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 Lesedauer: 7 Minuten

Selig sind die Sehnsüchtigen

 
Überblick über diese Blogserie
  1. Der Untergang naht – Zeit für freigespielte Hoffnung
  2. Rückspiel: Der Untergang naht – Zeit für freigespielte Hoffnung
  3. Selig sind die Sehnsüchtigen
  4. Rückspiel: Selig sind die Sehnsüchtigen
  5. Spielerisch leben – allen Ernstes
  6. Rückspiel: Spielerisch leben – allen Ernstes
  7. Die kreative Trinität – Heiliger Geist, Zeitgeist und ich
  8. Rückspiel: Die kreative Trinität – Heiliger Geist, Zeitgeist und ich
  9. Begeistert sein – Die Freude am Wandel

 

»Schäm Dich nicht, Du bist zu beneiden!«

Immer, wenn es im Radio läuft, drehe ich lauter und singe mit: »I Still Haven’t Found What I’m Looking For!« Die Band U2 hat mir ein wunderschönes Sehnsuchtslied geschenkt. Lange habe ich mich allerdings für das Gefühl der Sehnsucht geschämt. Und das liegt nicht nur an meiner christlichen Herkunft, der Gefühle insgesamt eher verdächtig vorkamen.

Ein Blick in die Geschichte der Sehnsucht macht klar, dass sie öfters verpönt war als krankmachende Flucht vor der Wirklichkeit. Vor allem von denen, die ein machtvolles Interesse daran haben, dass alles so bleibt, wie es ist.

Mittlerweile hat der Zeitgeist der Sehnsucht ein besseres Image beschert und sie in die Liga der Zauberwörter erhoben. Zum Glück! Und aus gottesgeistlicher Perspektive ziehe ich mit und sage: »Glückwunsch zur ersten aller Gaben des Heiligen Geistes. Sie sind zu beneiden!«

Wenn der Geist atmet, erwacht die Sehnsucht

Die Schöpfungserzählungen der Bibel enthüllen den göttlichen Ursprung der Sehnsucht (1Mose 2,7): »Da bildete der HERR, Gott, den Menschen aus Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch eine lebende Seele« Hinter dem »Lebensatem« steckt der Heilige Geist, der jedem Menschen eingehaucht, in-spiriert ist. Und die »lebende Seele« meint die Kehle, durch die wir atmen, den Schlund, durch den wir trinken, die Öffnung, durch die wir Nahrung aufnehmen.

Das Sein des Menschen ist damit qualifiziert als bedürftig, verlangend, begehrlich, gelüstend, durchlässig, reizbar, betörbar und verführbar. Man ist geneigt zu sagen: Wer durch den Geist Gottes derart offen ist, kann nicht ganz dicht sein!

Aber haben wir nicht erfahren, wie kümmerlich es ist, aus sich selbst leben und bei sich selbst bleiben zu müssen? Und wie vitalisierend es ist, offen und empfänglich zu sein für die Fülle des Lebens und der Welt? Menschliches Leben ist gemacht für mehr, ist beglückt mit der Fähigkeit sich selbst zu transzendieren und vollzieht sich deshalb ekstatisch.

Sehnsucht ist die spirituelle Kraft, die uns in diese Verbindung mit allem Lebendigen hineinzieht. Wachgeküsst hat sie der göttliche Geist des Lebens. Und die Seele ist unser empfindsames Sehnsuchtsorgan.

Die schmerzhafte Weise, mit dem Leben verbunden zu bleiben

Sehnsucht fühlt sich nicht nur gut an. Schöner als Bernhard Meuser kann ich das nicht beschreiben: »Immer aber ist Sehnsucht ein von Hoffnung gebrochenes Weh, ein perspektivisches Nichtgenügen, ein Schmerz mit Aussicht, eine vorläufige Melancholie. In der Sehnsucht sind Tränen über Versagtes, Entzogenes, Verbotenes, Unerreichbares, über Abbrüche, Halbheiten, Bruchstücke unserer Existenz. Aber das in der Sehnsucht wehmütig Ersehnte erscheint im Horizont der Hoffnung, erscheint als Teil eines größeren Ganzen, das sich noch zeigen wird« (Beten. Eine Sehnsucht, S. 56). Das Ein- und Ausatmen meiner Seele wird hier zu einem Seufzen – und der Geist Gottes atmet mit. Mir kommt es vor, als bliebe ich spiegelverkehrt angebunden an die Lebendigkeit. Wer allerdings vor Sehnsucht verschmachtet, sitzt gebannt wie Harry Potter vor dem verhexten Spiegel Nerhegeb. Gerade daran zeigt sich, wie angewiesen wir darauf sind, dass der Geist Gottes die Seele durchlüftet und dem Spuk ein Ende bereitet. Selig, wem die Sehnsucht erneut gegeben wird. Oder mit den Worten der Marie von Ebner-Eschenbach:

»Nicht die sind zu bedauern, deren Sehnsüchte nicht in Erfüllung gehen, sondern diejenigen, die keine mehr haben.«

Die charmante Erinnerung an das göttliche Mehr

Die junge Zeitgeistforschung vermag es, den schnellen Wandel der Sehnsüchte zu erfassen noch während er stattfindet. Die Sehnsuchtsforschung fragt, wie sich Sehnsüchte im Laufe eines Lebens verändern. Eine Wandlung habe ich bei mir festgestellt: Meine Sehnsucht speist sich nicht mehr so sehr aus den schmerzhaften Erfahrungen meiner Mängel und Defizite. Wie oft habe ich mich neidisch verglichen mit dem, was andere haben und können? Wie sehr haben mich die Vorgaben fragwürdiger Kirchen- und Zeitgeister vor sich hergetrieben?

Vermutlich habe ich begonnen zu entdecken, dass Sehnsucht, die sich vom Druck des Lebens nährt, weder besonders kräftig noch ausdauernd ist. Je länger je mehr widerfährt mir die Sehnsucht als ein eigenartiges Ziehen.

Aus der unüberschaubaren Menge an Wünschen umwirbt mich der eine mit kristalliner Klarheit. Die Pflicht zu lieben, verwandelt sich in einen Sog, meinen Geliebten etwas von mir zu schenken. Wie magisch zieht mich ein spiritueller Ort zu sich, weil ich dort in der Ruhe und bei mir selbst ankommen könnte. Ich finde mich betend, nicht nur, weil ich musste, sondern weil Gott mich heilig dazu verführte.

Meine liebe Kollegin Debora Sommer erklärt es so:

»Sehnsüchtig grüßt der, der ich bin, den, der ich sein könnte« (Im Herzen ist Raum für mehr, S. 206).

Welch ein resonantes und heilsames Selbstverhältnis ist uns durch die Sehnsucht gegönnt! Der Hauch des Geistes bringt die Seele zum Schwingen, indem er sie charmant und liebevoll daran erinnert, dass das Leben viel mehr, weiter und erfüllter ist, als sie zu träumen wagt.

Sie ist wirklich göttlich!

Wohl denen, die sich von dieser spirituellen Kraft der Sehnsucht locken und in ihre Zukunft ziehen lassen. Ich sehe nicht, wie sich diese ekstatische Selbstüberschreitung auf das Diesseits beschränken lässt. Der christliche Glaube wagt hier den Gedanken der Vergöttlichung des Menschen (Theosis). Der Mensch ist dazu geschaffen und bestimmt, in ungetrübter Weise das Leben, die Liebe, die Schönheit und das Glück mit Gott zu teilen.

»Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes, und es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden; wir wissen, dass wir, wenn es offenbar werden wird, ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist« (1Johannes 3,2).

Die Sehnsucht wäre damit die zärtliche Weise Gottes, wie er sich selbst bei uns in Erinnerung hält. Und das wohl auf ewig. Die schmerzhafte Sehnsucht vergeht. Aber können Sie sich ernsthaft vorstellen, dass die Seele je genug hat vom Leben und seiner göttlichen Liebhaberin?

Die Segel der Seele im weiten Raum des Lebens aufspannen

Ich darf Ihnen verraten, dass ich selbst beim Schreiben dieser Zeilen Lust auf Sehnsucht bekommen habe. Und es wäre mir eine echte Freude, wenn das Lesen über Sehnsucht auch Sie sehnsüchtig gemacht hätte. Gerade dann könnte in uns aber der altbekannte Reflex anspringen: Wie kriege ich mehr Sehnsucht, damit ich sie als Lebenskraft nutzen kann? Inzwischen glaube ich, dass wir diese kriegerische Art zu leben nicht mehr nötig haben.

Die Sehnsucht zu ergreifen, ist eine spirituelle Kunst, die darin besteht, sich von der Sehnsucht ergreifen zu lassen. Wer über die Sehnsucht verfügen will, dem entzieht sie sich wahrscheinlich. Wer sich der Sehnsucht hinhält, dem weht sie sich zu.

Es ist nämlich so, dass der Geist Gottes nicht nur in uns lebt, sondern wir auch in ihm. Die Sehnsucht macht den Raum der Seele weit, während die Seele immer schon im weiten Raum der Sehnsucht lebt. Die unendliche Schöpfung entstand, weil Gott sich nach seinen Geschöpfen sehnte. Seit biblischen Zeiten erfahren Menschen wie Mutter Teresa, dass es Gott nach uns Menschen dürstet, und zwar nicht aus Mangel, sondern aus der Fülle des Seins, die sich lustvoll versprühen will.

Wenn also der sehnsüchtige Geist Gottes unser Leben durchweht und zu ergreifen begehrt, dann spanne ich die Segel meiner Seele weit auf, um es immer wieder zu erleben: »Alles beginnt mit der Sehnsucht« (Nelly Sachs).

3 Kommentare zu „Selig sind die Sehnsüchtigen“

  1. Ahhh…
    Wie gut , wie heilsam, wie befreiend zu lesen…
    Ja, diese Zeilen rühren eine Seite in mir, die nach Inspiration und Ruhe, nach einem Lächeln auf meinen Lippen riecht.
    Und dennoch meine Frage: wird nicht die Sehnsucht in Gottes Nähe – in der Ewigkeit bei und mit ihm – gestillt?
    Ich denke, meine Sehnsucht wird dort seine Erfüllung finden.
    Ja, auch darauf freue ich mich sehnsüchtig…
    SMILE

    1. So soll es sein – heilsam und befreiend.
      Und ich bin mit Dir gespannt, wie es sich anfühlt, wenn unsere Sehnsucht am Ziel ist. Aber es würde mich nicht wundern, wenn Gott – gerade weil wir angekommen sind – eine vollkommene, leid- und schmerzfreie Sehnsucht versprüht.

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