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 Lesedauer: 7 Minuten

Advent beginnt jetzt – im Dunkeln

Ich bin angespannt. Lade alle paar Minuten die CNN-Website neu. Ich mache frischen Tee, backe einen Kürbiskuchen, weil ich mich nicht auf die Arbeit konzentrieren kann, scrolle durch Twitter. Die Welt hält die Luft an. Und wenn die Ergebnisse der Wahlen in den USA irgendwann definitiv sind, wird Corona wieder ins Bewusstsein rücken. Auch dort warten wir: Darauf, dass die Fallzahlen sinken, die Massnahmen greifen. Sich die Spitäler wieder leeren. Wir warten, dass die zweite Welle abebbt und wir wieder aufatmen können.

Sehnsucht nach Erlösung

Bald beginnt noch ein Warten: Advent, warten auf Weihnachten. Normalerweise ist Advent eine Zeit der überfüllten Terminkalender. Aber auch eine fröhliche Zeit, voller Düfte und Glitzer und Musik. Dieses Jahr wird es anders sein. Stiller. Ruhiger. Kleinräumiger. Besinnlicher?

In der Kirche ist Advent das Warten auf das Fest zur Erinnerung an die Geburt von Jesus, des „Erlösers“. Und wie sehnen wir uns dieses Jahr nach Erlösung! Nichts spricht dagegen, dass der Advent dieses Jahr nicht vier, sondern sieben Wochen dauern und schon jetzt beginnen könnte.

Die Dramaturgie des Advents: Es beginnt im Dunkeln

Letztes Jahr besuchte ich im Advent im Rahmen meines Theologiestudiums jeden Sonntag einen Gottesdienst. Erst so fiel mir auf, dass die Predigttexte und die Stimmung während der vier Sonntage einer Dramaturgie unterliegen.

Der Advent beginnt in der Dunkelheit, mit biblischen Texten der Klage und Verzweiflung. Es ist nicht schwer, sich in diesen Tagen darin wiederzufinden: Die Dunkelheit in der Welt ist offenkundig.

Mich haben die Anschläge in Frankreich und Wien betroffen gemacht. Die mit Schlamm und kaltem Wasser vollgelaufenen Zelte der provisorischen Flüchtlingslager in Griechenland. Und der Konflikt in Berg-Karabach, wo die armenische Bevölkerung mit Gewalt vertrieben wird. Man fühlt sich hilflos.

Im Advent werden mitten im Dunkeln allmählich die Kerzen angezündet. Biblische Texte drücken nicht nur Klage aus, sondern auch die Hoffnung, dass sich etwas ändert: „Es wird keinen Tod mehr geben, kein Leid und keine Schmerzen, und es werden keine Angstschreie mehr zu hören sein. Denn was früher war, ist vergangen.“ Die starken Worte stammen aus dem biblischen Buch der Offenbarung.

Kein Tod, keine Schmerzen – eine utopische Vorstellung. Auch Corona wird nach Weihnachten noch da sein, und die Geflüchteten aus Berg-Karabach haben ihr Zuhause verloren. Ist Advent also ein Vertrösten?

„Brot und Spiele“, um uns zu beruhigen – bzw. heutzutage Schoggi und erotische Adventskalender? Erlöschen die Kerzen nach Advent wieder wie die Schwefelhölzer des kleinen Mädchens, das am Schluss dennoch erfriert?

Hoffnung blendet die Realität nicht aus

Der zitierte Bibelvers lautet vollständiger: „Gott wird mitten unter ihnen wohnen. Er wird alle ihre Tränen abwischen. Es wird keinen Tod mehr geben, kein Leid und keine Schmerzen, und es werden keine Angstschreie mehr zu hören sein. Denn was früher war, ist vergangen.“ Gott hat sich nicht nur vor 2000 Jahren der Welt zugewandt, was wir an Weihnachten feiern. Sondern im Advent liegt auch die Hoffnung, dass dies wieder geschieht. Dass „Jesus wiederkommt“, wie es in der Bibel angekündigt ist, die Welt ein- für allemal erlöst wird.

Bis dann – irgendwann, vielleicht – wird es Coronawellen, Anschläge, persönliche Tiefs geben. Dennoch ist Hoffnung eine unglaubliche Ressource: Vielen hilft aber zum Beispiel die Hoffnung auf eine Impfung, die Einschränkungen der aktuellen Zeit durchzuhalten.

Hoffnung blendet die Realität nicht aus. Solange man glauben kann, dass es irgendwann Erlösung gibt, brennt bei aller Dunkelheit ein Licht. Ist Gott mitten unter uns und sagt: „Fürchtet euch nicht!“

Eine Zeit für Rückblick und Neuanfang

Nichts ist schlimmer als passives Warten. Deswegen haben wir im Lockdown Bananenbrot gebacken und in den US-Wahltagen nervös auf den Refresh-Button gedrückt. Im Advent öffnen wir Türchen, backen Guetzli, haken To-Dos des alten Jahres ab. Doch auch in spiritueller Beziehung ist Advent eine durchaus aktive Wartezeit: Sie dient dazu, innezuhalten, zurückzuschauen, aber sich auch vorzubereiten, bereit zu werden für das, was kommt.

In Gallien war Advent ursprünglich die geistliche Vorbereitung auf das Tauffest, das am Dreikönigstag stattfand. Mit der Taufe reinigte man sich symbolisch von Sünden, sie war ein Zeichen der göttlichen Vergebung. Deswegen war Advent eine Zeit, wo man auch auf die eigene Dunkelheit blickte: Wo habe ich selber Erlösung und Vergebung nötig?

Man fastete und betete, um mit Gott ins Reine zu kommen. Heute zeigt sich dies in säkularer Weise in den „guten Vorsätzen“ im Januar. Jedes Jahr gibt einem die Gelegenheit, neu anzufangen.

Für mich ist Weihnachten/Neujahr immer eine intensive Zeit des Rückblicks auf das vergangene Jahr, auch im Gespräch mit Freund*innen. Was waren die Highlight, wofür bin ich dankbar? Und was ist nicht so gelungen, was möchte ich in Zukunft anders machen? Im christlichen Verständnis ist ein Neuanfang nicht nur beim Jahreswechsel, sondern jederzeit möglich. Die Liebe und Annahme durch Gott ist jederzeit gegeben. Ich kann jederzeit darin eintauchen.

Die heilsame Wirkung von Geschenken und Glühwein

Deshalb ist Weihnachten das „Fest der Liebe“. Wo sich viele vor allem die Liebe unter Familie und Freunden vorstellen, ist die eigentliche Bedeutung, die geistliche Dimension noch viel weiter. Weihnachten ist das Fest der Liebe Gottes. Gott wendet sich uns Menschen zu.

Das darf auch gefeiert werden! Geschenke, Musik, feierliche Dekoration, Guetzli, klingende Glöckchen, Glühwein und Adventskalender drücken die Dankbarkeit und Freude aus. Jetzt, wo der goldene Herbst sich verabschiedet hat, Nebel und kurze Tage Einzug halten, sehne ich mich nach diesen Dingen. Sie haben eine heilsame Wirkung.

Freude und Liebe wachsen, wenn man sie teilt. Gerade mit Menschen, die es schwer haben, die einsam oder krank sind. Es gibt genug kreative Wege, um dies auch unter Beachtung der Corona-Schutzmassnahmen zu tun: Nachbarschaftshilfe, Postkarten, ein Anruf, Guetzli in den Briefkasten.

Natürlich gilt das auch für Menschen, die uns nicht persönlich nahestehen. Das zeigt sich darin, dass im Advent ungleich mehr Geld an Hilfsorganisationen gespendet wird als in den anderen Monaten.

Der Messias stürzt Machtverhältnisse um

Spenden ist das eine, aktiv werden das andere. Der „Messias“, auf den die Jüd*innen zur Zeit der Geburt von Jesus sehnlichst warteten, war in erster Linie eine politische Figur. Ein Anführer, der die Machtverhältnisse auf den Kopf stellen sollte. Die biblischen Hoffnungstexte haben eine stark kriegerische Seite und drücken die Erwartungen der damaligen Zeit aus: Da werden gegnerische Armeen zertreten, Pfeile geschossen und Paläste zerstört.

Jesus von Nazareth erfüllte diese Hoffnungen nicht. Der Messias, den die Könige und Hirten im Stall vorfanden, war kein muskelbepackter Kriegsherr, sondern ein Säugling.

Auch später, auf der Höhe seiner Popularität, betrat er das von den Römern besetzte Jerusalem nicht mit Waffen und einer Partisanenarmee. Sondern er ritt auf einem Esel und beschwor seine Anhänger, den Frieden zu wahren.

Dennoch änderten sich die Verhältnisse: Die religiöse Elite mit ihrer Betonung von Prinzipien und Gesetzen verlor Menschen, die wieder realisierten, dass die Beziehung mit Gott im Herzen stattfindet. In den christlichen Gruppierungen wurden gesellschaftliche Hierarchien ausser Kraft gesetzt: Sklaven galten gleich viel wie Reiche, Frauen gleich viel wie Männer, Kinder gleich viel wie Erwachsene. Und auch die Ethik, die Jesus predigte, veränderte die Welt, zum Beispiel, indem sich die frühen Christ*innen um Kranke, Witwen und Waisen kümmerten.

Advent ist also auch eine Zeit, um Gerechtigkeit zu schaffen. Falsche Machtverhältnisse anzuprangern. Hinzuschauen.

In der Corona-Zeit betrifft dies zum Beispiel den Stellenwert des Pflegepersonals in der Schweiz. Die beiden nationalen Abstimmungsvorlagen von Ende November berühren Fragen der globalen Gerechtigkeit. Und es gilt auch, bei internationalen Konflikten nicht wegzuschauen und eine falsche Weihnachts-Idylle zu schaffen. Die eigene Rolle in herrschenden Ungerechtigkeiten zu erfragen und zu korrigieren.

Advent, nicht Aktivismus

Nichts ist schlimmer als passives Warten, ja. Aber trotz allem, was wir beitragen können, haben wir nicht alles in der Hand. Advent soll nicht zum Aktivismus werden, wir können Erlösung nicht alleine bewirken. Zum Advent gehört deshalb auch Andacht, Meditation, Besinnung: Die Hände in den mehlbestäubten Schoss legen, das Flackern einer Kerze betrachten. Warten, dass es wieder heller wird.

 

Quelle zum liturgischen Hintergrund von Advent: https://www.liturgie.ch/hintergrund/kirchenjahr/advent/162-advent

Photo by Ameen Fahmy on Unsplash

1 Kommentar zu „Advent beginnt jetzt – im Dunkeln“

  1. So erfrischend, so stärkend!
    Deine so „normale“ Art, Deine unverblümte Sachlichkeit und Dein Blick und Glaube in die unsichtbare Welt sind so sehr wohltuend in einer Welt voller Macht- und anderen Spielchen. Danke.
    Ich wünsche auch Dir viel Ruhe, Gelassenheit und Gelingen in Deiner Arbeit, die Du so wunderbar tust.
    Frohe Adventszeit
    Andreas

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