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 Lesedauer: 4 Minuten

Vintage-Sommerlektüre (7): Harper Lee, «Wer die Nachtigall stört»

Auf der Suche nach Sommerlektüre? Was jedes Jahr neu auf den Buchmarkt kommt, lässt einen schwindeln, aber literarische Oldtimer halten da problemlos mit. Gastautorin Claudia Dahinden sinniert, welche Bücher sie immer wieder lesen könnte und warum. 

Ich habe lange überlegt, welchen Schlusspunkt ich in meiner Reihe setzen soll. Am Ende habe ich mich für ein Buch der Hoffnung entschieden, auch wenn es darin nicht an dunklen Passagen fehlt: Harper Lees «Wer die Nachtigall stört» von 1960 (im Original: «To Kill a Mockingbird»).

Eine Kindheit im Süden der USA

Wir begleiten Jean Louise Finch, genannt Scout, durch ihre Kindheit in den Dreissiger Jahren des amerikanischen Südens, inmitten der Grossen Depression. Sie wächst in der fiktiven Stadt Maycomb im Bundesstaat Alabama auf, zusammen mit ihrem vier Jahre älteren Bruder Jem und ihrem verwitweten Vater Atticus.

Als der Schwarze Arbeiter Tom Robinson der Vergewaltigung einer jungen weissen Frau angeklagt wird, setzt der Richter Atticus als seinen Anwalt ein.

So kommt auch Scout mit Rassismus in Berührung.

Daneben prügelt sie sich gern mal und versucht, mit dem jungen Dill, der seine Ferien bei seiner Tante verbringt, dem Geheimnis des mysteriösen Nachbarn Arthur «Boo» Radley auf die Spur zu kommen.

Die reizende Scout, ein «Tomboy»

In der rüpelhaften Scout habe ich einen etwas unterdrückten Teil meiner Selbst wiedergefunden. Zwar bin ich mit einer Ausnahme nie auf Schulkollegen losgegangen.

Aber einmal habe ich als 8-Jährige einer Gruppe von 11-Jährigen die Leviten gelesen, weil sie einen meiner Schulkameraden plagten.

Die Erinnerung an dieses Erlebnis ist mir heute noch präsent und hat Eingang in Band 1 der «Uhrmacherin» gefunden.

Ein Hoch auf Mäzene!

Spannend ist für mich als Autorin die Entstehungsgeschichte des Buchs: Es gibt eine Vorversion des Romans, geschrieben aus der Perspektive der erwachsenen «Scout». Doch ein mit Lee befreundetes Paar, gleichzeitige ihre Mäzene, hat sie überzeugt, den Roman aus der Optik der jungen Scout zu schreiben.

So kann Scout als unbedarfte 6- bis 9-Jährige die Welt ohne den Filter der abgestumpften Erwachsenen wahrnehmen, für die gesellschaftliche Gegebenheiten in Stein gemeisselt sind.

Ihr fällt die Absurdität gewisser Gepflogenheiten auf, und sie nimmt Ungerechtigkeiten wahr.

Und wir, die wir durch ihren Augen sehen, erkennen ebenfalls, was in Maycombs Gesellschaft faul ist.

Autorenkniff im Spiel mit den Epochen

Die Verlagerung der Geschichte in Scouts Kindheit hat den Vorteil, dass Lee das Thema Rassismus nicht in ihrer Gegenwart der 1950er und 1960er Jahre abhandeln muss. So konnte sie ihn unverblümter beim Namen zu nennen.

Das liebe ich am historischen Roman: Er ermöglicht es, brisante Themen zu benennen, ohne oberlehrerhaft rüberzukommen – und vielleicht gerade deshalb einen inneren Wandel anzustossen.

Von Konservativen und Progressiven angegriffen

Die Verlagerung der Geschichte in die Vergangenheit hat Lee allerdings nicht vor Gegenwind bewahrt. So hat das Buch die Kritik der Konservativen wie der Progressiven auf sich gezogen.

Die Konservativen stiessen sich an der Darstellung des Rassismus, die Progressiven am Gebrauch des N-Wortes und beide an der Thematisierung der Vergewaltigung.

Das muss nicht Wischiwaschi bedeuten. Wer von beiden Polen angegriffen wird, hat sich meist eine eigenständige Position erarbeitet und scheut sich nicht, nötigenfalls allen auf die Zehen zu treten.

Hoffnungsvoll – aber ohne Happyend

Dieses letzte Werk meiner Serie hat kein Happyend. Die Story geht nicht für alle «Guten» gut aus.

Und doch ist sie voller Licht. Der Strahlkraft von Atticus Finch, der das Richtige tut, auch wenn es schwierig ist, kann man sich nicht entziehen.

Das Buch ist auf die beste Art gefährlich, denn es schenkt Hoffnung.

Solche Bücher brauchen wir auch heute: Bücher, die uns Hoffnung schenken auf ein besseres Miteinander.

Die unsere Wut schüren gegenüber Ungerechtigkeit. Und die unseren Aktivismus befeuern im Einsatz für eine bessere Welt, in der die Würde, die allen Menschen innewohnt, sich auch in ihren Lebensumständen und Rechten spiegelt.

 

Hast du auch ein Buch, dass dich so richtig «aktiviert» hat? Schreibs gerne in die Kommentare. 

Claudia Dahinden hat für RefLab eine Sommerserie über ihre Lieblingsbücher geschrieben – dies ist die letzte Folge. Die Autorin (Saga «Die Uhrmacherin»), Musikerin und pastorale Mitarbeiterin lebt in Grenchen. Wenn sie nicht schreibt oder liest, konsumiert sie mit Hingabe nerdige Fernsehserien. 

Illustration: Rodja Galli

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