Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 3 Minuten

Schweizer mischen sich nicht ein.

Immer wieder zeigt er dem Wutbürger seine Verkaufs-Erlaubnis. Er mache nichts Illegales, er dürfe hier stehen, das sei auch mit der Bäckerei abgesprochen. Er wirkt etwas verängstigt, aber ruhig und sehr höflich.

Zu viel Fremdheitserfahrung

Den aufgebrachten Eidgenossen mit dickem Stumpen in der Hand beruhigt das nicht. Er kommt dem Mann viel zu nahe. Als ich dazu komme schaltet sich gerade eine filigrane Frau mit asiatischen Zügen ein, die dem Wüterich ebenfalls erklärt, dass der Verkäufer hier stehen dürfe. Sie sagt es sachlich und bestimmt. Das ist zu viel Fremdheitserfahrung. Er rastet regelrecht aus. Ich sage ihm, dass er jetzt gehen muss.

Er beschimpft jetzt beide, die Frau und den Surprise-Verkäufer als Terroristen.

Beiden kommt er immer wieder zu nahe. Als ich ihn nochmals auffordere zu gehen und ihm mit der Polizei drohe, greift er in den Gürtel seiner Hose. Ich bin nicht sicher, ob er dort ein Messer hat. Und auch mir wird unwohl. Erst als ich 117 wähle und es klingeln lasse, stürzt er davon. Um uns stehen ca. 5-10 Schaulustige. Sie haben vielleicht auf die Strassenbahn gewartet. Ein paar haben gefilmt. Sie wenden sich jetzt ab. Neben uns haben sich zwei weitere Männer dazu gestellt, wahrscheinlich um uns zu unterstützen.

Der Surprise-Verkäufer spricht mich direkt an: «Siehst du, das ist Rassismus!» Verschämt stimme ich ihm zu. Ayane* – die asiatisch aussehende Frau – bestätigt, dass auch sie oft Rassismus erlebe und sich deshalb hier eingemischt habe. Ein paar Umstehende wollen den Rüpel anzeigen. Ich muss aber los, weil ich einen Zahnarzt-Termin habe. Ich lasse ihnen meine Handy-Nummer da, falls sie mich als Zeugen brauchen.

Schweizer bleiben neutral

Nach meinem Zahnarzttermin finde ich eine Nachricht auf meinem Handy. Ayane bedankt sich für meine Hilfe. Sie habe geglaubt, dass sich Schweizer nie in der Öffentlichkeit für jemanden einsetzen. Ich fühle mich geschmeichelt. Dann etwas beschämt. Ob ich als kleine Frau auch eingeschritten wäre? Und dann etwas perplex: Schweizer schreiten nicht ein? Echt?

Ich lasse die Bilder nochmals Revue passieren. Ayane hat mir ausserdem ein Video geschickt. Und es stimmt!

Kein Schweizer, keine Schweizerin, die sich einmischen.

Ich könnte schwören, dass einige in der Nähe standen. Aber tatsächlich haben sie alle uns nur zurückhaltend beobachtet. Weshalb?

Vielleicht weil wir uns nicht gerne einmischen. Weil wir denken, dass es dafür ja Behörden gibt. Weil wir Konflikten lieber ausweichen. Vor allem aber deshalb, weil wir kaum wissen, wie es ist, wenn man angegriffen wird. Schweizer sind keinem Rassismus ausgesetzt.

Wir unterschätzen wahrscheinlich, wie beleidigend, bedrohlich und demütigend so etwas ist, weil es uns nie betrifft.

2020 wurden in der Schweiz 572 rassistische Diskriminierungsvorfälle erfasst. Das ist nur ein Bruchteil, der tatsächlichen Vorfälle.

Eine Kollegin erzählt mir, dass sie vorige Woche in der Strassenbahn mitbekommen habe, wie ein Schweizer einen Ausländer mit Einkaufstaschen übel beleidigt habe. Er nehme ihm seinen Platz weg. Vor lauter Ausländern könne er sich in seiner Stadt nicht mehr bewegen. Niemand habe etwas gesagt. Der beschämte Mann sei bei der nächsten Haltestelle einfach ausgestiegen.

Biotop für Rassismus

Laut Bericht «Rassistische Diskriminierung in der Schweiz» findet nur gut die Hälfte der Bevölkerung Rassismus ein ernstes Problem. Das heisst, fast die Hälfte findet, dass Rassismus bei uns kaum in relevantem Ausmass vorkommt.

Wenn Herrn und Frau Schweizer aber vielfach das Problembewusstsein fehlt und sie sich sogar bei öffentlichen Vorfällen kaum einsetzen, werden sie es dann bei der Wohnungsvergabe oder am Arbeitsplatz tun?

Wenn nicht, schaffen wir damit ein Biotop, in dem Rassismus, Demütigungen und Diskriminierungen hinter dem Schleier unserer zurückhaltenden Neutralität wunderbar gedeihen. Gott sei Dank leben bei uns auch ein paar Menschen mit Migrationshintergrund, die das nicht zulassen werden.

*Name geändert.

2 Gedanken zu „Schweizer mischen sich nicht ein.“

  1. Das ist nicht zu akzeptieren, aber die reformierten Medien sehen nicht die ganze Bandbreite von Rassismus.
    Wenn das Hilfswerk der evangelischen Kirchen der Schweiz eine Viertelmillion CHF in den Gazastreifen sendet, obwohl nicht klar ist, ob das Geld den Bedürftigen oder den Hamasschergen zugute kommt, ist dies unbegreiflich.

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  2. Lieber Stephan
    Nur kurz: Schweizer*innen mischen sich allgemein nicht gern ein, egal ob es sich um Auseinandersetzungen mit Ausländer*innen, Jugendlichen u.s.w. handelt. Und weil ich selber als kleine zierliche Frau schlechte Erfahrungen bei Einmischungen gemacht habe, überlege ich mir nun sehr gut, ob ich mich diesem Risiko aussetzen möchte oder nicht. D.h es hängt jeweils von meiner momentanen Verfassung ab und wenn jemand sonst bereits aktiv geworden ist und sogar Unterstützung – wie bei Dir – erhalten hat, kann es gut sein, dass ich auch nur zusehe.

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