genauso, wenn die Sozialstrukturen fehlen, wird Religion zum (alleinigen) Identitätsmarker.

        Ich verstehe dann nur nicht, warum der robuste Säkularismus ein Teil des Problems sein soll. In der Schweiz und in Deutschland gibt es eine (politische, gesellschaftliche) Verknüpfung zwischen Staat und Religion und eine andere Religion ist dennoch das Alternativmodell zur Gesellschaft und wirkt identitätsstiftend.

  4. Ich stimme Ihnen zu, Herr Jütte, und begrüsse diese feinsinnigen Überlegungen und die mutige Stellungnahme.

    Mut braucht es leider immer öfter bei solchen nicht-orthodoxen Äusserungen, denn der linksliberale (und leider auch reformiert-christliche) Mainstream hat seinen Zenit überschritten, ist denkfaul geworden und baut immer neue Zäune in Form von Denkverboten und Doktrinen, während er gleichzeitig für sich mit viel Pathos (in der Kirche wird dann schnell das „prophetische Wächteramt“ bemüht) in Anspruch nimmt, die Offenheit und Durchlässigkeit unserer Gesellschaft zu verteidigen. Etwas mehr Gelassenheit und Demut wäre sehr zu begrüssen. Stattdessen wird ein Monopol auf den Humanismus und die Menschenfreundlichkeit beansprucht und jene, die Widerspruch üben und kritisieren, werden aus der „Familie“ verstossen und schnell mal in die Schmuddelecke verbannt. Dies sagt einer, dessen Herz immer auf der linken Seite geschlagen hat.

    Sehr sorgfältig und unaufgeregt analysiert der Soziologe Stefan Reckwitz diese Lage. Er bringt es m. E. sehr zutreffend auf den Punkt, indem er eine „liberale Hyperkultur – die wirtschaftsliberal und linksliberal zugleich grundiert ist“ heute in der Krise sieht. Diese Krise umfasst mehrere Bereiche des dominanten Diskurses der linksliberalen Elite. Dabei sieht sich diese z.t. selber immer noch in der Opposition zu den „Mächtigen“, was nur noch ein paar lautstarke Gruppen durch eine bizarre Radikalisierung ihrer Positionen für sich in Anspruch nehmen können, während die Mehrheit, erst neuerdings bedrängt durch Kulturessentialisten verschiedener Ausprägung, effektiv an den Schalthebeln sitzt.

    Ich habe hier einen weiten Bogen gespannt, den ich bei Gelegenheit gerne anhand einer konkreten Geschichte ausführen kann.

  5. Andreas Anderfuhren

    Lieber Stephan

    Du sprichst einen inneren Widerspruch der Postmoderne an, welcher seit längerem unter der Oberfläche lauert – ohne dass die Postmoderne bisher eine tragfähige Antwort darauf gefunden hätte. E.-W. Böckenförde hat diesen Widerspruch schon vor längerer Zeit für den Bereich der Politik formuliert.

    Ganz und gar nicht zustimmen kann ich Deiner Aussage, es sei ein „hilfreicher Weg, […] die Offenbarung von der Schrift in die Verkündigung“ zu transferieren. Jede Sekte transferiert die Offenbarung von der Schrift in die Verkündigung (ihres Gurus).
    Die Mehrheit der Deutschen war jahrelang davon überzeugt, dass sich die Grundsätze der Nationalsozialisten für ihre Gemeinschaft bewährten – und darum wahr seien: Die Wahrnehmung dessen, was sich ‚in der Gemeinde‘ bewährt, lässt sich leider sehr leicht manipulieren – in unserer Zeit leichter denn je (Stichwort Filterblasen). Das wurde in den letzten Jahren auf erschreckende Weise demonstriert durch das Herrschaftsmodell Trump.
    Da verlasse ich mich sehr viel lieber auf die Schrift als Offenbarung. Sie ist seit sehr langer Zeit bekannt und zur allgemeinen Diskussion allen zugänglich. Darum betonen wir Reformierte das allgemeine Priestertum: Die offene Diskussion über einen seit langem bekannten und fixierten Text (Kanon) ist der beste Schutz gegen Manipulation. Und zum Problem des Radikalismus: Die Folgen aller möglichen Auslegungsversuche der Bibel sind durch die Geschichte offen gelegt. Ein immenser Vorteil, welcher den ‚Offenbarungen‘ unserer Zeit fehlt.

    1. Lieber Andreas, danke für diesen Kommentar! Wir liegen gar nicht so weit auseinander: Die Heilige Schrift wird ja bei den Reformierten gerade nicht durch ein Lehramt, sondern in der Gemeinde ausgelegt. Und dort hat sich die Auslegung zu bewähren. Eben ohne Gurus etc. Ich bin nicht gegen Offenbarung. Aber ich denke sie als einen Prozess, der sich in der Diskussion der Gemeinden und der Gemeindeglieder durchsetzt.
      Lieber Gruss!

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox

RefLab-Newsletter
Podcasts, Blogs und Videos, alle 2 Wochen
Blog-Updates
nur Blogartikel, alle 2 bis 3 Tage