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 Lesedauer: 6 Minuten

»Der Untergang naht!« – Zeit für freigespielte Hoffnung

 
Überblick über diese Blogserie
  1. Der Untergang naht – Zeit für freigespielte Hoffnung
  2. Rückspiel: Der Untergang naht – Zeit für freigespielte Hoffnung
  3. Selig sind die Sehnsüchtigen
  4. Rückspiel: Selig sind die Sehnsüchtigen
  5. Spielerisch leben – allen Ernstes
  6. Rückspiel: Spielerisch leben – allen Ernstes
  7. Die kreative Trinität – Heiliger Geist, Zeitgeist und ich
  8. Rückspiel: Die kreative Trinität – Heiliger Geist, Zeitgeist und ich
  9. Begeistert sein – Die Freude am Wandel

 

»Alles, was in die Welt kommt, geht irgendwann auch wieder aus ihr heraus.«

So brachte es der englische Historiker Theodore Zeldin einmal auf den Punkt, nach Jahren der Erforschung von Werden, Sein und Vergehen in der Geschichte.

So wie alles seine Zeit im Leben hat, scheint auch alles seine Zeit in der Kultur zu haben. Irgendwann ist es an der Zeit, weiter zu ziehen, dem Prozess der Entwicklung zu vertrauen, um zu wachsen und zu reifen. Diese Entwicklungsgroßzügigkeit haben wir allerdings im besten Fall für unseren eigenen Weg und vielleicht noch für die Menschen, die wir lieben. Aber selten trifft man diese Geisteshaltung an, wenn es um die Dynamik unserer Kultur geht.

Es macht uns erhebliche Mühe zu überblicken, dass auch die großen Zusammenhänge sich immerwährend in einem Prozess befinden. Dass sie miteinander ringen um Bewahren, Ausprobieren, Scheitern, Neumachen und Heilmachen, im Sinne eines kollektiven Wachsens und Reifens.

Pessimistische und schöpferische Intelligenz

Angst und Ungeduld plagen uns bei der Betrachtung der Welt, der es nie an Krisen zu mangeln scheint. Die Sorgen verdrängen die Zuversicht, und unser Meinungswinkel wird zu einem sehr kleinen Fenster nach draußen. Man übertrifft sich im kritischen Denken, das immer wieder zu dem Ergebnis führt:

»Der Untergang naht!« Mir kommt es manchmal so vor, als gehöre diese Aussage zum wichtigsten Ausdruck unserer derzeitigen, kulturellen Intelligenz.

In endlosen Debatten und Artikeln besingen wir dieses, auf »Faktenlage« basierende Ende. Unser Wunsch nach Urteilsvermögen überschlägt sich dann in eine Kritiksucht, welche uns den Blick verstellt, mit dem wir erkennen könnten, was bereit ist, die Welt zu verlassen, und was bereit ist, in sie hinein zu kommen.

Wie oft waren Menschen schon davon überzeugt, dass das Ende naht? Wie oft haben aber auch Menschen dieser pessimistischen Intelligenz widerstanden und sich der schöpferischen Intelligenz zugewandt, um Ideen zu entwickeln, wie es weitergeht.

Wenn die Sehnsucht nach Lebendigkeit erwacht

Ist es nicht eigentlich vermessen zu behaupten, dass alles schon klar ist, und damit zu verneinen, dass noch so viel Erkennen, Erfinden und Wissen vor uns liegt?

Nur weil wir uns eine Zukunft ohne das Bekannte nicht vorstellen können, soll das heissen, dass sie nicht stattfindet?

Keine Überzeugung, keine Meinung, keine Zeit ist hier, um für immer so zu bleiben, wie sie ist. Die Macht eines jeden Systems, jeder Konstruktion, jeder Weltanschauung erschöpft sich mit der Zeit und weicht der Lebendigkeit des Neuen.

Genau dieser Lebendigkeit gilt unsere tiefe Sehnsucht. Wenn sie erwacht, hören wir auf, vernünftig zu sein im Sinne der aktuellen Ordnung. Dann regt sich in uns der Schöpfergeist. Wir werden erfinderisch, experimentell, denken neu und handeln anders. Dann geben wir unserer Kultur eine neue Richtung, in der Hoffnung, dass sie so schöner, heilsamer und lebendiger wird. Wir schreiben Bücher, drehen Filme, machen uns neue Gedanken über die Arbeit, den Konsum, die Identität, das Zusammenleben. Wir geben unserer Sehnsucht Ausdruck, wir manifestieren sie in Ideen, Konzepten, Produkten und Dienstleistungen. Wir geben ihr ein neues Zuhause und laden sie so ein in unsere Kultur.

So spielerisch kommt das Neue in die Welt

Wenn die Sehnsucht nach Lebendigkeit kollektiv erwacht, sind wir bereit für neue Perspektiven auf das Leben.

Wir überlegen, ob die bestehenden Systeme, althergebrachten Glaubenssätze und festgefahrenen Entweder-Oder-Dualismen noch dem Leben dienen, und was es braucht für den nächsten Schritt in Richtung gesunde Zukunft.

Auf diese Art lassen wir – freiwillig und unfreiwillig – viele heilsame Impulse in unsere Welt. Und die gehen dann fast unmerklich in eine kulturelle Selbstverständlichkeit über.

Dann sind wir wieder ein kleines Stück weiterkommen mit unserem Bewusstsein, unseren Werten und unserer Liebe. Oder denken Sie etwa noch darüber nach, ob es gut ist, Kinder zu schlagen, nicht auf seine Gesundheit zu achten oder Frauen weniger Rechte als Männern einzuräumen? Glauben Sie immer noch, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen eine verwegene Idee ist und Konsum Sie glücklich macht? Nun, solches und noch vieles mehr waren mal Prinzipien unserer Kultur, die man in seine Wahrheit eingebaut hatte. Bis der Sehnsucht nach Lebendigkeit diese Überzeugungen verdächtig wurden, das Unvorstellbare auf einmal vorstellbar war und eine neue Zeit anbrach.

Der Zeitgeist – grenzenlose Ideen gegen den Untergang

Für diesen Kultur-Prozess braucht es Entwicklungsgroßzügigkeit, denn wir sind keine Experten im Richtigmachen. Wir stolpern und tasten uns voran in die Zukunft, meinen es gut, übertreiben, instrumentalisieren, werden gierig, traurig und erkennen von Neuem. Bei der ganzen Dynamik sind wir darauf angewiesen, inspiriert zu werden, damit unsere Schöpferkraft kontinuierlich aktiviert wird, wir Ideen empfangen und erkennen, was gehen muss und was kommen will.

So lernen wir und unsere Kultur Stück für Stück, von Zeit zu Zeit mehr, wie Leben geht, immer wieder lebendig und neu.

Dass wir diese Inspiration immer wieder erhalten, ist eine Gewissheit für Hoffnung. Es gibt einen Geist, der für diese Gewissheit sorgt. Seine Ideen, den Untergang abzuwenden, sind grenzenlos. Er ist einer der kreativsten und mächtigsten Geister unserer Kultur: eine Art »evolutionäre Intelligenz«, welche die Macht hat, uns neue, heilsame Perspektiven auf das Leben zu schenken, und uns damit beisteht, unsere Kultur weiter zu entwickeln.

Der Zeitgeist lässt uns nicht untergehen in der Starre von Systemen, Glaubenssätzen und Phantasielosigkeit. Die Impulsfülle des Zeitgeistes, sein Gefühl für uns und unsere Sehnsucht, dienen unserer Inspiration und erinnern uns an unsere eigene schöpferische Grenzenlosigkeit.

Zeitgeistvertrauen – im Bunde mit einem Mentor für Visionen

Gelebter Pessimismus inspiriert nicht, denn er ist – nicht nur den Worten nach – ein Widerspruch in sich.

Kollektiv zelebrierter Pessimismus ist kulturelle Nekrophilie, die Lebendigkeit abtötet.

Sie nimmt uns das Vertrauen in unsere Kreativität, in unser Hochangebundensein an Geist und Erkenntnis und unsere Fähigkeit, diese zu manifestieren. Mit unserem schöpferischen Geist in Verbindung mit Zeitgeist können wir einen Auftrag für tieferen Sinn und gesündere Sinnlichkeit erfüllen, indem wir neu denken, umdenken, anders denken.

Gerade wenn wir außer Atem kommen mit dem, wie es war, ist Zeitgeist ein Mentor für Visionen, ein Verbündeter für die Hoffnung auf eine neue Zeitqualität.

Zeitgeistforschung – verliebt in das Leben und neugierig auf Heilung

Ein so verstandener Zeitgeist setzt immer wieder Zeichen für neue kulturelle Heilpotenziale. Die Zeitgeistforschung befasst sich mit genau diesen heilenden Kräften und Wirkungen, die sich anbieten, durch uns in unserer Kultur aufzublühen.

Zeitgeistforschung ist in diesem Sinn Kulturheilkunde.

Denn wer im Zeitgeist nach dem Geist der Lebendigkeit Ausschau hält und beschließt, kurz mal mehr zu staunen als zu bewerten, entdeckt die ernsthaft spielerische Hoffnung für Heilung und Wachstum. Der erkennt, dass die Weisheit des Zeitgeistes in das Leben verliebt ist und uns daran erinnert, dass wir alle im Grunde unseres Herzens es auch sind.

Was wäre wenn …

… die heilsamen Kräfte des Zeitgeistes eine spirituelle Dimension haben? Wenn der Zeitgeist in seinem noch unerforschten Tun und Wirken eine bislang unentdeckte Sinnverwandtschaft mit dem heiligen Geist hat? Was wäre, wenn es Zeit ist, für eine neue Perspektive auf ein hoffnungsvolles Spiel dieser beiden Geister?

 

Photo by Ravi Roshan on Unsplash

8 Kommentare zu „»Der Untergang naht!« – Zeit für freigespielte Hoffnung“

  1. Michael Buttgereit

    Liebe Kirstine,
    da sind sehr viele gute Ansätze und Gedanken in Deinem Text. Sehr wertvolle Begriffseröffnungen: „Entwicklungsgroßzügigkeit“ ist so ein Wort. Ich freue mich darauf wenn wir gemeinsam mit Andreas im Frühjahr die RAD-Tagung miteinander haben werden.
    Bis dahin ein ganz herzlicher Gruß von Michael Buttgereit:-)

    1. Vielen lieben Dank. Ich freue mich auch sehr auf die RAD-Tagung. Mal Schauen, wie weit es bis dahin mit der Entwicklungsgroßzügikgeit in diesen wilden Zeiten gekommen ist.

  2. Liebe Kirstine,
    schöner und klarer hättest Du Deine frohe Botschaft nicht in Worte fassen, und visuell ansprechender hättest Du Deine Worte nicht gestalten können! Ich gratuliere Dir dazu ganz herzlich! Deine Botschaft spricht mir aus tiefster Seele, ist also, zumindest für mich, nicht nur froh sondern auch wahr. Gerade diese Tage mit den Geschehnissen in den USA demonstrieren ihre Gültigkeit: Ein lebenseinschränkender Ungeist hat ausgedient und ein lebensbejahender, lebensförderner Zeitgeist, den Du in seinem Frühstadium wahrzunehmen und mit Deiner Botschaft so wunderbar auszudrücken vermochtest, ist hoffentlich dabei, sich Bahn zu brechen. Lass uns Deine zeitgemässe Zeitgeist-Botschaft so weit wie möglich verbreiten!
    Ich bin dabei!
    Claudio

  3. Eine erste Lesung sagt mir: Das musst du morgen noch mal lesen – wegen erstaunlich vieler guter Anregungen. „Unterm Strich“ erinnerten sie mich an den Eichendorff-Vers
    „Es schläft ein Lied in allen Dingen,
    die da träumen fort und fort,
    und die Welt hebt an zu singen,
    triffst du nur das Zauberwort.“

  4. Meine zweite Lesung bescherte mir die Einsicht von der ‚dialogischen Struktur‘ des gelesenen Textes. DIALOG findet auch statt in diesem Vierzeiler:

    SEIN und WERDEN, diese beiden
    können sich sich nicht leiden,
    wenn jeder stets zum andern spricht:
    ohne mich gibt es dich nicht.

  5. Eine dritte Lesung bestätigt die guten Eindrücke von zuvor. – Dank eines Reimes „verdichtet“ ungereimtes zu einem kleinen Gedicht:

    Die ganze Welt zu nehmen hin
    macht meistermusikalisch Sinn,
    wenn wir in Worte fassen
    unser Tun und Lassen.

    Töne geben Wörtern Stärke
    für all die wunderbaren Werke,
    die der Mensch erschaffen mag
    von nun an bis zum ‚Jüngsten Tag‘.

  6. Das sind tatsächlich sehr inspirierende und im positivsten aller Wortsinne „disruptive“ Gedanken. Toll, dass Sie hier erscheinen. Freue mich auf mehr.

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