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Selbstsorgegespräche (4): Own your age!

Es hat beinahe etwas Komisches an sich, wie schwer es mir lange Zeit fiel, mich so anzunehmen, wie ich bin. Immer passte irgendetwas nicht: Zuerst war ich zu jung, dann zu alt, als Kind zu klein und in der Pubertät zu gross, mal zu dick und mal zu  dünn. Dann passte nach meinem Empfinden auch die Augenfarbe nicht, die Form des Kinns oder die Färbung der Stimme.

Am Bohrendsten sind Selbstzweifel natürlich in der Pubertät. Diese beginnt nachweislich heute früher und ihr Ende schiebt sich immer weiter hinaus.

Noch nie lebten so viele Pubertierende gleichzeitig auf unserem Planeten.

Zweite Pubertät

In der Mitte des Lebens taucht mit der Midlife-Crisis eine Art zweite Pubertät auf. Wieder erleben wir emotionale Instabilität und suchen intensiv nach der eigenen Identität. Nun müssen wir uns auch noch mit schleichenden Veränderungen des Körpers auseinandersetzen – sie verlaufen nicht unbedingt zum Besseren.

Die Fotofunktion des Smartphones verleitet sowohl zu kritischen Selbstchecks als auch zur Anwendung menschenfreundlicher Filter. Vielleicht sind, weil Ältere die Funktion nutzen, gefilterte Fotos in Social Media bei Jüngeren vollkommen verpönt?

Spätestens, wenn Krähenfüsse in den Augenwinkeln sich nicht mehr wegfiltern lassen und Müdigkeit komische Schatten ins Gesicht malt, kann man sich um die Wirklichkeit des Älterwerdens nicht mehr herumdrücken.

Sich hinter Sonnenbrillen verkriechen

Von der in Paris gestorbenen Filmschauspielerin Marlene Dietrich ist überliefert, dass sie im Alter offenbar auch aus Selbstscham kaum noch unter Leute ging. Paparazzi mieteten einen Kran. Sie lichteten die gealterte Schauspielerin in einer Schrecksekunde ab, als sie kurz ans Fenster ihrer Wohnung trat und die Zudringlichkeit bemerkte.

Die Fotografen verletzten mit ihrer Zudringlichkeit nicht nur die Privatsphäre eines Menschen, sondern trotzten einer alten Frau gegen ihren Willen ein Bild ab, das sie der Welt nicht zeigen wollte.

Mein Gesicht, ein Erfahrungsbericht?

In einem Instagram-Post (vom 11. Mai 2023) reagierte die Pfarrerin und Influencerin Anne Helene Kratzert auf Nachrichten einer eklatanten Zunahme von Beauty-Behandlungen am Körper binnen weniger Jahre, vor allem im Gesicht. Von sich selbst beichtete die Netzpfarrerin einen Dialog mit ihrem Hautarzt. Sie wollte Fältchen loswerden. Der Hautarzt:

«Mach’ ich ihnen nicht. Könne Sie vergessen. Warum wollen Sie nicht mit ihren Generationsgenossinnen alt werden? Lassen Sie doch ihr Gesicht von ihren Jahren, ihrer Erfahrung erzählen.»

Mein Gesicht, ein Erfahrungsbericht? Ein authentisches Lebensprotokoll, sichtbar und lesbar für alle Leute, im Bus, im Restaurant und sonstwo? Sichtbar?

Mir sprang kürzlich auf Social Media eine Werbung ins Auge, wo Älteren durch eine Anti-Aging-Kur Abhilfe versprochen wird gegen Invisibilisierung. «Haben Sie bemerkt, dass Sie kaum noch angeschaut werden, dass man Sie einfach übersieht. Wir können Ihnen helfen …»

«Alte Menschen sind wie Bäume. Ihre Runzeln sind wie die Rinde», erklärte mir, als ich noch ein Kind war, ein Onkel.

Nicht nur in Augenringe, sondern auch in Baumringe und Rinden ist Lebenszeit eingeschrieben. Ich war mir nicht sicher, ob der Vergleich wirklich ein Kompliment für alte Leute war, aber mir gefiel der wertschätzende Ton.

Kinder beurteilen Menschen sowieso nicht nach ihrem Alter, sondern nach der Freundlichkeit ihrer Augen, der Weichheit oder dem Duft ihrer Haut.

Growing old is not a given, but a privilege

Aldous Huxley beschrieb im Zukunftsroman «Brave New World» eine Welt, in der Alter und Krankheit besiegt sind. Die Figuren bleiben bis 60 jung und sterben dann in der Klinik. Wenn sie doch einmal einen Gealterten zu Gesicht bekommen, erscheint es ihnen wie ein schrecklicher ästhetischer Unfall.

Äusseres und Inneres korrelieren. Das eine wirkt auf das andere. Daher sollte man sich wohl spätestens in der zweiten Lebenshälfte mit beidem nicht nur auseinandersetzen, sondern so gut es geht anfreunden.

«Own your age!», empfahl sogar das sonst auf Jugend getrimmte Modemagazin «Vogue». Bahnt sich hier vielleicht ein Modetrend an?

Own your age!

Beim Übergang von der Jugend zum «Menschen des Nachmittags» hilft uns nach den Erfahrungen des Schweizer Psychoanalytikers C.G. Jung «wenig oder nichts». Jung ermutigt dennoch:

«Der Nachmittag des menschlichen Lebens ist ebenso sinnreich wie der Vormittag; nur sind sein Sinn und seine Absicht ganz andere.»

«Was die Jugend aussen fand und finden musste, soll der Mensch des Nachmittags innen finden.»

Die Kunst besteht laut C.G. Jung darin, einen neuen Sinn zu finden, ohne mit Bisherigem radikal zu brechen und die Balance zu verlieren.

Das klingt nach einem schwierigen Balanceakt. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen: Die zweite Lebenshälfte ist die potenziell heroische Phase.

 

Song-Tipp: «Va bene» von Wanda

In dem Song heisst es:

Man wird ängstlicher / Man wird einsamer / Man wird grausamer / Man wird kindischer / Und vergesslicher / Man wird lächerlicher /Und verletzlicher / Und es muss trotzdem alles weitergehen / Es muss weitergehen …

 

Grafik: Rodja Galli

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