Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 7 Minuten

Glaub mir nicht! Alles Propaganda!

Internet, Social Media und KI bewirken rasende Veränderungen. Weltanschauungen, Religionen, der Glaube und selbst Gefühle unterliegen kaum durchschaubaren Beeinflussungen. Was können wir noch glauben? Wie verändert Social Media das Denken und unsere Wahrnehmung? Medienkompetenz, Kritikfähigkeit und religiöse Bildung sind heute notwendiger denn je. Im folgenden Beitrag geht es um Propaganda im Netz.

Am Ende dieses Artikels findest du zehn Dinge, die du gegen Propaganda in Social Media unternehmen kannst.

Matcha Latte ist Propaganda! Selfcare ist Propaganda! Rechts sein ist Propaganda! Links sein ist Propaganda! Taylor Swift ist Propaganda! … Oder etwa nicht? Seit einigen Wochen geht in Sozialen Medien das Propaganda-Mem viral: Vertreter:innen von Gen Y und Gen Z veröffentlichen unter der Phrase «Propaganda I’m Not Falling For» Listen mit Dingen, die sie zur «Propaganda» erklären.

Die Propaganda-Listen sind mit Selfies oder Tanzvideos unterlegt. Es hat etwas Karnevaleskes.

Zu Propaganda tanzen

Den Gegentrend zu den selbstreflexiv daherkommenden Postings gibt es ebenfalls schon: Hierbei wird aufgezählt, welcher Propaganda man mit Vergnügen verfällt («Propaganda I’m Falling For»). In den Aufzählungen werden Konsumvorlieben, gesellschaftliche Erwartungen und Beautytrends auf dieselbe Stufe wie politischen Haltungen und Ideologien gestellt.

Wahlweise grenzt man sich ab oder empfiehlt weiter.

«Früh aufstehen», «LGBTQ+ (aufzwingen)», «Cola Zero», «cringe sein» – alles Propaganda. Hunderttausende Videos gibt es inzwischen in diesem Stil.

Auch Religion sei Propaganda, heisst es in Postings, und zwar die älteste.

Und die Bibel sei nicht von Gott, sondern von «machtgierigen männlichen Ghostwritern» geschrieben. Sogar noch die Kritik am System ist Propaganda – oder kommt jedenfalls im Stil von Propaganda oder Plakatstil daher.

Lauter kleine Goebbels?

Etwas anderes lassen Plattformen wie TikTok, Instagram oder X auch gar zu. Sie erziehen ihre Unser:innen zur plakativen Kommunikation. Es muss möglichst laut knallen, grell sein, extrem zugespitzt, zugleich authentisch und stets unterhaltsam.

Die Propagandamethode wurde in Zeiten der Sowjet-Diktatur und des Nationalsozialismus perfektioniert. Früher allerdings beschäftigte man Werbeagenturen oder Propagandaminister.

Heute sind wir sozusagen selbst Goebbels, könnte man – propagandistisch zugespitzt – sagen.

Der «Propaganda»-Begriff wird bei dem Trend als Aufmerksamkeitsköder genutzt und gleichzeitig windelweich gewaschen; das Ganze natürlich augenzwinkernd. Der einstmals macht-und medienkrische Begriff wird komplett unterspült.

Agonie des Realen

Der mittlerweile auf andere Social-Media-Kanäle übergeschwappte Meme-Trend treibt das Propagandaprinzip gewissermassen auf die Spitze – und führt es gleichzeitig ad absurdum; weil schlichtweg alles und nichts Propaganda ist.

Man kann es als Anzeichen nehmen, dass mit Social Media sozialisierte Menschen so sehr an eine extrem verzerrte Realität gewöhnt sind, dass die Vorstellung, es könne der Wahrheit verpflichtete Kommunikation geben, fast schon lächerlich wirkt.

Und so setzt sich sozialmedial fort und verschärft sich, was postmoderne Vordenker wie Jean Baudrillard («Agonie des Realen») bereits Ende der 1970er im Keim bemerkten: Feste Bezüge, Überprüfbarkeit und damit auch das Vertrauen schwinden; erst recht durch KI.

Willkommen in der Hyperrealität!

Wie andere Social-Media-Trends, die sich um Hashtags, Challenges oder charismatische Persönlichkeiten bilden, ist auch hier das Ende schon absehbar.

Dinge ploppen auf, gehen viral, und verschwinden wieder spurlos.

Was allerdings bleibt, ist eine Situation, in der durch Algorithmen, KI und Deep Fake die Möglichkeiten der Beeinflussung extrem gestiegen sind und der Realitätssinn weiter untergraben wird.

Ideologische Steuerung

Der Ausdruck «Propaganda» konnte klassisch beides bezeichnen: Werbung wie auch ideologische Steuerung und bewusste Manipulation, mit der Intention, Verschiebungen im Meinungsklima zu bewirken.

Propaganda in sozialen Medien bezeichnet den gezielten Einsatz digitaler Plattformen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Dabei werden irreführende, einseitige oder falsche Informationen verbreitet, um politische, ideologische oder kommerzielle Ziele zu erreichen.

Im Gegensatz zu traditionellen Medien ermöglichen soziale Netzwerke eine rasend schnelle, direkte Verbreitung von Inhalten, wodurch Propaganda allgegenwärtig und schwerer zu kontrollieren ist.

Manipulationstechniken und Tools

Zur menschengemachten Propaganda sind automatisierte Verfahren hinzugekommen: der Einsatz von Bots (automatisierte Konten) und Fake-Accounts («Sockpuppets»: zweit- oder Mehrfach-Account einer Person zu Täuschungszwecken) zur Verstärkung von Botschaften oder gezielte Manipulation von Plattform-Algorithmen (wie Elon Musk das mit X praktiziert).

Zwei grundsätzliche Propagandaformen lassen sich unterschieden: erstens die Verwendung von Propaganda zur Beeinflussung anderer und zweitens die Annahme eines koordinierten Verhaltens («Coordinated Communities») zur Verbreitung der Propaganda und zur Verstärkung ihrer Wirkung. In Kombination potenziert sich die Schlagkraft.

Dark-Reach-Strategien

Als Dark-Reach-Strategie wird die verdeckte, künstliche Vervielfältigung von Inhalten zur Erzeugung sogenannter Ripple-in-the-pond-Effekte (Welleneffekte) bezeichnet: Es soll rund gehen wie in einem Haifischbecken. Je mehr Interaktionen ein Beitrag erhält, desto wahrscheinlicher wird er von den Algorithmen weiterempfohlen und dadurch erreichen Inhalte grössere Zielgruppen und entfalten enorme Durchschlagskraft.

Differenzierte Stellungnahmen und seriöse Analysen gehen im chronisch aufgewühlten Social-Media-Teich dagegen oft unter.

Der Glaube an Sockenpuppen

Auch die religiöse Landschaft hat sich umgebaut; im Internet wird nicht nur Islamisten-Nachwuchs rekrutiert, sondern auch ein neues sozialmediales Kreuzrittertum ist aufgetaucht. Und nicht nur der TikTok-Jugendliche, sondern auch die YouTube-Rentnerin konsumiert politische oder religiöse Botschaften, als wären sie direkt von Gott oder seinen Engeln gepostet worden.

Radikale Strömungen und neue religiöse Fundamentalismen feiern im Netz Urstände.

Mit moderaten Positionen gehen Leute oft gar nicht ins Netz, weil solche Inhalte kaum eine Chance auf Sichtbarkeit haben; so wimmelte es während der Coronapandemie vor Anti-Vaccine-Plattformen, aber es gab kaum Pro-Vaccine-Seiten.

Im Netz kann der Eindruck entstehen, eine Mehrheit sei für oder gegen etwas, selbst wenn es sich um Minoritätsmeinungen handelt.

If you like this, you might also like that …

QAnon, ein Verschwörungsglaube mit eigenen Ritualen und Propheten, würde ohne algorithmisch gesteuerte Empfehlungen gar nicht existieren, erklärt die Medienforscherin Renée DiResta («Invisible Rulers: The People Who Turn Lies into Reality», 2024).

If you like this, you might also like that … wenn du dich für Apokalypse interessierst, könnten dich auch Flat-Earth-Inhalte, Chemtrails und QAnon interessieren.

Viele müssen heute schmerzhaft mitansehen, wie ihren alternden, internet-affinen Eltern im Propagandasumpf gnadenlos abtauchen und kaum noch erreichbar sind.

Freilich existieren auch «gute» Bots und nicht jede Influencerin vergrössert die Desinformation.

Grundsätzlich aber ist im Vorteil, was den Puls rasen lässt; und das ist eher nicht der Artenschutz, sondern der Antichrist oder Armageddon.

Populistische Verschärfungen

Inzwischen ist nicht mehr zu leugnen, dass die Integrität öffentlicher Diskurse und demokratischer Prozesse akut gefährdet wird. Künstlich erzeugte Sichtbarkeit und Reichweite verzerrt die Wahrnehmung von Mehrheiten und erschafft künstliche Hypes.

Studien belegen, dass mit gezielten Desinformationskampagnen während Wahlen demokratische Prozesse systematisch untergraben wurden.

Als prominenteste Beispiele werden die Präsidentschaftswahlen in den USA und in Brasilien genannt. Einrichtungen wie EUvsDisinfo oder AlgorithmWatch (Zürich und Berlin) nehmen gefährliche Dynamiken in den Blick und ahnden Verstösse. Es bleibt aber vielfach ein Fischen im Trüben.

Lachen und spalten

Wie im wahren Wortsinn explosive politische Propaganda funktioniert, legte erst vor kurzem der frühere Fox-News-Moderator Tucker Carlson im Podcast «Bannon`s War Room» des früheren Trump-Beraters Steve Bannon offen:

«What they’re doing is what they always do, which is just turning up the propaganda hose to full blast und just trying to, you know, knock elderly Fox viewers off their feet and make them submit to where you want them to.»

Der Propaganda-Schlauch wird voll aufgeblasen, sodass es «Ältere von den Socken haut» und man sie hinbekommt, wo man sie haben will; im konkreten Fall ihre Zustimmung zur US-Intervention im Israel-Iran-Konflikt weckt.

Carlson muss es wissen. In seinem von Lachen begleiteten Statement wird der ganze Zynismus der medialen Propaganda-Maschinerie offensichtlich!

Wir können uns selbst nicht trauen

Während X & Co. im politischen Diskurs Spaltung und Misstrauen vergrössern, befördern Soziale Medien gleichzeitig Tendenzen der Angleichung und Homogenisierung. Nicht nur kopieren alle die gleichen Schemata – zum Beispiel das «Propaganda-I’m-Not-Falling-For»-Mem – sondern viele sehen zudem gleich aus: als hätten sie ihr Äusseres mittels chirurgischer Schönheitseingriffe Social-Media-Filtern nachgebildet.

Eine im Vorjahr veröffentlichte Umfrage der OECD, an der mehr als 40 000 Personen aus 21 Ländern teilnahmen, hat ergeben, dass die Befragten oft ihre Fähigkeit zur Erkennung von Fake News überschätzten. 37 Prozent fielen auf Desinformation herein und fast die Hälfte der Befragten ging Propaganda auf den Leim – beinahe jeder Zweite.

Fehlinformationen, kontextuelle Irreführung sowie wahre Aussagen wurden besonders selten korrekt eingeordnet.

Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung: Die Selbsteinschätzung ist kein verlässlicher Indikator für die tatsächliche Fähigkeit zur Erkennung von Fake News und Propaganda. Und diejenigen, die sich Social-Medien-Inhalten häufig aussetzen, schneiden beim Faktenerkennen tendenziell schlechter ab.

Zehn Dinge, die du gegen Propaganda im Netz unternehmen kannst

  1. nichts unreflektiert teilen
  2. Fakten checken und Quellen prüfen
  3. Medienkompetenz schulen
  4. kritisch hinterfragen, auch dich selbst
  5. Gegendarstellungen posten
  6. Zivilcourage zeigen
  7. bei Hass nicht wegsehen
  8. Falschnachrichten und extremistische Inhalte bei Plattformen melden (hierfür bieten Plattformen simple Tools)
  9. Screenshots als Belege speichern
  10. respektvoll kommunizieren

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Lektüreempfehlung: Manuel Schmids Serie zu Verschwörungsmyten. 

Foto von Cottonbro Studio auf Pexels

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