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 Lesedauer: 6 Minuten

Liebe Vashti

Kennengelernt haben wir uns im Schulfach «Biblischer Unterricht» bei Frau Nussbaumer. Du kamst in der allerersten Geschichte vor, die sie erzählt hat. In der biblisch überlieferten Esther-Geschichte wirst du als ungehorsame persische Königin geschildert. Dein damaliger Noch-Ehemann, der persische König Ahasveros, feiert monatelang rauschende Feste mit seinen Fürsten und Beamten. Schliesslich feiert er sieben Tage lang mit dem ganzen Volk. Du feierst in diesen sieben Tagen ein Festmahl mit den Frauen, die im Palast leben (hoffentlich habt auch ihr ordentlich gefeiert!). Am Ende der sieben Tage verlangt dein angetrunkener Noch-Ehemann, dass du dich mit deiner Königinnenkrone schmückst und deine physische Schönheit vor ihm und der Männerrunde präsentierst.

Und du weigerst dich! Du sagst Nein und erscheinst nicht. Damit hat dein Exmann nicht gerechnet. Wütend, weil vermutlich gedemütigt, verstösst er dich. Die Begründung, die er und seine Rechtsgelehrten ausarbeiten:

Wo käme man(n) hin, wenn sich alle Frauen ihren Männern widersetzten?

Heute würden wir es feministisch nennen, was du getan hast. Dieses Wort kennst du wahrscheinlich nicht. Aber das, was du getan hast, sehe ich als feministisch: Du siehst es als unwürdig an, dass du deinen Körper vor einer Horde betrunkener Männer zur Schau stellen sollst. Als wärst du ein Stück Fleisch, das man begutachten und betatschen darf, das jedem beliebigen Mann frei zur Verfügung steht. Ich glaube nicht, dass du prüde warst. Es ist ja nicht so, dass du eine monogame Ehe führst, wie wir sie heute kennen. Du bist zwar die Königin, aber dein Mann hat neben dir weitere Frauen. So erzählt es die Geschichte.

Mindestens so mutig wie Esther

Als ich dich kennenlernte, wurdest du auf das Negativbeispiel reduziert. Denn was kann man als Frau Schlimmeres tun in einem Kontext, in dem Macht von Männern ausgeübt wird, als eine Entscheidung nicht brav anzunehmen und auszuführen, sondern sich zu verweigern und so die Machtverhältnisse zu hinterfragen? Dein Mut kostet dich deine privilegierte Stellung. Du verschwindest aus der Geschichte, als hättest du nie existiert. Allzu leicht überliest man dich. An deine Stelle tritt Esther, die dem Buch den Namen gibt. Über dich, Vashti, redet niemand mehr. Dabei bist du mindestens so mutig wie Esther.

Wenn ich über dich nachdenke, explodieren tausend Fragen in meinem Kopf. Ich wüsste so gerne, wer du warst.

Wie du Königin wurdest. Würdest du über diesen Teil deines Lebens überhaupt reden wollen? Wie war dein Leben im Palast vor diesen Festen? Wie sah dein Alltag aus? Hast du deinen Exmann oft gesehen? Mochtet ihr euch oder war es eine Zweckehe? Was für eine Beziehung hattet ihr? Und natürlich: Woher hast du deinen Mut genommen, Nein zu sagen? Hattest du Angst? Hast du dich mit Wut widersetzt, mit Unsicherheit oder mit einem selbstbewussten Lächeln auf den Lippen?

Vor allem aber auch: Wohin bist du gegangen? Konntest du dir das aussuchen? Wie muss man sich das vorstellen, wenn man die Exfrau des Königs ist, und ein neues Leben aufbauen muss? Wo bist du untergekommen? Hattest du eine Familie, zu der du zurückkehren konntest? Durftest du im Harem weiterleben und einfach den König nie mehr sehen?

Eine stolze Frau wird gedemütigt

In meiner Übersetzung steht, dass du ihm nicht mehr unter die Augen treten durftest. Im hebräischen Original heisst es, «vor sein Gesicht kommen», was so viel bedeutet, dass du nicht mehr in seiner Gegenwart sein durftest – anders als Esther, der das später gelang. Aber heisst das, dass du aus dem Königreich verbannt wurdest? Oder kann es auch heissen, dass du zwar deinen Königinnentitel verlorst, aber trotzdem im Palast am unteren Ende der sozialen Hierarchie weiterleben durftest?

Oder wurdest du ganz aus dem Palast verbannt und auf dich allein gestellt?

Wenn man vor den König trat und dieser das nicht billigte, stand die Todesstrafe darauf. Das erfahren wir später bei Esther. Es erscheint mir wenig wahrscheinlich, dass du dein Leben so gefährden wolltest. Gleichzeitig kann ich mir nicht vorstellen, dass du deine Taschen gepackt hast – wenn du denn überhaupt etwas mitnehmen durftest – und allein ins nächste Dorf gezogen bist. So stelle ich mir das vielleicht als postmoderne, individuell denkende Frau vor. Aber ich glaube nicht, dass man zu deiner Zeit als weibliches Individuum grosse Überlebenschancen hatte. Hättest du als Frau, allein, Arbeit gefunden? Oder musstest du schnellstmöglich wieder heiraten? War das möglich? Kannte man dich im Königreich gut?

Ich stelle mir dein Leben nicht einfach vor. Eine Frau, gedemütigt, ganz sicher nicht ehrbar. Auch das höchste soziale Kapital, Kinder, scheinst du nicht zu haben. Von einer Frau, die bedient wurde, wurdest du zu einer, die mit eigenen Händen anpacken musste. Wie war das? Wie bist du mit deinem Statuswechsel umgegangen? Warst du stolz auf deine Entscheidung, oder hast du sie bereut? Falls du den Palast verlassen musstest – hast du dem Palastleben  manchmal hinterhergetrauert, oder warst du auch irgendwie erleichtert?

Recht hattest du, Vashti!

Ich hoffe so fest, dass du wieder Boden unter den Füssen gefunden hast. Egal, ob du das Gespött der Frauen im Harem ertragen musstest, Esther persönlich kennengelernt hast oder nicht, oder ob du raus in die Stadt oder weit weg in ein Dorf gezogen bist. Ich hoffe, dass du ein Leben in Frieden leben konntest. Dass du körperlich unversehrt bliebst. Dass du diesen Konflikt überlebt hast und wieder angekommen bist. Dass du Frauen in deinem Leben hattest, die dich ermutigt, getröstet, unterstützt und gesagt haben: «Recht hattest du!»

Alles Liebe, Fabienne

Wer die Geschichte von Vashti in der Bibel nachlesen möchte: Sie findet sich im Buch Esther, Kapitel 1–2,4.

In dieser Serie schreiben wir Briefe an Frauen aus der Bibel; der zweite geht an Zippora. Inspiriert ist dieser Blick von afroamerikanischer Bibelauslegung: Dort wird die sogenannte «geheiligte Vorstellung» («sacred imagination») praktiziert. In einer geheiligten Vorstellung erarbeitet eine Person, wie eine biblische Geschichte hätte beginnen können, wie sie möglicherweise weiterging oder macht sich Gedanken zum Kontext, in dem diese Geschichte stattfand. Afroamerikanische und insbesondere womanistische (schwarzfeministische) Bibelexegese, wie sie beispielsweise die Judaistik-Professorin Wilda Gafney praktiziert, ist dabei intersektional angelegt und von den spezifischen Lebensbedingungen von BIPOCs geprägt. Es wird ein besonderes Augenmerk auf unterschiedliche Handlungsfähigkeiten, soziale Ungleichbehandlungen, Unterdrückungsformen, Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen gelegt. Diesen Aspekten können wir weissen Autorinnen natürlich nicht genügend Rechnung tragen. Wir geben jedoch unser Möglichstes, die feinen Nuancen eines biblischen Textes herauszuarbeiten und den Lebensumständen und -bedingungen der jeweiligen Frauen gerecht zu werden.

Alle Beiträge zu «Frauen der Bibel»

1 Kommentar zu „Liebe Vashti“

  1. Da wird man ein wenig an Samson von Regina Spektor als musikalisches Pendant erinnert –> von der Idee dieser Artikel-Serie 🙂
    Sehr schön geschrieben 👍

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