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 Lesedauer: 6 Minuten

Traurig gewordene Postmoderne

Das Buch gehört zu den am Wärmsten gelobten Neuerscheinungen dieses Bücherherbstes. Die »FAZ« erkennt in der Hauptfigur, einem traurigen Pfarrersohn, nichts weniger als einen ›modernen Hiob‹. Im Vorjahr erhielt der Autor den Prix Goncourt, Frankreichs wichtigstem Literaturpreis. Auch beim Publikum kommt das Buch gut an. Nach der Lektüre habe ich mich gefragt: Warum bloss?

Die Rede ist vom neuen Roman des französischen Schriftstellers Jean-Paul Dubois »Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise«. (Der französische Originaltitel ist in seiner Mischung aus Allaussage und Negation witziger: »Tous les hommes n’habitent pas le monde de la même façon«, sinngemäss: Alle Menschen bewohnen die Welt nicht in der gleichen Weise).

Die Romanhandlung setzt in den 1960er-Jahren in Südfrankreich ein und lässt das konservative und das progressive Milieu mit tragikomischen Effekten aufeinanderprallen: im Elternhaus des Protagonisten Paul Hansen. Dessen Vater ist ein konservativer protestantischer Pastor und dänischer Fischersohn, die Mutter eine mondäne Französin und 68-er begeisterte Kinobetreiberin.

Zwischen Nouvelle Vague und Neuem Testament

Die Pfarrersfrau setzt nie einen Fuss in die Kirche ihres Mannes und lässt es sich nicht nehmen, in ihrem Programmkino »Legacy of Satan« und »The Devil in Miss Jones« zu zeigen. Als sie auch noch den Pornofilm »Deep Throat« ins Programm aufnimmt, ist die Reputation des Pastors ruiniert. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als auszuwandern.

Der Sohn, hin- und hergerissen zwischen Nouvelle Vague und Neuem Testament, ergreift die Partei des Vaters und folgt diesem ins kanadische Exil. Vom Vater übernimmt Paul Hansen zwar nicht die christliche Überzeugung, aber die protestantische Arbeitsethik. Als eine Art von Concierge in einem grossen Appartementhaus in Montréal legt sich der Pastorensohn eine Doppelbelastung auf: als Klempner und Seelenklempner der alternden Bewohnerschaft.

Um die Jahrtausendwende werden in vielen Lebensbereichen Umstrukturierungen vorgenommen. Neoliberale ›Cost Killer‹ besiegeln in Unternehmen, Kliniken und selbst in privaten Wohungskomplexen Lebensformen, in denen Pflicht mit menschlichem Engagement verwoben ist. Ältere Angestellte werden im Zuge von ›Change Prozessen‹ als nicht länger tragbare Kostenfaktoren ausgemerzt.

»Life is a bitch and then you die«

Paul Hansen wird nach Jahrzehnten gewissenhafter Anstrengung wegen einer Lappalie gekündigt. Es bleibt ihm nur noch übrig, dem abgefahrenen Zug seines Lebens hinterher- und dem Altersprekariat entgegenzublicken. Dann landet er auch noch im Knast. Dort blickt der seelisch ausgebrannte und angeblich psychisch gestörte Pastorensohn auf seine Lebensruine zurück und eine Abfolge scheinbar »unvermeidlicher Kollateralschäden«.

Die enge Gefängniszelle, in der der tragische Held steckt, lässt sich als Sinnbild für beschnittene Möglichkeitsräume ansehen. Der Gescheiterte findet sich auf der gleichen Stufe wie sein Zellengenosse wieder, ein Hells Angel, der gar nicht erst versucht hatte, ein tüchtiger und guter Mensch zu sein. Sein Lebensmotto hat sich der ungeschlachte Biker als Rücken-Tattoo stechen lassen: »Life is a bitch and then you die«.

Lebenslange Abwärtsmobilität

Was der 1950 in Toulouse geborene Autor in seinem soziologisch gefärbten Roman exemplarisch einfängt und was den Erfolgt des Buches erklärt, ist eine lebenslange Abwärtsmobilität. In romanischen Ländern haben Menschen noch stärker als in Nordeuropa in den letzten Jahrzehnten und verstärkt mit der globalen Wirtschaftskrise die Erfahrung gemacht, dass sich Anstrengung kaum lohnt. Mit den Corona-Lockdowns scheitern inzwischen Existenzen sogar im Minutentakt.

Wie in Träumen, in denen wir auf Sand zu laufen versuchen, gelingt es nicht, festen Halt zu gewinnen. Statt voranzukommen, rutschen viele zurück: hinter den Lebensstandard ihrer Eltern.

Das ist besonders in Gesellschaften fatal, die sich als ›Leistungsgesellschaften‹ definieren. Abwärtsmobilität macht anfällig für Depressionen, Süchte und Suizid, aber auch für Sozialneid, Rassismus und rechte Ideologien. Das Gefühl kann aufkeimen, dass die Heimat keine Heimat mehr ist.

Das Phänomen der Abwärtsmobilität hat auch die USA im Griff. Die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild stellt in ihrem Buch »Fremd im eigenen Land« von 2017 fest: »Für Menschen, die vor 1950 geboren waren, war das Einkommen mit zunehmendem Alter gestiegen, für alle später geborenen war das nicht mehr der Fall.« Als ›Tiefengeschichte‹ bezeichnet Russell Hochschild »die gefühlte Sicht der Dinge, die Emotionen in Symbolsprache erzählen«. [1]

Wanderdünen sind gefrässig

Eine solche Tiefengeschichte erzählt auch Dubois in »Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise«. Es ist eine Geschichte des kontinuierlichen Hoffnungs-, Glaubens- und Heimatverlustes.

In der Symbolsprache des Romans wird diese Stimmungslage durch das Bild der ›versandeten Kirche‹ ausgedrückt.

Die ›versandete Kirche‹ gibt es tatsächlich. Sie befindet sich im dänischen Skagen. Um 1770 versandete zunächst der Kirchvorplatz. Die Gemeinde hatte versucht, den Eingang freizuhalten, doch Wanderdünen sind gefrässig. Gepeitscht von Stürmen und der eisigen Gischt der Nordsee verschlang der salzige Sand allmählich das Langschiff. Heute ragt nur noch der Kirchturm heraus. Der Kirche steht der Sand bis zum Hals.

Der Autor bemüht mit der ›tilsandede Kirke‹ ein ausgesprochen fatalistisches Bild und belässt im Unklaren, was genau untergegangen ist. Religion? Geordnete Gemeinwesen? Moral? Heimat? Die alte Welt? Oder die Illusion von alldem? Die Unschärfe an dieser Stelle ist symptomatisch.

Würde sich der Paul Hansen des Romans nicht nach Dänemark in die Ferien begeben, sondern nach Südtirol, hätte eine verwandte, allerdings weniger fatalistische Metapher zum Einsatz kommen können: die untergegangene Kirche im Reschensee. Auch hier schaut heute nur noch ein Kirchturm heraus. Und auch diese Kirche ist eine romantische Ruine und Touristenattraktion.

Schmerzen über den Verlust eines Phantoms

Die im Reschensee untergetauchte Kirche wurde aber nicht Opfer von Naturgewalten, sondern eines bereits in faschistischer Zeit geplanten Staudammprojekts, das im Sommer 1950 zusammen mit dem Dorf und vielen bäuerlichen Existenzen auch das Gotteshaus untergehen liess. Transzendenzbezug wurde dem Moderneglauben geopfert.

Genau wegen der Schärfe des Zusammenpralls von Tradition und Moderne konnte dieser Verlust immer wieder orientierend wirken: Sei es progressiv im Sinne einer Bejahung des Traditionsbruchs, sei es konservativ im Sinne einer Bewahrung der (religiösen) Tradition. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek schrieb 2006: »Der Modernismus stellt die Entfremdung dar, den Verlust der traditionellen Wurzeln, doch erst mit dem Postmodernismus trennen wir uns wirklich von der Tradition: Ihr Verlust wird nun nicht mehr als Verlust erfahren, und deshalb können wir spielerisch zu ihr zurückkehren.« [2]

Vielleicht ist das immer noch richtig, aber der spielerische Charakter, der schon durch die Anschläge von 9/11 einen Schlag erfahren hatte, scheint nun, nach Finanzkrise und mitten im Klimawandel, endgültig verschwunden. Und diese Grundstimmung drückt der Roman »Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise« aus:

Es ist nicht nur der Verlust verloren gegangen, sondern auch noch die Freude daran. Und anstatt eines Phantomschmerzes schmerzt der Verlust eines Phantoms.

 

[1] Arlie Russell Hochschild, Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten, A.d. Engl. v. Ulrike Bischof, Frankfurt/New York (Campus) 2017, S. 187,195.

[2] Slavoj Žižek, Parallaxe, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2006, S. 284.

Das Buch: Jean-Paul Dubois, Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise, Roman, A.d. Französ. v. Nathalie Mälzer/Uta Rüenauver, München (dtv) 2020, 256 S.

Photo by Raul Cacho Oses on Unsplash

1 Kommentar zu „Traurig gewordene Postmoderne“

  1. Das ist gut analysiert: man setzt alten Feinden nach und jagt Gespenster. Die Allmacht der Medien übertüncht die Wirklichkeit, umsatzgetrieben wird behauptet und geschrieben, Paralleluniversen lanciert und ein Jenseits heran geholt, das die Abstraktion verhindert, weil man die entlegensten Meldungen für bare Münze hält. Eine Diesseitsreligion bestimmt den Gang der Dinge, die Ratio findet keine Räume mehr vor, wo das Denken die Abwägungen macht, in Relation zu irgendwelchen Werten ausser materiellen. Die Politik wird eingegrenzt durch eine moralismusgetriebene, von Insidern monierte Justiz, die apokalyptisch argumentiert wie die vielen Sekten. Die News sind als solche nicht erkennbar, sie zielen auf Wirkung, einhellig, reisserisch und unheilsgeschichtlich. Mit hohen Steuerlasten verspricht man Absolution, dies um etliches teurer als der Peterspfennig je gewesen war. Sapere aude ist wieder aktuell, die Suche nach Menschen guten Willens möge doch endlich beginnen. AF

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