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 Lesedauer: 8 Minuten

Liebe Ehefrau von Potifar

Der Sachverhalt gleicht vielen weiteren in der Bibel: Wir lernen dich wegen eines Manns kennen, dieses Mal ist es Josef. Wie oft sollen wir noch schreiben, dass Frauen Nebenprotagonistinnen sind? Die Bibel hat echt ein Frauenproblem!

Wie wäre es, wenn wir anstatt «Josefsgeschichte» matriarchale Titel hätten? Dann ginge es plötzlich auch um Lea und Rahel, die zwei Ehefrauen (hallo Polygamie!) von Josefs Vater, oder Bilha und Silpa, die Sklavinnen, die unter die Räder von Leas und Rahels Kinderkonkurrenz gerieten. Wie viele Briefe könnten wir ihnen allen schreiben – und Josefs Schwester Dina haben wir noch nicht einmal erwähnt. Auch Asenat, Josefs Ehefrau, kommt am Rande vor.

So viele Frauen, aber abgekürzt wird es mit «Josefsgeschichte». Manchmal könnte ich wahnsinnig werden.

Doch kommen wir zur Sache: Der sich selbst etwas überschätzende Lieblingssohn Josef wird von seinen eifersüchtigen israelitischen Brüdern verkauft und kommt als Diener ins Haus von Potifar, einem ranghohen Beamten des ägyptischen Pharaos. Josef überzeugt ihn sofort durch die Gunst des israelitischen Gottes. Durch das geschenkte Gelingen führt Josef seine Arbeit derart gut aus, dass dein Mann Potifar ihm nach und nach die Verantwortung für das gesamte Haus übergibt.

Heute würden wir sagen: Der Trainee Josef überspringt einige Stufen auf der Karriereleiter. Gesegnet von Gott, ein exzellenter Job und dann auch noch gutaussehend – so lässt uns die Bibel wissen – dieser Josef muss ein echter Fang gewesen sein! Mir wäre er zu perfekt. Mit ihm konnte ich mich noch nie so richtig anfreunden. Aber egal, jeder Person die eigenen Präferenzen.

Jung und unglücklich verheiratet?

Dir gefällt er jedenfalls sehr gut. Zumindest rein körperlich. Wie alt warst du? Warst du gleich alt wie dein Mann? Warst du um einiges jünger, was nicht unwahrscheinlich ist? Warst du eine dieser Frauen, die als Mädchen verheiratet wurden? Wie viel durftest du mitreden, als du geheiratet hast? Fandest du deinen Mann attraktiv?

Der Bibeltext lässt vermuten, dass dir Josef deutlich besser gefällt. Du «willst mehr», wie wir in unserer Umgangssprache sagen und kommunizierst das deutlich. «Leg dich zu mir!», forderst du ihn auf. Warst du so unzufrieden, dass du willig warst, bewusst untreu zu werden? Was musst du für eine Ehe geführt haben, dass du dich jemandem so an den Hals wirfst? Noch dazu unter den Augen deiner Angestellten. Risikofreies Handeln sieht anders aus.

Oder war Josef zwiegespaltener, als es die traditionelle Lesart glauben lässt? Seine Reaktion auf deine Aufforderung lässt diese Lesart zumindest zu. Er sagt nicht: «Ich will das nicht.» Er verweist auf seine berufliche Verantwortung, die es ihm verbietet, deinem Wunsch zu folgen. Sein Job steht auf dem Spiel – als versklavter Fremder keine Karte, die er leichtfertig verspielen sollte. Da hat er schon recht. Dennoch lehnt er dein Angebot nicht ab, weil er persönlich nicht will.

Eine schlechte Rom-Com

Spätestens hier frage ich mich, ob ich in einer schlechten Rom-Com gelandet bin. Der Ehemann ist den ganzen Tag ausser Haus und vernachlässigt seine Ehefrau – und dann verlieben sich der Gutsverwalter und die Ehefrau unsterblich ineinander und ringen um ihre Liebe. Ich wundere mich oft, wie wir angeblich aufgeklärten Menschen der «unbeschreiblichsten und stärksten Macht» der Liebe verfallen.

Wir selbst sterben vor Liebeskummer, wenn wir verlassen werden, aber starren ergriffen in den Bildschirm, wenn Protagonist:innen einer Rom-Com endlich zueinander finden.

Da folgen Menschen einem Gefühlsrausch und lassen sich von ihm verblenden. Inexistent sind die Perspektiven und Gefühle derer, die verlassen werden. Sie werden ins Schattendasein verbannt, müssen im Namen der grossen Liebe kooperativ zur Seite treten. Natürlich, Beziehungen dürfen (und müssen manchmal) zu Ende gehen. Doch die Frage, wie ein Ende für alle Beteiligten möglichst glimpflich ausgehen kann, wird in diesen Rom-Coms nie gestellt. Viel wichtiger ist, dass die füreinander Bestimmten endlich nicht mehr unter ihren versteckten Gefühlen leiden.

Ein Lob an den Mann!

In dieser Hinsicht muss ich Josef ein Lob aussprechen, vielleicht zum ersten Mal. Er denkt an die Konsequenzen und sagt: «Wären die Umstände anders, würde ich vielleicht anders entscheiden. Aber diese Ausgangslage halte ich für wenig sinnvoll.» Klar, er hat mehr zu verlieren als du. Und ja, ich habe Empathie dafür, dass du dir deine Situation wohl kaum selbst ausgesucht hast. Du wurdest vermutlich in diese Ehe und zu diesem Mann gestellt, ohne dass du dich aktiv dafür entschieden hast. Dass du Sehnsucht nach einem Ausbruch hast, halte ich für mehr als verständlich. Doch die Mittel, die du verwendest, um deiner unglücklichen Zwangsverheiratung zu entkommen, halte ich gerade aus feministischer Perspektive nicht für richtig.

Nein bleibt Nein, egal wie die Begründung ausfällt.

Oder anders gesagt: «Nur Ja heisst Ja», wie derzeit in politischen Abstimmungen in der Schweiz diskutiert wird. Wir müssten lernen, die körperlichen und verbalen Zeichen einer Person zu lesen, so die Sexologin Ann-Marlene Henning. Gegner:innen von «Nur Ja heisst Ja» befürchten, dass damit jegliche Sinnlichkeit flöten geht, weil angeblich ein dreiseitiger Abklärungsvertrag ausgestellt werden müsse. Sie haben nicht begriffen, dass konsensueller Sex überhaupt nicht technokratisch ausgehandelt werden muss. Doch das will geübt sein.

Eine Frau verhält sich patriarchal

Du gehst einen Weg, den ich mit patriarchal-männlichem Verhalten verbinde: Obwohl ein Nein ausgesprochen wird, akzeptierst du das Nein von Josef nicht. Wieder und wieder versuchst du, ihn zu überzeugen, eine Affäre anzufangen. Heute nennen wir ein solches Verhalten grenzverletzend.

Wie oft habe ich mich oder haben Freundinnen sich in solchen Situationen wiedergefunden: Defensives Verhalten allein reichte nie, oft nicht einmal ein Nein, erst das frustriert ausgerufene: «Ich bin in einer Beziehung!» rettete. Erst der Respekt vor einer – mutmasslich männlichen – Präsenz war endgültig. Für mich, für meine Freundinnen etwas vom Unangenehmsten, das es gab und gibt. Wie kann man als Frau selbst so handeln? Wie sind denn Menschen mit dir umgegangen?

Du verrennst dich so sehr im Wunsch, mit Josef zu schlafen, dass du eines Tages, als niemand der Angestellten im Haus anwesend ist, die vielleicht einzige Chance ergreifst, Josef physisch anzufassen.

Diese Information lässt den Rückschluss zu, dass die übrigen versklavten Hausangestellten um deine Absichten wussten. Eigentlich erstaunlich, dass niemand dich verriet. Deine Intentionen waren so klar, obwohl du sie nicht ausführtest. Vermutlich war die Beweislage zu dünn und es für die Angestellten zu gefährlich, dich zu verraten. Du hättest alles abgestritten. Und so drehst du auch die Beweislage bei Josef: Als du ihn anfasst, lässt er sein Gewand fallen und läuft davon. Wie viel deutlicher muss ein Mensch, muss ein Mann sein?

Auch wegen dieser Geschichte verstehe ich nicht, dass so viele Männer derzeit gegen «Nur Ja heisst Ja» sind: Männer können nach heutigem Schweizer Gesetz nicht vergewaltigt werden. Zu hoch ist die Dunkelziffer derjenigen Männer, die aus Scham oder fehlender rechtlicher Grundlage für sich einstehen können. Aber auch uns Frauen erweist du einen Bärendienst, indem du vortäuschst, dass es Josef war, der Grenzen übertrat. Wie oft wird wegen genau solcher Geschichten wie deiner – die eine absolute Ausnahme darstellen – das Argument aufgeführt, Frauen würden Männer unrechtmässig beschuldigen?

Ein Bibeltext, der viele Fragen aufwirft

Mich bringt diese Episode zur Weissglut. Sie lässt mich auch rätselnd zurück. Gefangen in patriarchalen Strukturen lebst du unzufrieden und vergreifst dich doch an einem Mitmenschen. Nicht immer ist ein Bibeltext inspirierend oder erleuchtend. Manchmal mahnt er auch. Hier mahnt er, dass sexuelle Misshandlung auch durch Frauen geschehen kann. Ein Funke von mir hofft immer noch, dass es patriarchale Autoren waren, die eine böse Frau konstruierten, um die moralische Integrität des Helden Josef heraufzustilisieren. Doch leider gibt es solche Geschichten eben doch. Und theoretisch ist die Geschichte für dich – die Frau – für einmal gut ausgegangen: Josef verschwand aus deinen Augen und seine körperliche Gegenwart musste dich nicht mehr quälen.

Nur leider ist es allzu typisch, dass die Täter:innen häufig weniger unter den Konsequenzen leiden als die Opfer. Ganz ehrlich: Mir fällt es schwer, dich als weibliche Verbündete zu begreifen. Ich möchte auf Distanz bleiben, weil ich so ein Verhalten nicht gutheisse. Denn ich werde auch fuchsteufelswild, wenn man versucht, das Verhalten eines Täters zu kontextualisieren, wenn weibliche, trans, nonbinäre oder queere Personen misshandelt werden. Klar kann man darüber reden, was zur Tat führt, aber die Tat wird dadurch niemals gerechtfertigt.

Ich glaube, ich muss ertragen, dass du in der Bibel vorkommst. Und es zur kritischen Selbstüberprüfung verwenden, ob mein Verhalten als Frau mit dem übereinstimmt, was ich von meinen Gegenüber verlange.

Fabienne

Wer die Geschichte von Potifars Frau nachlesen möchte, findet sie in 1. Mose 39.

In dieser Serie schreiben wir Briefe an Frauen aus der Bibel, der erste ging an die Königin Vashti, der zweite an Zippora, der dritte ging an Martha und der vierte ging an Sara. Inspiriert ist dieser Blick von afroamerikanischer Bibelauslegung: Dort wird die sogenannte «geheiligte Vorstellung» («sanctified imagination») praktiziert. In einer geheiligten Vorstellung erarbeitet eine Person, wie eine biblische Geschichte hätte beginnen können, wie sie möglicherweise weiterging oder macht sich Gedanken zum Kontext, in dem diese Geschichte stattfand. Afroamerikanische und insbesondere womanistische (schwarzfeministische) Bibelexegese, wie sie beispielsweise die Judaistik-Professorin Wilda Gafney praktiziert, ist dabei intersektional angelegt und von den spezifischen Lebensbedingungen von BIPOCs geprägt. Es wird ein besonderes Augenmerk auf unterschiedliche Handlungsfähigkeiten, soziale Ungleichbehandlungen, Unterdrückungsformen, Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen gelegt. Diesen Aspekten können wir weissen Autorinnen natürlich nicht genügend Rechnung tragen. Wir geben jedoch unser Möglichstes, die feinen Nuancen eines biblischen Textes herauszuarbeiten und den Lebensumständen und -bedingungen der jeweiligen Frauen gerecht zu werden.

Illustration: Rodja Galli

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8 Kommentare zu „Liebe Ehefrau von Potifar“

  1. Interessante Lektüre – wieder mal, danke!
    Die Idee, dass der Übergriff womöglich eigentlich von Josef gekommen sein könnte, die Bibel ihn aber als strahlenden Helden da stehen lassen will und die Geschichte umgedreht hat, die kam mir auch schon mal.
    Interessant finde ich auch, wie Thomas Mann in seinen Josefsromanen die Geschichte erzählt hat: Da ist Potiphar ein Eunuch, zu Repräsentationszwecken aber verheiratet – und als Josef ins Haus kommt, entdeckt seine Frau, wie sie sich nach Sinnlichkeit und Erotik sehnt.
    Aber klar: so wie die Geschichte in der Bibel steht, liest sie sich einfach mal gemein und ungerecht. Und nicht schönzureden.
    Nun bin ich schon gespannt auf den nächsten Brief – viele Grüße!

  2. Chrigel der flieGENdruck

    danke für diese Sicht ins Schattige, danke.
    Ich hab mir noch nie Gedanken gemacht, wieviele Frauen in den Bibeln rumhuschen und so konturlos sind; mir wird berichtet, das Niederschreiben sei je von Männern geleistet worden.
    Ein Begriff kenne ich noch nicht: was ist Rom-Com?
    Da muss ich denn schmunzeln: Du schreibst die ‚Beweislage sei dünn‘,
    Erzählen wir uns doch, wie kam DER Erzähler zu dieser flotten Geschichte?
    Die Bibel ist voller ‚Episoden‘ unerträglichster Art (das AT ist nicht bloss, weil einige Seiten dicker als s NT, gemein voll von solch Menscheleien).

    1. Lieber Christian,

      Rom-Com kommt von Romantic-Comedy, ein Filmgenre. Auf Deutsch ist damit eine -humorvoll – verfilmte Liebesgeschichte gemeint, meistens mit einem Happy-End, bei dem die Protagonist*innen (meist heterosexuell) zueinander finden.

      Herzlich
      Fabienne

  3. Liebe Fabienne!
    Tolle Gedanken, die anregen, danke; ich habe mir aber gedacht, wenn es klassisch ein Mann gewesen wäre, der seine Sklavin genötigt hätte, ob Du dann auch soviele „Erklärungsansätze“ gebracht hättest; auch wenn Du dich vielleicht vom Schönreden der Tat distanzieren möchtest, gelingt dir dies aus meiner Sicht nicht ganz; wieso nicht eine ganz simple Lösung beiziehen, wie sie hatte einfach Lust? In der Serie Spartacus wird das immer wieder schön dargestellt: Römerinnen, die einfach einmal Lust auf ein Abenteuer mit einem Gladiator haben… zudem, warum ist das immer gleich patriarchal? Geht es hier nicht einfach um ein Machtgefälle, das ausgenutzt wird, von der Domina und dem Dominus? sind Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt immer gleich nur patriarchal oder eben nicht das generelle Problem im Umgang mit Macht? Und Macht ist nicht immer gleich männlich zu konnotieren.
    Ein gutes Beispiel dafür ist der Film Disclosure mit Michael Douglas und Demi Moore: hier nötigt die Chefin den Angestellten und stellt ihn bei dessen Verweigerung als Täter dar…und niemand glaubt ihm, dem Mann, ein Opfer zu sein; ich glaube Frauen können Macht genau so- auch in sexueller Hinsicht- missbrauchen, wie Männer!

    1. Lieber Roland

      Vielen Dank für deine Anmerkungen. Ja, stimmt, wenn es ein Mann wäre, würde ich nicht so sehr damit ringen. Da hast du Recht. Gleichzeitig glaube ich, dass im Moment mehr Männer strukturell in Positionen sind und über Macht und Status verfügen, um Grenzen zu verletzen. Aber selbstverständlich können Frauen das auch tun. Ich habe das auch schon miterlebt, aber weitaus weniger. Hier war es mir eben wichtig, einen Punkt zu machen, dass das auch bei Frauen möglich ist (aber das statistisch gesehen nicht seltener passieren muss) – und das wollte ich ausloten. Mir ist es bislang noch fremder, einer weiblichen Täterin zu begegnen.

      Herzlich
      Fabienne

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