Dein digitales Lagerfeuer
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Christine Lavant: «Herr, ich hab die Drangsal noch nicht satt»

Ich kenne kaum Dichteres in der deutschsprachigen Lyrik als Lavant-Gedichte. Von ihrer Sprache und ihrem tollkühnen lyrischen Denken bin ich immer wieder aufs Neue betört.

Dabei sprach eigentlich alles dagegen, dass die schmächtige Frau, geborene Thonhauser, zu Lebzeiten oder später in einem Atemzug mit Rainer Maria Rilke, Georg Trakl oder Ingeborg Bachmann genannt würde.

Geboren wurde die Dichterin 1915 in der Kärntner Provinz als neuntes Kind einer armen Bergarbeiterfamilie. Von klein auf war sie ernstlich krank, später hör- und sehbehindert und geplagt von chronischer Schlaflosigkeit.

Mit 15 stritt sie im Beichtstuhl mit einem Pater, weil sie nichts glaubte, und wurde von ihren Sünden nicht losgesprochen. So steht es in ihrer psychiatrischen Krankenakte.

Zweimal hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen. 1935 liess sie sich schliesslich auf eigenen Wunsch in die «Landes-Irrenanstalt» in Klagenfurt einweisen. Diagnose: «angeborene Psychopathie».

Während des Zweiten Weltkriegs hielt sie sich und ihren Ehemann mit Stricken über Wasser: ein Strickweiblein mit Kopftuch.

Sich einfach gebende komplizierte Frau

Anlässlich des 50. Todestags der immer noch zu wenig bekannten Poetin ist nun eine voluminöse Sammlung an Briefen und Dokumenten erschienen; ausgewählt von Klaus Amann und herausgegeben als literarisches Porträt unter dem Titel «Ich bin masslos in allem» (Wallstein Verlag).

Neue biografische Details kommen ans Licht, zugleich bleiben viele Rätsel; wohl auch weil die Schriftstellerin kaum biografische Aufzeichnungen hinterliess; sie hielt ihr Leben wohl nicht für ausreichend wichtig. Nur ein einziges Interview ist mit der Ausnahmedichterin des 20. Jahrhunderts geführt worden. Was wir über Christine Lavant wissen, verdanken wir v.a. Briefen.

Wer war Christine Lavant? Ihr Biograf Amann schreibt:

«Sie war eine sehr kluge, gescheite, emotionale, zuweilen auch radikale, zu Depressionen neigende, humorvolle, sich einfach gebende komplizierte Frau, die auch dem Spirituellen und Okkulten, dem Traumhaften und Irrationalen zugetan war.»

Herzstück der jetzigen Veröffentlichung sind die erstmals abgedruckten Briefe zwischen ihr und der Liebe ihres Lebens, dem Maler und Nolde-Freund Werner Berg. Im kärtnerisch-slowenischen Grenzgebiet betrieb dieser einen Bauernhof als Künstlertreff, den Rutarhof.

So spät so glücklich

Nun liegen also ein Jahr nach der Veröffentlichung der Korrespondenz von Ingeborg Bachmann und Max Frisch («Wir haben es nicht gut gemacht») erneut Dokumente einer herzzerreissenden und unmöglichen amour fou vor.

Die Liebe von Lavant und Berg war gleich für vier Menschen unlebbar; beide waren verheiratet; sie mit einem erfolglosen und wesentlich älteren Maler, er mit seiner Studienfreundin, mit der er Kinder hatte.

«Wenn ich Gott nur verstehen könnte, warum er mich zu so später Jahreszeit noch so glücklich und tragend macht?»

So schrieb Christine Lavant an Werner Berg, und:

«Mein Schicksal ist wirklich ein fremdes geworden u. ich starre es manchmal – (besonders nachts wenn ich jäh erwache) sprachlos u. erschüttert an … Nehmt es mir bitte, wenn möglich, nicht fort denn, es ist gewiss, dass ich kein anderes mehr bekommen kann. […]»

Die Briefe des Paares waren bis vor kurzem in Nachlässen gebunden. Eigentlich hatten die beiden ihre Korrespondenz vernichten wollen, dann aber jeder für sich sichere Verstecke gesucht.

Ich brauch ein warmes hörendes Herz!

Die familiäre Zerreissprobe mündete in einen Selbstmordversuch des Künstlers. Danach begegnete sich das Paar nur noch selten. Mit der Möglichkeit, den Geliebten zu sehen, versiegte Lavants poetische Produktivität weitgehend. Sie kann ohne liebendes Du nicht schreiben.

«Ehe Du kamst hatte ich mich schon ganz damit abgefunden nie mehr zu dichten. Weisst: ich brauche dazu ein Gegenüber, ein ganz nahes warmes hörendes Herz. […]»

Schränkt das Gebundensein an eine biografisch herausgehobene Situation ihre literarische Bedeutung ein? Oder ist es gerade die Abhängigkeit als Liebende, die sie zur modernen Mystikerin macht?

Michel de Certeau schreibt zur Geschichte der Mystik in «Mystische Fabel 16. bis 17. Jahrhundert»:

«Zur gleichen Zeit, in der sich die Mystik im neuzeitlichen Europa entwickelt und dann ihren Niedergang erlebt, tritt eine Erotik auf. Das ist keine simple Koinzidenz. Beide gehören zu der ‹Nostalgie›, die der fortschreitenden Auslöschung Gottes als des einzigen Liebesobjekts entspricht. Beide sind Auswirkung einer Trennung.»

Erotik wie auch Mystik zielen über Sprache hinaus, sprengen sie. Dies zeigt sich u.a. in Sprachbildern, die Gegensätze verbinden. Bei Johannes vom Kreuz heisst es:

«O Brenneisen zärtlich! / O Wunde wonnetrunken!»

Christine Lavant schrieb:

Sag mir ein Wort, und ich stampfe dir / aus dem Zement eine Blume heraus, / denn ich bin mächtig geworden vor Schwäche / und vom sinnlosen Warten, / magneten in allen Sinnen […].

Typisch für Lavant sind fast grimmige Zwisprachen mit einem göttlichen Gegenüber:

«Her mit dem Kelch, ich trinke, was ich muss,/ […] Ich trink den Zorn und bohre meine Zehen / durchs linde Laub hinab zum scharfen Lauch. […]»

«[…] Mein Traum fällt ungeboren / dem Eifer Gottes in die Hand, / ich weine keine Träne. / In meinen Augen knirscht der Sand / wie hundert Hundezähne.»

«[…] Gott, sag das nicht nach, / sag keins der lauen Worte deiner Frommen! / Ich will ja nicht in ihren Himmel kommen! / Nur einmal noch – bevor sie mich begraben –/ lass mich im Traum ein Fünklein Liebe haben. […]»

«[…] Ich mag nicht mehr durstig schlafen gehen, / ich mag auch die fluchende Kehle nimmer / mit Essig ans Beten gewöhnen.»

Was will die Wurzelfrau?

Mein Lieblingsgedicht der Dichterin, die nur 58 Jahre alt wurde, genauso alt wie meine eigene Kärntner Grossmutter:

«Im Lauchbeet hockt die Wurzelfrau, / zählt Zwiebelchen und Zehen. / Was wird mit mir geschehen? / Sie nimmt es so genau. / Ich bringe meinen Kopf nicht mehr / aus den verhexten Latten. / Nun zählt sie schon die Schatten / und schielt verdächtig her. […]»

Was will die Wurzelfrau? Dass ich Rübchen neben Rübchen im Lauchbeet werde, vulgo: den Rasen von unten sehe. Ich denke, «die Lavant» war bei aller Tragik eine sehr schalkhafte Person.

Nelly Sachs schrieb Christine Lavant zum 50. Geburtstag eine Grusskarte aus dem Exil und dass sie von ihren Gedichten «tief ergriffen» sei. Der Dichter und Verleger Michael Krüger notierte:

«Meine ganze theologische Architektur ist von dieser Bettlerschale zum Einsturz gebracht worden. Es hat keinen Sinn, sich Gott als eine mehr oder weniger friedliche Instanz vorzustellen.»

«Die Bettlerschale» ist der Titel von Lavants in den 1950ern veröffentlichtem Gedichtband.

Falsche Heiligsprechung

Für Thomas Bernhard war Lavant «eine der wichtigsten und sie verdient, in der ganzen Welt bekannt gemacht zu werden.» Der Schriftsteller stellte sie auf eine Stufe mit einer anderen grossen Kärntner Autorin, Ingeborg Bachmann, und gab in den 1980ern eine Auswahl ihrer Texte bei Suhrkamp heraus.

«Aus diesem fürchterlichen geistlosen Kärnten sind die Sehnsuchtsgedichte unserer beiden Lyrikerinnen entstanden.»

Neben Höhepunkten fand Bernhard bei Lavant allerdings auch «unglaublich viel Kitsch-Müll; Leerlauf-Gott und Massen-Mohn». Thomas Bernhard wollte die expressionistische Dichterin der sentimentalen Vereinnahmung im Nachkriegsösterreich entreissen:

«Die Lavant war eine völlig ungeistige, sehr gescheite, durchtriebene. Sie wohnte auf der Betondecke eines Supermarktes an einer Strassenkreuzung in Wolfsberg mit einer Riesentankstelle und tippte ihre Gedichte gleich in die Maschine. Das ist für mich grossartiger, als das verlogene Weltfremdmärchen mit katholischer Talschlussromantik, das gottbefohlene, das um sie bis heute immer verbreitet worden ist.»

Christine Lavant lebte in einem besonders umkämpften Teil Österreichs, in einer schlimmen Zeit: als jüdischen Mitbürger ermordet wurden, Kärntner Sloweninnen und Slowenen Deportation und Verfolgung ausgesetzte waren, Partisanenkämpfe andauerten und sich 1945 die «Tragödie von Bleiburg» (auch «das Massaker von Bleiburg» genannt) ereignete, nur eine halbe Autobusstunde von ihrem Wohnort entfernt.

Zwischen Himmel, Hölle und Vereinnahmung

Welche politische Haltung sie eingenommen hat, bleibt auch nach der Lektüre von «Ich bin masslos in allem» undeutlich. Dies reiht sich für mich ein in das zeittypische Schweigen über die Kriegszeit.

Im Wortschatz der modernen Mystikerin fehlt ansonsten kaum ein Begriff zwischen Himmel und Hölle: Abgott, Andacht, Dreifaltigkeit, Engel, Erhörung, Fegefeuer, Gebet, Gott, Gottesanbeter, die Gottbereite, die Gottesmagd, gottgesandt, Gotteslächeln, Gottesleib, gottverlassen, Lamm Gottes, Heiland, Heilige, Jüngster Tag, Kreuzweg, Schweisstuch, Tempel, Teufelshaar, Verheissung usf.

Im Vorwort der jetzt herausgekommenen biografischen Sammlung, die auch viele Stimmen zu Lavant vereint, erklärt der Literaturwissenschaftler Klaus Amann, ihre Lyrik habe perfekt zu den Stimmungen und Erwartungen der Nachkriegszeit gepasst:

«Die unmittelbare Nachkriegszeit war das lyrische Jahrzehnt und Christine Lavants Gedichte liessen die Kundigen an literarische Säulenheilige vor dem Sündenfall des Nationalsozialismus denken. […] Ihr Hadern mit Gott und auch die schnell zur Marke gewordene Klassifizierung ihrer Lyrik als ‹Lästergebete› (so Ludwig von Ficker) liessen sich im Rahmen der tonangebenden konservativen Richtungen der 1950er Jahre als traditionsbewusst und modern zugleich wahrnehmen und vermarkten.»

Dort, wo «die ans Blasphemische grenzende Auflehnung des lyrischen Ich gegen ‹Gott›, oder in denen das Körperliche und das Erotische in den Augen der Verlagsleute zu massiv und zu offensichtlich waren», hätten Lavants Verleger den Abdruck in der «Bettlerschale» schlicht verweigert – und sich über die von der Dichterin getroffene Textauswahl hinweggesetzt.

Meine grösste Lavant betreffende Überraschung der jüngeren Zeit: Ihre Poesie begegnet mir in der Schweiz in reformierten Predigten. Dann bin ich von Neuem von ihrem tollkühnen lyrischen Denken betört. Zugleich fühlt es sich wie ein Gruss aus der Kärntner Heimat an.

Konventionell geglaubt hat Christine Lavant sicherlich nicht, sondern unkonventionell und widerborstig.

Ich mag Lavants bockiges Sich-Festkrallen am göttlichen Du, das sie förmlich nötigt, sich mit ihrem Leid zu beschäftigen. Und ich mag sie gerade auch, wo sie böse betet; weil selbst im Zorn eine ungewöhnliche Liebesfähigkeit spürbar ist.

 

Christine Lavant, «Ich bin masslos in allem», Biographisches, ausgewählt und kommentiert von Klaus Amann unter Mitarbeit von Brigitte Strasser, Wallstein Verlag 2023.

Die Gedichte:

«Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte», hg. und mit einem Nachwort von Doris Moser und Fabjan Hafner, Reihe: Christine Lavant: Werke in vier Bänden, Wallstein Verlag, ab 2014

«Gedichte aus dem Nachlass», herausgegeben von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. Reihe: Christine Lavant: Werke in vier Bänden; Bd. 3, Wallstein Verlag 2017

Foto: Christine Lavant, Wallstein Verlag/privat

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