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 Lesedauer: 6 Minuten

Liebe Hagar

Kürzlich habe ich an dich gedacht: Ich habe das Script für ein Video geschrieben, bei dem es darum ging, dass wir uns als Menschen danach sehnen, dass uns jemand sieht. Dass uns jemand sieht und liebt, genauso, wie wir sind. Du, Hagar, kamst mir in den Sinn, weil du Gott laut der biblischen Erzählung so bezeichnest: «Gott, der mich sieht». Es ist in der Bibel der erste persönliche Name überhaupt, den Menschen an Gott richten, das finde ich bemerkenswert.

Ich schlug deine Geschichte in Genesis 16 und 21 nach und hatte sehr ambivalente Gedanken dazu. Was für eine entsetzliche Geschichte! Ständig verfügen andere über dich. Und ausgerechnet in der Situation, in der du Gott lobst, hatte er dich soeben zu deiner gewalttätigen Herrin zurückgeschickt.

Du bist eine Ägypterin, die Magd (oder Sklavin) von Sara, an die meine Kollegin Johanna Di Blasi bereits einen Brief gerichtet hat. Ägypten ist im 2. Jahrtausend v. Chr. über weite Jahrhunderte die dominante Macht an der östlichen Mittelmeerküste. Es gibt einen blühenden Handel in der Region – vermutlich auch mit Menschen, Menschen wie dir.

Zwar bist du ein Mitglied von Abrams grosser Nomadengemeinschaft, doch als Individuum zählst du wahrscheinlich wenig. Als Sara nicht schwanger wird, zwingt sie dich, die Zweitfrau ihres Mannes zu werden, der zu diesem Zeitpunkt schon über 80 ist, und mit ihm zu schlafen. Offenbar ein üblicher Vorgang, denn er wird in der Bibel kommentarlos erwähnt. Wie oft musstest du das über dich ergehen lassen, bis du schwanger warst?

Saras Plan geht auf, doch die Dynamik zwischen dir und deiner Herrin verändert sich. Du schaust auf sie, die keine Kinder hat, herab. Sara ihrerseits ist natürlich neidisch auf deine Schwangerschaft. Sie plagt dich so sehr, dass du flüchtest.

Wer ist dieser «Bote Gottes»?

Doch jemand folgt dir. Dieser Jemand findet dich, als du bei einer Oase Rast machst. Es ist keiner von Abrams und Saras Knechten, sondern der ominöse «Bote Gottes», der mehrmals im Alten Testament vorkommt. Es interessiert mich schon lange, wer dieser Bote ist. Ein Engel? Ein Mensch, den Gott beauftragt hat? Jesus Christus, in einer früheren Form – eine Theorie, die ich einmal gehört habe? Wirkte der Bote auf dich furchteinflössend oder sympathisch? Wusstest du überhaupt, dass diese Person ein Bote Gottes war?

Dieser Bote, jedenfalls, sagt etwas Unglaubliches zu dir: Er weist dich an, zurückzugehen. «Kehr zurück zu deiner Herrin und ertrage ihre Härte.» Ähnlich, wie Paulus im Neuen Testament den entlaufenen Sklaven Onesimus zurück zu seinem Herrn schickt (Philemonbrief). Beide – Onesimus und du – wurdet zu Identifikationsfiguren für Sklav:innen, noch viele Jahrhunderte später. Und du als Frau afrikanischer Herkunft, als alleinerziehende Mutter, als Sklavin, hast in der «womanistischen» Theologie, der Exegese durch Schwarze Frauen, einen hohen Stellenwert.

Auch ich solidarisiere mich beim Lesen deiner Geschichte mit dir. Auch gegen Gott selbst: Warum schickt Gott dich zurück?! Eine Frau, die die Kraft aufbringt, vor häuslicher Gewalt zu fliehen, erst noch während einer Schwangerschaft! Als Leserin möchte ich dich vor deinem Vergewaltiger und vor der gewaltsamen Herrin schützen.

Es schmerzt mich tief, dass Gott dir hier durch Gottes Boten eine solch gewaltvolle Anweisung gibt. Es erinnert mich an fundamentalistisch-christliche Gemeinden, in denen Frauen lange geboten wurde, sich ihrem Mann unterzuordnen und auch Missbrauch hinzunehmen. Eine Praxis, die hoffentlich heute überholt ist.

Eine folgenreiche Prophezeiung

Der Bote schickt dich aber nicht nur zurück, er gibt dir auch noch eine Prophezeiung für die Zukunft: Dass du einen Sohn haben wirst, den du Ismael nennen sollst (eine göttliche Formulierung, die sich ganz ähnlich noch an anderen Orten in der Bibel findet, u. a. bei deinem «Ehemann» Abram, aber auch bei Maria, der Mutter von Jesus). Der Bote prophezeit weiter, dass dein Sohn seine Brüder schikanieren werde und dass du eine riesige Nachkommenschaft haben wirst.

Ismael wird gemäss dem biblischen Bericht zum Stammvater der arabischen Völker. Es ist eine der Geschichten in der Bibel, in der Gott mit einer Person von gesellschaftlich niederem Rang Geschichte schreibt.

Dennoch lässt mich die Prophezeiung stutzen. Von welchen Brüdern ist da die Rede? War nicht genau der Punkt, dass Sara und Abram keine Kinder haben konnten, und du deswegen als «Hand Maid» missbraucht wirst, wie die Frauen im bekannten dystopischen Roman von Margaret Atwood? Hast du schon Kinder, von denen in der Geschichte nicht die Rede ist? Hast du diese bei Abrams Zeltlager zurückgelassen? Vermutlich wird in dieser Geschichte bereits mit eingerechnet, dass Sara und Abram doch auch noch zusammen Eltern werden.

Auch deine Reaktion wirft bei mir Fragen auf. Als du diese Prophezeiung erhältst, reagierst du darauf mit einem Gotteslob. (Auch hier wieder Ähnlichkeiten zu Maria – während Sara nur lachen kann, als auch ihr ein göttlicher Bote verkündet, dass sie noch Mutter werden wird.) Du nennst Gott «El-Roi», den, «der mich sieht». Grammatikalisch geht dies im Hebräischen nicht ganz auf, und so gehen Bibelwissenschafter:innen davon aus, dass deine Aussage in erster Linie eine Erklärung für den Namen der Oase ist, an der sich diese Begegnung zugetragen haben soll.

Was meinst du mit deiner Antwort? Stellst du vielleicht auch Fragen? Protestierst und flehst, als dich der Bote auffordert, zurück zu Sara und Abram zu gehen? Oder bist du so verzweifelt und erschöpft, dass du in der Rückkehr deine einzige Hoffnung siehst, dem Tod zu entrinnen? Bietet dir die (angebliche?) Begegnung mit dem göttlichen Boten eine Erklärung dafür, das nackte Überleben über deinen Stolz zu stellen?

Erneute Flucht

Später, als Sara doch noch ein Kind bekommt, verjagt sie dich erneut. Genauer gesagt, sie bittet ihren Mann, der inzwischen «Abraham» heisst, dich und deinen kleinen Sohn Ismael in die Wüste zu schicken. Ein ziemlich sicheres Todesurteil für eine alleinerziehende Mutter und ihr Kind. Deswegen möchte Abraham ihrer Bitte auch nicht Folge leisten – doch Gott befiehlt ihm, es zu tun; er solle sich keine Sorgen um euch machen. So gibt Abraham euch Vorräte mit und schickte euch fort.

Wieder seid ihr in der Wüste. Doch diesmal findest du keine Oase. Du und dein Sohn, Ismael, seid dem Tode nahe. Da erscheint wieder der Bote Gottes, der das Schreien deines Kindes hört. Diesmal ruft er dir vom Himmel aus zu und zeigt dir eine Wasserstelle, erzählt die Bibel. Ihr überlebt. Dieses Mal musst du nicht zu Abram und Sara zurück.

An dieser Stelle würde dein Gotteslob aus meiner Perspektive mehr Sinn ergeben: «Gott, der, der mich sieht». Mit einem Gott, der einem in solchen Notsituationen Auswege zeigt, wie man sie selbst nicht gefunden hätte, kann ich etwas anfangen. Einem Gott, der nicht nur die ganze Schafherde sieht, wie es im berühmten Gleichnis im Neuen Testament heisst, sondern auch das einzelne Schaf, das sich verirrt hat.

Mit einem Gott, der einem nicht unbedingt Leid erspart, aber Wege führt, die man nicht für möglich gehalten hätte. Diesen «Gott, der mich sieht» kenne ich auch. Das verbindet mich mit dir.

Herzlich,

Evelyne

 

In dieser Serie schreiben Fabienne Iff, Johanna Di Blasi und Evelyne Baumberger Briefe an Frauen aus der Bibel. Die Briefe sind inspiriert von feministischer Exegese und von der afroamerikanischen Bibelauslegungs-Praxis des «Womanist midrash»/«Sanctified imagination». 

Illustration von Rodja Galli

Alle Beiträge zu «Frauen der Bibel»

2 Kommentare zu „Liebe Hagar“

  1. Vielen Dank für eure grossartigen Briefe! Ich habe sie alle gelesen und bin fasziniert von euren Gedanken und den neuen Perspektiven, die sich mir durch sie zeigen!
    Inspiriert durch sie, habe ich spontan auch einen ungewohnten Brief verfasst. Meiner richtet sich an den Tod:

    Hi.

    Wir haben uns noch nie persönlich getroffen. Aber gute Freunde von mir schon. Darum kenne ich Dich ein Bisschen. Ich schätze Du weisst, dass Du nach Aussen ziemlich furchteinflössend wirkst. Zumindest für die meisten. Vielleicht ist es die Endgültigkeit Deines Auftretens, die viele verunsichert? Ehrlich gesagt: Die meisten gehen Dir aus dem Weg. Sie meiden Dich. Aber wahrscheinlich sage ich Dir damit nichts Neues. Normalerweise redet man nicht einmal über Dich und es kursieren allerhand Gerüchte über Deine Person. Vielleicht war es schon immer so? Irgendwie tut es mir leid, dass Du so an den Rand gedrängt wirst und jeder sich wünscht, Dir nie zu begegnen. Ob Dich das wohl verletzt? Oder hast Du Dich mittlerweile damit arrangiert? Ich bin überzeugt, dass niemand so eine Behandlung verdient hat – nicht einmal Du.

    Es mag Dich vielleicht überraschen – aber ehrlich gesagt: Ich freue mich auf den Tag, an dem wir uns sehen werden. Ich weiss, das klingt verrückt. Ich habe keine Ahnung, wann Du mich besuchen wirst, aber ich weiss, dass Du ganz gewiss irgendwann vor meiner Türe stehen wirst. Ich habe keine Angst vor Deinem Besuch. Ich weiss, unsere Begegnung wird nur kurz sein. Wenn Du da sein wirst, werde ich alles stehen und liegen lassen und mit Dir mitkommen – auf in ein neues Abenteuer. Durch Dich wird sich mir eine Türe in eine neue Welt öffnen! Du bist für mich wie ein wunderbarer Dienstbote Gottes, gesandt, um mich abzuholen und mich an den Ort zu führen, an dem ich bereits erwartet werde: Mein eigentliches Zuhause. Dort wird mein Herz zur Ruhe kommen – für immer. Es ist der Ort meiner Bestimmung, meiner Sehnsucht, meines Seins.

    Falls ich es bei unserer Begegnung vor Aufregung vergessen sollte, mich bei Dir für Deinen Dienst zu bedanken, dann nimm es mir bitte nicht übel. Du sollst wissen: Ich bin Dir schon jetzt dankbar.

    Auf irgendwann

    1. Evelyne Baumberger

      Liebe Corina, danke für die schöne Rückmeldung – so schön, dass du selber einen Brief verfasst hast! Ich hoffe, dass dieser Besucher sich bei dir noch lange nicht ankündigt… Herzlich, Evelyne

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