Der Schlaf träufelt von meinen Augenlidern und Wangen. Die Matratze unterstützt meine Bewegungen. Kleinste Positionsveränderungen lösen Behagen aus. Mini-Explosionen der morgendlichen Gliedereuphorie in Knien, Schenkeln, Schultern.
Auf dem Weg ins Badezimmer schmiegt sich das fusssohlenförmige Fussbett der Birkenstock-Schlappen an die gerade erst aufgewachten Fusssohlen und massiert sie.
Neuanfänge
Die Haarbürste teilt das frischgewaschene Haar. Die hölzernen Kuppen der Borsten schmeicheln der Kopfform. Beim Bürsten überziehen feine Schauer die Kopfhaut und strahlen auf Nacken, Wangen, Stirn aus.
Wow, ich bin wach! Ich bin da. Ein neuer Tag. Eine flokatiteppichweiche Neugeburt und tausend Fühler nach dem Leben ausgestreckt.
Neuanfänge sind immer möglich. Insbesondere morgens. Und vor allem, wenn ein Sonntag oder ein Feiertag vor einem liegen.
Wow, ich bin wach!
«Jeder Tag ein guter Tag», lautet ein bekanntes Zen-Wort.
Wirklich jeder Tag? Was ist mit Tagen, an denen eine Hoffnung platzt, eine vernichtende ärztliche Diagnose übermittelt wird, hinter Lebenszielen ein grosses Fragezeichen auftaucht, eine Liebe zerbricht oder ein naher Mensch stirbt?
«Jeder Tag ein guter Tag», ist ein Satz, den ich auf ein Blatt Papier geschrieben und neben mein Bett gelegt habe: als Denkunterstützung und Erinnerung daran, in jedem, wirklich jedem Tag etwas Gutes zumindest zu suchen oder zu vermuten.
Wenn ich nicht ganz so gut in den Tag komme, suche ich tröstende Umarmungen. Wenn ich allein bin, hat sich die Selbstumarmung bewährt: ein freundliches sich Umschlingen, um zu spüren, ob man spürt. (Die Selbstumarmung taucht dank Rodja Gallis Grafik auch als Illustration der Selbstsorgegespräche-Serie auf.)
Eine Umarmung: um nicht gefühlstaub in den neuen Tag zu stolpern, in dringend zu erledigende Aufgaben, eine anhaltende Lebenskrise, anstrengende Gespräche.
Weiss ich, was mir wirklich guttut und vergesse ich es im Dahinfliessen des Lebens zwischendurch? Oder habe ich es in Wahrheit noch nicht gefunden und müsste viel grundsätzlicher nach einem neuen Anfang suchen?
Wiedergeburt
Im Lichte radikaler Neuanfänge richten sich Menschen nicht nur neu aus, sondern betrachten ihr Leben neu.
Bei religiösen und spirituellen Bekehrungen und Wiedergeburten deuten sie ihre gesamte Biografie neu.
Manchmal erstarre ich und merke es zunächst gar nicht. Mein Leben scheint gut und ist es aber nicht mehr. Dann ist es Zeit für eine Erneuerung, eine Kehre, eine Wiedergeburt.
Jeder Tag ein guter Tag.
Song-Tipp: «Confusing Love» von Saint Privat
I suggest that we all start anew / because I can’t stop loving you. / misunderstandings / regrets without endings / are we sure / that this works out? / So I suggest that we all start anew / because I can’t stop loving you …
Grafik: Rodja Galli